Pater Manfred Kollig SSCC zeigt die Dilemmata der kirchlichen Positionierungen auf und plädiert für eine Selbstverpflichtung der Kirchenmitglieder, für die Freiheit und ein respektvolles Zusammenleben der Menschen einzutreten.
Das Wort „anstrengend“ in einer Überschrift lädt eigentlich nicht zum Lesen ein. So kann ich nur hoffen, dass die „Freiheit“ in derselben Überschrift stark genug ist, um sich auch auf das Anstrengende einzulassen. Freiheit ermöglicht, viele Perspektiven einzunehmen. Sie lässt Komplexität zu und hilft, sich nicht durch Aktionismus und unterkomplexes Urteilen den Blick trüben zu lassen.
Angesichts der in diesem Jahr anstehenden Wahlen gibt es eine Fülle von Empfehlungen und Warnungen. Häufig und auf vielfältige Weise wird davor gewarnt, extrem rechte Parteien wie die AfD zu wählen. Hier sind sich die deutschen katholischen Bischöfe und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken wohltuend einig, ebenso die anderen christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Gleichzeitig wissen alle, dass auch Mitglieder der christlichen Kirchen aktiv in der AfD mitwirken, Mandatsträger und Mitglieder sind bzw. diese Partei wählen.
Christliche Kirchen unterstützen das Gemeinwohl.
Es ist zu begrüßen, dass die Kirchen sich klar für Minderheiten und die Würde jedes Menschen einsetzen und dass sie dafür auch das Risiko eingehen, finanziell Schaden zu nehmen, wenn der AfD auf kommunaler Ebene oder darüber hinaus Regierungsverantwortung übertragen wird. Diese Möglichkeit, dass die AfD regieren oder mitregieren kann, besteht, weil die Wahl eine freie ist, die Menschen frei entscheiden und sich von niemandem bevormunden lassen. Auch gehen die Kirchen das Risiko ein, dass Menschen aus der Kirche austreten, weil sie sich als AfD-Wähler:innen ausgegrenzt oder ungerecht verurteilt fühlen. Diese Risiken sind einzugehen, weil die Gefahr, dass eine Partei die Demokratie nutzt, um sie abzubauen, und damit die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger ausnutzt, um sie später einzuschränken, zu groß ist.
Die christlichen Kirchen können subsidiär tätig werden, wenn sie die politischen Parteien bei der politischen Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger zum Wohl des Staates und damit des Gemeinwohls unterstützen. Nicht vergessen werden darf, dass diese Bildung gerade auch in Familien und familienähnlichen Beziehungen stattfindet.1 Auch hier kommt den christlichen Kirchen und ihrem Engagement für die Familien und die Bildung der Kinder eine besondere Verantwortung zu. Zudem ist es Markenzeichen der Kirchen, in der Nachfolge Jesu stets den einzelnen Menschen zu sehen und ihm zu begegnen (vgl. Jes 43,1: Gott ruft beim Namen; Mt 18,12-13, Lk 15,4-7: Der Wert jedes einzelnen). Dieser theologische und spirituelle Aspekt hat seine Bedeutung für das Humanum und wirkt sich bis in die Realität des Arbeitsrechts hinein aus.2
Eine politische Partei und der konkrete Mensch.
Es ist anzuerkennen, dass durch die Warnung vor der AfD als Partei noch nicht die Spannung aufgelöst ist, dass Menschen, die mit einer politischen Partei sympathisieren, sie wählen, in ihr Mitglied sind oder ein Mandat innehaben, sich unterschiedlich positionieren und darstellen. Das heißt, es ergibt sich ein Dilemma, wenn sich die Kirchen nicht nur zu einer Partei, sondern aufgrund ihres Auftrags auch zu einzelnen Menschen verhalten müssen.
Auch in der AfD gibt es Mitglieder, die sich im Alltag für Geflüchtete engagieren, Menschen mit Behinderungen unterstützen, sich für Nachhaltigkeit einsetzen und für einen guten ökologischen Fußabdruck sorgen. Dass es sie gibt, weiß ich, weil ich solche Menschen persönlich kenne. Gleichzeitig gibt es in ihr Menschen, die in Vorträgen, bei Kundgebungen und in Büchern ihre Geringachtung gegenüber Geflüchteten ausdrücken, Angst schüren, sich antisemitisch äußern und die Gleichwertigkeit jedes Menschen in Frage stellen.
Der konkrete Mensch und seine politische Partei.
