Eine Beobachtung der Biennale 2024 in Venedig formuliert Wolfgang Beck. Er beschreibt Entdeckungen, die sich bei der programmatischen Überwindung von Grenzen ergeben.
Wenn Nadelbäume von Trockenheit bedroht sind, kann es passieren, dass sie besonders viele Zapfen an den Ästen tragen. In einer Art Panikmodus wird so die Fortpflanzung gesichert. An dieses Naturphänomen könnte die Biennale 2024 in diesem Jahr erinnern. Unter dem Titel „Fremde überall“ zündet diese älteste Kunstausstellung der Welt ein Feuerwerk der internationalen und kulturübergreifenden Präsentationen zeitgenössischer Kunst.
Natürlich gehört zu einer Kunstausstellung auch ein wenig Aufregung. Die polnische Regierung hat etwa im letzten Moment einen Affront vermieden und einen noch von der PIS-Partei beauftragten und lediglich für nationalistische Arbeiten bekannten Künstler abberufen.
Nun wird der polnische Pavillon dem ukrainischen Künstler:innenkollektiv „Open Group“ zur Verfügung gestellt. Es zeigt unter dem Titel „Repeat after me“ Videoinstallationen, in denen Menschen die Geräusche des Krieges imitieren und zum Nachahmen von Sirenen-Geheul und Maschinengewehrsalven anleiten. Die Geräusche des Krieges in Form stimmlicher Imitation sind bewegend.
Der demonstrativ verschlossene Pavillon Israels setzt ein Ausrufezeichen der Sorge um die von der Hamas Entführten und der Trauer um die Ermordeten. In der aktuell anhaltenden Eskalation des Krieges im Nahen Osten wäre eine aktive Beteiligung des Landes auch nur schwer vorstellbar. Das abgeriegelte Gebäude im Zentrum des Biennale-Geländes wirkt als beeindruckendes Statement der Sprachlosigkeit angesichts der Gewaltopfer auf allen Seiten des Konflikts.
Bemerkenswert ist, dass in Venedig die Fehler der Kasseler Documenta nicht passieren: Obwohl eine Fülle von Künstler:innen und Kollektiven aus aller Welt beteiligt sind, gibt es unter der Leitung des Brasilianers Adriano Pedrosa keine antisemitischen, rassistischen oder nationalistischen Ausfälle. Was in Deutschland schmerzlich zu lernen war, führt Venedig in diesem Jahr noch einmal in vollendeter Form vor: professionelles Kuratieren. Und das ist keine Cancel-Culture oder Zensur, sondern beeindruckende Professionalität.
Telefonzellen als stumme Zeugen
Herausragend erscheint der Pavillon Österreichs. Neben verschiedenen Videoinstallation gibt es eine Rauminstallation mit unterschiedlichen Blumen als Reminiszenz an Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte. Außerdem hat die aus Leningrad stammende österreichische Künstlerin Anna Jermolaewa sechs Telefonzellen aufstellen lassen. Sie stammen aus der österreichischen Erstaufnahmestelle Traiskirchen. Dort ermöglichten sie tausenden Schutzsuchenden die Verbindung mit ihren Angehörigen in den Heimatregionen. Kleine Graffiti zeugen von den Emotionen, den Hoffnungen und Sorgen der Menschen, die bereits intensive und häufig traumatische Migrationserfahrungen mit sich tragen. Es heißt vielsagend, dass von keinem anderen Ort in Österreich so viele internationale Telefonate getätigt werden. Die Telefonzellen wirken wir säkulare Reliquien des Bemühens um Humanität im Umgang mit flüchtenden und Schutz suchenden Menschen.
Der unbekannte Gastarbeiter im Asbeststaub
Bemerkenswert erscheint auch der deutsche Pavillon. Darin werden Arbeiten unter dem Titel „Thresholds“ – Schwellen – vereint.
