Die aktuelle Verfassung der römisch-katholischen Kirche entspricht nicht heutigen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Ansprüchen. Toni Bernet-Strahm stellt den Entwurf einer neuen Kirchenverfassung vor, die vom Wijngaards Institute for Catholic Research vorgeschlagen wurde.
Ist es richtig, von Kirchenkrise und Glaubensverlust zu sprechen, wenn sich immer mehr Menschen von einer bestimmten Form von katholischer Kirche distanzieren? Müsste man statt von Krise eher von vertiefter Einsicht in die christliche Botschaft sprechen, vom Ernstnehmen der Freiheit im Glauben gegenüber kirchlichen Strukturen? Solange die katholische Kirche die Menschenrechte und rechtsstaatliche Grundprinzipien von andern verlangt, aber selber für ihre eigenen Strukturen nicht ernst nimmt, ist Vorsicht gegenüber kirchlich autoritärer Praxis angesagt (siehe sexueller und spiritueller Missbrauch!). Gerade um des Heils der Menschen willen darf die frohmachende Botschaft des Evangeliums nicht unter dem Scheffel eines veralteten Kirchenrechts versteckt bleiben und so seiner Wirkung beraubt werden.
Menschenrechte und rechtsstaatliche Grundprinzipien
Verschiedene Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte haben innerhalb der katholischen Kirche zur „Erfindung des Katholizismus“ (Hubert Wolf)[1] geführt, der ein Ständesystem von herrschenden Klerikern über betreute unmündige Laiinnen und Laien perfektionierte (vgl. die Rede von einer vermeintlichen ’societas perfecta‘). Rein juridisch gesehen, scheint ein solches Gehorsamssystem sich von rechtstaatlichen und menschenrechtlichen Prinzipien abzuschotten und nicht mehr veränderbar zu sein (vgl. Norbert Lüdecke, Die Täuschung)[2].
Immerhin mehren sich die kritischen Stimmen auch von Theologinnen und Theologen, die das herrschende Kirchenrecht in vielen Belangen als mit dem Evangelium unvereinbar entlarven. Es regt sich bei vielen Gläubigen, vor allem auch bei Frauen, ein Bewusstsein, dass Einiges im rechtlich-strukturellen Bereich der katholischen Kirche wesentlich anders sein müsste.
Immerhin mehren sich die kritischen Stimmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine ausformulierte strukturelle Alternative einer katholischen Kirchenverfassung hinweisen. Vielleicht eine Utopie, die immerhin Denkräume eröffnet, vielleicht aber auch mehr, weil selbst der Vatikan nach dem 2. Vatikanischen Konzil eine Lex Ecclesiae Fundamentalis (LEF) erarbeiten wollte, die dann aber restaurativ (aus Angst vor notwendigen Folgen?) von Johannes Paul II. gestoppt und – statt in den neuen Codex Iuris Canonici (1983) Eingang zu finden – in die Schublade versorgt wurde.
Auf diese Lex Ecclesiae Fundamentalis Bezug nehmend, hat das englische Wijngaards Institute for Catholic Research eine interdisziplinäre Gruppe von theologischen und juristischen Fachleuten eingesetzt, die einen breit abgestützten Vorschlag für eine neue Verfassung der katholischen Kirche erarbeitete. Im September 2022, rechtzeitig im Vorlauf zur Weltbischofsynode zur Synodalität im Oktober 2023, wurde dieser Entwurf mehrsprachlich im Internet veröffentlicht. Hier der Link: https://www.wijngaardsinstitute.com/proposed-constitution-catholic-church/ (im Folgenden: „Entwurf“).
Der Entwurf des Wijngaards Institute for Catholic Research
In einer Vorbemerkung stellt dieser Entwurf einer neuen Kirchenverfassung die grundlegenden Prinzipien einer Rechtsstruktur, wie sie bereits die ersten Christ:innen in der frohen Botschaft entdeckt haben, dem herrschenden Kirchenrecht entgegen:
Als grundlegendes Prinzip gilt Jesu Einsicht, „dass Entscheidungsgewalt ein Dienst sein muss“ (vgl. z.B. Mt 20,25-28). Paulus ergänzte dazu weitere Prinzipien, die sich aus dem Evangelium ergeben (vgl. Entwurf, PDF, S. 3):
- Alle sind in Christus grundsätzlich gleich (Gal 3,28);
- Alle sollten „gleichermassen füreinander sorgen” (1 Kor 12,25);
- Alle sind berufen, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten und gottgegebenen Begabungen zum allgemeinen Wohl beizutragen (1 Kor 12,7);
- Niemand kann die vielen verschiedenen Dienste in der Kirche selbst ausüben: stattdessen sollte es eine Arbeitsteilung geben (1 Kor 12,29)
Dem gegenüber – so der Entwurf – sieht die heute herrschende Praxis ganz anders aus: Beispielsweise wird Führungskräften im Kirchenrecht erlaubt und gar von ihnen verlangt, die grundsätzliche Gleichheit und Freiheit ihrer Mitglieder nicht zu respektieren. Sich selbst legitimierend berufen sich die Gesetzgeber dabei auf ein relativ frei erfundenes ius divinum.
Dem gegenüber sieht die heute herrschend Praxis ganz anders aus.