Die AfD vertritt in ihrem Parteiprogramm Positionen, die, Gott sei Dank, nicht von der Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land geteilt werden: So wird beispielsweise die Inklusion von Menschen mit Behinderung eher kritisch gesehen und teilweise abgelehnt; wird das Engagement für Minderheiten wie beispielsweise transsexuelle Menschen als übertrieben und überflüssig beurteilt. Doch ist nicht zu übersehen, dass es in den Kirchen auch Menschen gibt, die auf keinen Fall die AfD wählen, vielleicht sogar engagiert davor warnen, gleichzeitig aber, wenn es um Inklusionsthemen, um den Umgang mit Geflüchteten und den Schutz von Minderheiten geht, Meinungen vertreten, die sich nicht von dem Parteiprogramm der AfD unterscheiden. Zudem gibt es eine weitere gemeinsame Schnittmenge: In Kirchenkreisen wie in der AfD wird nicht selten die Auffassung vertreten, man müsse Ideale verteidigen, indem man jene abstraft und mit Sanktionen belegt, die andere Auffassungen vertreten. Das zeigt, dass die Warnung vor der AfD noch kein ausreichendes Bekenntnis zu Demokratie, Menschenwürde und Freiheit ist.
Um Jesu Christi willen: Explizites Bekenntnis zu Menschenwürde, Demokratie und Freiheit.
Die exemplarisch dargelegte Wirklichkeit macht deutlich, dass die Warnung vor einer Partei in unserer aktuellen Situation nicht ausreicht. Christliche Kirchen, wenn sie sichern wollen, dass ihre engagierten Mitglieder für die Würde aller Menschen eintreten, ebenso für deren Freiheit, für gutes Leben und Demokratie, müssen sich noch auf andere Weise engagieren. Kirchen können mit allen Warnungen die Freiheit der Menschen, auch nicht ihre Wahlfreiheit, einschränken. Sie können aber diejenigen, die sich ehren- oder hauptamtlich in Katechese, Kinder- und Jugendarbeit oder in Gremien engagieren, explizit auf die christlichen Grundüberzeugungen hinweisen und auf die Bedeutung der Person Jesu Christi, der Grund für die Werte ist, für die sie eintreten.
Christinnen und Christen glauben an den Gott, dessen Sohn die Freiheit so sehr geachtet hat, dass er dafür den Tod in Kauf nahm. Diese seine eigene Freiheit und den damit verbundenen Gewalt- und Bevormundungsverzicht konnte er nur leben in einem starken Vertrauen auf seinen Gott und Vater. Weil er selbst auf diese Weise frei war, konnte er die Freiheit der anderen konsequent achten (Johannes 6,60-69).
Daraus folgt: Jeder Mensch hat ohne Unterschied eine Würde, die zu achten ist.
- Dies gilt für das ungeborene Leben wie für das Leben der Sterbenden. Der Umgang mit den Toten bezeugt ebenfalls diese Würde und zeigt, dass Christinnen und Christen an das ewige Leben glauben.
- Alle Menschen müssen am Leben der Gesellschaft teilhaben können. Das gilt z. B. für die Geflüchteten wie für die Bürger:innen Deutschlands, für Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf.
- Christinnen und Christen treten ein für Gerechtigkeit und bereichern sich nicht, indem sie etwa auf Kosten anderer günstige Produkte erwerben.
- Sie treten ein für ein ökologisches Gleichgewicht, das ökologische, soziale und historische Aspekte berücksichtigt.
- Sie treten ein für die Freiheit des Menschen und ein respektvolles Zusammenleben der Menschen mit ihren eigenen Überzeugungen, sofern diese nicht dem friedlichen Miteinander entgegenstehen.
Keine Partei kann diese Grundsätze 1:1 umsetzen oder durch Gesetze absichern. Aber christliche Kirchen könnten ihre ehren- und hauptamtlich Engagierten bitten, sich in ihren Engagements zu solchen Grundsätzen verbindlich zu bekennen. Solch eine Art von Selbstverpflichtung wäre aussagekräftiger als es das politische Wahlverhalten sein kann. Denn Letzteres ist immer auf Kompromisse ausgerichtet, die hinter dem Ideal Jesu Christi mal mehr und mal weniger weit zurückbleiben. Kurzum: Es geht in unserer aktuellen Situation darum, dass die christlichen Kirchen den Menschen helfen, ihr Gewissen zu bilden. Dieses Gewissen entscheidet schließlich auch bei Wahlen. Und die Kirchen müssen daran erinnern, dass der, an dem Christinnen und Christen ihr Gewissen orientieren, immer weit über das hinausweist, was politisch machbar ist.
Dieses „WEITDARÜBERHINAUS“ schenkt die Freiheit, für Ziele einzutreten, die Menschen nie aus eigener Kraft erreichen. Solche Freiheit ist anstrengend, lebt sie mit dem Gedanken an die absolut freiheitliche Liebe Gottes in einer nur bedingt freiheitlichen Welt, in der Politik das Wohl und Weh jedes Menschen maßgeblich beeinflusst. Zum Auftrag christlicher Kirchen gehört derzeit so notwendig wie seit langem nicht mehr, alles ihnen Mögliche zu tun, damit Menschen in Freiheit und miteinander gut leben können. Das bedeutet, subsidiär zu unterstützen, dass in unserem Land einende statt spaltende Kräfte und Menschen, die sich für konstruktive Vielfalt statt exklusive Uniformität, für pragmatische Gesetze und Regeln statt rigorose Vorschriften einsetzen, die Mehrheit bilden.
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Bild: privat