Zwar leidet auch er darunter, dass hier zu viele Kunstinstallationen auf zu wenig Fläche gezeigt werden und die Fokussierung auf eine Arbeit größere Wirkung erzielt hätte.[1] Mit einem Raumschiff der deutsch-israelischen Künstlerin Yael Bartana und dem als Videoinstallation gezeigten Abschiedsritual vor einem Aufbruch in entlegene Galaxien entstehen Verweise auf unweit größere, bevorstehende Aufbrüche, Abschiede und Fremdheitserfahrungen der Menschheit. Daneben steht die beeindruckende Arbeit „Monument eines unbekannten Menschen“ des Künstlers und Theaterregisseurs Ersan Mondtag.
Auf drei Etagen eines eigens errichteten Gebäudes innerhalb des Pavillons erzählt er die Geschichte seines Großvaters Hasan Aygün. Als sogenannter „Gastarbeiter“ hat der, einer Kindheit in Armut in der Türkei entkommen, in Deutschland über viele Jahre in einem Eternit-Werk gearbeitet. Die Blumenkästen aus Beton, dem berüchtigten Eternit-Faserbeton, stehen wie Särge neben den zahlreichen Arbeitszeugnissen. Sie repräsentieren den krebserregenden Asbeststaub, der dem Großvater Lungenkrankheit und frühen Tod brachte. Was das Medikament Contergan als Inbegriff eines Medizinskandals im 20. Jahrhundert ist, das sind die Asbestfasern von Eternit im Baugewerbe. In der Installation durchzieht und überzieht der Staub dann auch die privaten Wohnräume im ersten Stock und den sehnsüchtigen Ausblick auf die Natur und gelingendes, glückliches Leben im zweiten Stock. Mit dem an Asbeststaub zu Tode gekommenen Großvater rückt eine Generation von lange vollständig übersehenen Menschen in den Blick. Sie wurden in der bundesdeutschen Gesellschaft lange als Fremde ausgegrenzt und hatten dabei doch sehr großen Anteil an der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Mit der Würdigung dieser Generation im deutschen Pavillon entsteht eine herausfordernde Konstellation: Die von der nationalsozialistischen Regierung 1938 umgestaltete, monumentale Architektur des Gebäudes wird in eine Auseinandersetzung mit den Abgründen der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft überführt. In diesem Anliegen ist der Haupteingang des Pavillons unter Schutt, Erde und Staub (!) verschüttet. Nur ein Nebeneingang steht für den Zutritt offen und deutet damit die Bedeutung von Seitenwegen für eine vertiefte Realitätswahrnehmung an.
Ein dritter Teil des deutschen Beitrags dürfte sich indes nur wenigen Besucher:innen erschließen: Er befindet sich mit mehreren Klanginstallationen im Freien auf der entlegenen, fast unbewohnten Insel „La Certosa“ in der Lagune von Venedig. Nur wenige Interessierte treten den Weg dorthin an und müssen dann ohne Beschilderung auskommen. Ein Kommentator sah darin die Verschwendung eines noch nicht ausgeschöpften Finanzbudgets. Den beteiligten Künstler:innen wird mit solchen Projekten vermutlich kein Gefallen getan.
Einblick in Held:innengeschichten von Lagos
Die nigerianische Künstlerin Karimah Ashadu erzählt mit einer Videoinstallation die Geschichten der Fahrer von Motorrad-Taxis in der westafrikanischen Metropole Lagos. Es sind selbst formulierte Statements, wahre Heldengeschichten in einem lebensgefährlichen Straßenverkehr, in dem Bemühen um wirtschaftliches Auskommen und gesellschaftlichen Aufstieg und im Kampf mit korrupter Polizei. Gerade solche Held:innengeschichten helfen dabei, eurozentrische Perspektiven zu überwinden.