Der Vorschlag für eine neue katholische Verfassung hingegen basiert auf den folgenden sieben, einem heutigen Menschenrechtsdenken nicht widersprechenden Prinzipien (vgl. Entwurf, S. 4-5):
- Gleichheit
- Mitverantwortung,
- Repräsentanz: „Was alle betrifft, soll auch von allen diskutiert und gebilligt werden.” (Papst Innozenz III, † 1216),
- Teilhabe
- Rechenschaftspflicht
- Subsidiarität
- Gewaltenteilung: Legislative (gesetzgebende Gewalt), exekutive (vollziehende Gewalt) und judikative (rechtsprechende Gewalt) müssen in einem Rechtssystem getrennt sein.
Daraus ergibt sich folgender Grundaufbau einer kirchlichen Verfassung, in der auch die sakramentale Macht ihre eigene Stellung erhält (vgl. Entwurf, S. 6-37):
- Wesen und Zweck der Kirche
- Rechte der Katholik:innen
- Kirchenleitung
- Lehramtliche Macht
- Sakramentale Macht /Macht aufgrund von Ordination
- Justizsystem
- Finanzverwaltung
- Schlussbestimmungen
In 105 Nummern werden Rechte und Pflichten für die Mitglieder der katholischen Kirche geregelt. Dabei wird in ökumenischem Vorgriff die katholische Kirche zusammen mit anderen christlichen Kirchen als „Teil der einen heiligen katholischen und apostolischen Kirche verstanden“ (Nr. 1). Wichtig ist der freie Entscheid für die Mitgliedschaft und die Vermeidung jeglichen Zwanges. „Die Taufe gewährt die wesentlichen spirituellen Gaben und Rechte durch die Taufe, bindet aber die getaufte Person nicht an die rechtlichen Verantwortlichkeiten und Pflichten der Mitgliedschaft in der katholischen Kirche, bis sie, wenn sie den ausreichenden Gebrauch der Vernunft erreicht hat, ihnen frei, formell und öffentlich zustimmt.“ (Nr. 5)
Rechte und Pflichten für die Mitglieder der katholischen Kirche
Zu den Rechten der Katholik:innen gehören u.a. – und hier werden bisher hinausgezögerte Reformanliegen aufgenommen – das Recht, erneut zu heiraten (Nr. 13), das Recht, geeignete Methoden der Familienplanung zu wählen (Nr. 14), das Recht auf freie Meinungsäusserung, ausser bei Hassverbreitung, Intoleranz und Bedrohung des kirchlichen und sozialen Friedens (Nr. 9) und das Recht, „alle Dienste in der Kirche, für die sie angemessen vorbereitet wurden, auszuüben (Nr. 16). Eine spezielle Verantwortung hat die Kirche, die in der UN-Kinderrechtskonvention beschriebenen Rechte des Kindes zu schützen und zu fördern (Nr. 25)[3].
Kurzkommentar zum Entwurf
Die Brisanz dieser neuen katholischen Verfassung, aber auch die von ihr ausgehenden Denkimpulse zeigen, wie frei die Kirche eigentlich wäre, wenn sie ihre Bestimmungen und Abläufe evangeliumsgemäss neu regeln würde. Weil die Kirche kein Selbstzweck ist, muss sie ihre Struktur den evangelischen Sendungs-Aufgaben, zu denen Jesus selbst sich als erster Missionar berufen sah (vgl. Lk 4,18-19), je neu anpassen. Es muss die Aussage gewagt werden: Ohne radikal neue Rechtsstruktur der katholischen Kirche kann keine Neuevangelisierung unserer Gesellschaft gelingen!
Hier ist nicht der Raum, einzelne Reformvorschläge dieser Verfassung ausführlich zu diskutieren. Aber die Terminologien (vor allem in der englischen Fassung dieser proposed constitution) und die vorgeschlagenen Regelungen lesen sich weitsichtig und sind auch für ökumenische Gespräche sinnvoll offen.
Die vorgeschlagenen Regelungen lesen sich weitsichtig.
Dass ein Papst / oder eine Päpstin als höchste Exekutivgewalt auf weltkirchlicher Ebene jeweils in allgemeiner, mittelbarer Wahl für eine einzige, nicht verlängerbare zehnjährige Amtszeit von Delegierten gewählt werden soll (vgl. Nr. 67), ist ein solcher diskutierbarer Vorschlag. Gefordert wird auch auf allen Ebenen der Kirche ein System von Gerichtshöfen, die von den legislativen und exekutiven Bereichen (zb. Bischöfen, Kurie) unabhängig sind (Nr. 90).
Viele Regulierungen und Entscheidungen sind konsequent subsidiär an jeweils untergeordnete Ebenen bis in die Pfarreien zu delegieren. Höhere Ebenen unterstützen dort, wo die tiefere Ebene nicht mehr allein zurechtkommt. Dass das auch im Finanzsystem funktionieren kann, zeigt schon heute die schweizerische Tradition der Kirchensteuerautonomie auf Kirchgemeindeebene.
konsequent subsidiär
Eine neu konzipierte Kirchenverfassung könnte in jeder Katholikin und jedem Katholiken schon heute das theologische Bewusstsein wecken, dass er / sie im Glauben viel autonomer und freiheitlicher denken und – wo praktisch möglich – auch handeln darf, als es das herrschende Kirchenrecht erlaubt. Gewissensfreiheit und Glaubensfreiheit sind immerhin schon seit dem 2. Vatikanischen Konzil offiziell kirchlich anerkannt und eigentlich einer Kirchenverfassung zur praktischen Umsetzung vorgegeben.
Beitragsbild: madartzgraphics / pixabay.com
[1] Vgl. Hubert Wolf, Der Unfehlbare. Pius IX und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert.München 2020
[2] Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen? Darmstadt 2021
[3] Im Jahr 1998 unterzeichnete der Heilige Stuhl die UN-Kinderrechtskonvention.