Verstörende Kunst in einer riesigen Abtei
Ein Signal ganz eigener Art setzt indes die beeindruckende Benediktinerabtei San Giorgio Maggiore auf einer vorgelagerten Insel in Sichtweite des Markusplatzes. Zwar leben dort nur noch zwei Mönche in dem riesigen Komplex und das Kloster ist einer Abtei in der Nähe angegliedert. Doch gelingt es hier mithilfe der Kulturstiftung der Abtei der Künstlerin Berlinde De Bruyckere aus Belgien optimale Ausstellungsflächen für ihre raumgreifenden Skulpturen zu bieten. Was anderswo dicht gedrängt wirkt, kommt hier mit ausreichend Abstand in der großen, barocken Abteikirche und einigen Räumen der Abtei großartig zur Geltung. Die Künstlerin erschafft aus Wachs und Fellen menschenähnliche Wesen, „Erzengel“. Sie thronen auf hohen Podesten und werden von großen Spiegelflächen flankiert. Ihre menschlichen Beine münden in Oberkörper, die in Felle eingehüllt sind. Damit muten sie wie Chimäre aus Menschen und Fledermäusen an.
Sie gleichen mal der machtvollen Inszenierung von Erzengeln und erinnern als ausgestellte Gliedmaßen an den überbordenden (und manchmal geschmacklosen) Reliquienkult früherer Zeiten. Gekonnt greift Berlinde De Bruyckere mit ihren Installationen das Umfeld des Barockensembles von Abtei und Kirche auf. Und die Mönche zeigen ganz nebenbei Kunstsinn und Gelassenheit, die erforderlich sind, wenn Kunst und Kirche in der Spätmoderne erste Schritte zu einer neuen, freien und anregenden Verhältnisbestimmung unternehmen könnten.
Eine überbordende Fülle als Panikmodus?
Warum die Biennale einem Nadelbaum mit zu vielen Zapfen im Panikmodus gleicht? Weil der Biennale ein einschneidender Leitungswechsel bevorsteht. Die bisherige Leitung wird künftig von einem Funktionär der rechtspopulistischen Meloni-Regierung ersetzt, was an vielen Stellen Sorgen bereitet. An einer multikulturellen, Grenzen überwindenden Kunstschau, in der auch queere Künstler:innen in großer Selbstverständlichkeit ihren Platz einnehmen, könnte dann weniger Interesse herrschen. Das erklärt die Panik im Ausblick auf eine längere Trockenperiode. Die aktuelle Biennale, von der Wochenzeitung DIE ZEIT scharf als „spannungslos“ und „Biennale des guten Gewissens“[2]kritisiert, nutzt die Gelegenheit, aus dem Vollen zu schöpfen. Die zentralen Ausstellungsgebäude scheinen angesichts der Fülle von Präsentationen fast zu platzen. In den ohnehin beeindruckenden Hallen des „Arsenale“, der früheren Werften Venedigs, reiht sich eine beeindruckende Arbeit an die andere. Ähnliches gilt für das Hauptgebäude im Gelände der „Giardini della Biennale“. Diese zwei Hauptflächen werden durch viele Präsentationen im ganzen Stadtgebiet ergänzt, was viele einzelne Entdeckungen in den großartigen Gebäuden der vom „Overtourism“ sonst schwer belasteten Stadt ermöglicht.
Es sprießt im Überfluss
Die Botschaft der Biennale ist damit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: Wo Grenzen überwunden, menschliches Leben überall mit seiner Fremdheit wertgeschätzt und kolonialistische und nationalistische Enge überwunden werden, sprießt das Leben im Überfluss aus allen Ecken. Christliche Theolog:innen mögen sich daran die eigene, eschatologische Botschaft neu und gegenwartsrelevant vor Augen stellen lassen.
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Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M. und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Foto: PTH Sankt Georgen
[1] Vgl. Kommentar von Niklas Maak: „Ein Pavillon bleibt geschlossen“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (21.04.2024), 33.
[2] Hanno Rautenberg, „Falscher Frieden“, DIE ZEIT (18.04.2024), 47.