„Gaudete et exsultate“ – unter diesem Titel hat Papst Franziskus vor kurzem ein neues Apostolisches Lehrschreiben über die Heiligkeit vorgelegt. Roman Siebenrock kommentiert es als Dokument eines anarchischen Glaubens.
Die Suche nach der angemessen Gestalt des Christseins in dieser neuen Epoche der Kirchengeschichte ist noch lange nicht beendet. Deshalb müssen alle immer wieder neu, je für sich selbst entdecken und experimentell wagen, wohin das Evangelium ruft. Diese Suche nach dem christlichen Lebensstil in einer Zeit der tiefen Umbrüche ist sicherlich eine der größten Herausforderungen der Gegenwart, der sich das neue päpstliche Schreiben zu stellen wagt.
In fünf Kapiteln skizziert Franziskus in den Möglichkeiten seiner Theologie und Praktik und auch mit der ihm eigenen Polemik, die Not und das Wagnis der Heiligkeit heute. Phänomenologische Perspektiven, theologische Erörterungen und Skizzen von Lebensbeispielen reihen sich um die innere Achse der theologischen Grundoption des Papstes: Die konstitutive Beziehung zu Jesus Christus (3) und die Ermutigung, sich täglich in der Kunst der geistlichen Unterscheidung zu üben (4). Neben einer theologischen Erörterung, die die subtile Gefahr des Weges der Heiligkeit erfahrungsmäßig einholt (2), bietet der Papst abschließend eine kleine Kriteriologie der gegenwärtigen Gestalt der Heiligkeit (5).
Das Vorbild von nebenan
Der Ruf in die Heiligkeit (1) gelte allen Glaubenden und hat nichts mit besonderen Ekstasen zu tun: alltägliche Treue, das Vorbild von nebenan, die selbstverständliche Barmherzigkeit, innerhalb und außerhalb der Kirche. Heiligkeit wird nicht kopiert, sondern realisiert die vom Schöpfer gewünschte Einmaligkeit der je eigenen Sendung: „Worauf es ankommt, ist, dass jeder Gläubige seinen eigenen Weg erkennt und sein Bestes zum Vorschein bringt, das, was Gott so persönlich in ihn hineingelegt hat (vgl. 1 Kor 12,7), und nicht, dass er sich verausgabt, indem er versucht, etwas nachzuahmen, das gar nicht für ihn gedacht war“ (Nr. 11) Mein weißer Stein (siehe: Offb 2,17).
Gerade weil betont wird, dass christliches Leben ein Kampf sei, gegen die Welt und die immerwährende Präsenz der Versuchungen des Teufels (Kap 5), werden eingangs zwei subtile Feinde der Heiligkeit analysiert. Ein Gnostizismus, als Rationalität ohne Geheimnis, und der Pelagianismus, die Willensanstrengung ohne Demut. In beiden Formen, die heute höchst aktuell sind, wird die Logik der Gabe verachtet. Heiligkeit hingegen ist die je eigene Kunst, das Leben aus einer Gabe zu in Hingabe an Gott und den Nächsten zu gestalten.
Lebensprofil der Seligpreisungen
Nach diesen Grenzziehungen wird das Lebensprofil über die Seligpreisungen entfaltet und am großen Maßstab ausgerichtet: Der Endgerichtsrede Jesu (Mt 25), die die Werke der Barmherzigkeit mit der Christuspräsenz verbindet. Deshalb muss der Papst vor zwei Ideologien warnen: Christsein als bessere NGO, die die Beziehung zu Jesus Christus, und jenem frommen Misstrauen, das das soziale und politische Engagement für die Armen missachtet. Der wahre Gottesdienst ist immer Gebet und Dienst, Mystik und politischer Einsatz für die Armen und Marginalisierten; und das bedeutet heute: Einsatz für die Migranten. Daher gilt: „Wer in Wahrheit Gott mit seinem Leben ehren möchte, wer sich wirklich nach der Heiligung sehnt, damit sein Dasein Gott, den Heiligen, verherrlicht, der ist berufen, sich voll Leidenschaft zu verzehren und abzuplagen im Bemühen, die Werke der Barmherzigkeit zu leben“ (107).
Dass Heiligkeit eine Lebenskunst darstellt, die sich aus der Spannung von vielen Haltungen und Befähigungen speist, unterstreicht Kapitel 4. Immer bekundet sich in ihr die Einheit der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Der Papst nennt als Merkmale gegenwärtiger Heiligkeit: Durchhaltevermögen, Geduld und Sanftmut; Freude und Sinn für Humor, Wagemut und Eifer, die gemeinschaftlicher Grundstruktur und das beständige Gebet. Dass Heiligkeit auch Kampf sein müsse gegen den Geist der Welt, der sich immer wieder als geistige Korruption des Narzismus zeigt, verschärft der Papst durch die ausdrückliche Betonung der wirksamen Existenz des Teufels (Nr. 158-161). Deshalb bedarf es der anhaltenden Haltung der Unterscheidung, die als übernatürliche Gabe, in die Logik des Geschenkes und des Kreuzes einübt.
Christliches Leben lässt sich nicht bändigen
Einen notwendigen Ruf in den Ernst der Nachfolge hat Papst Franziskus uns geschenkt; und in manchen Passagen zugemutet. Manche Polemik hätte aber besser unterbleiben sollen, denn: Christliches Leben lässt sich nicht bändigen, regulieren oder gar nach vorgefertigten Mustern ausstanzen und mit den entsprechenden Bildungsmethoden machen. Auch wenn von Zeit zu Zeit, wie jetzt Papst Franziskus, die innere Grammatik herausgestellt werden muss, um sie zu reinigen und zu profilieren, bleibt Heiligkeit letztlich anarchisch; d.h. unableitbar an die von Gottes Ruf entfesselte Freiheit gebunden, und deswegen immer provokativ, gerade auch dann, wenn sie von außen bieder und brav erscheint. Therese von Lisieux – ein frommes Mädchen zunächst durch Kitsch populär geworden, aber dann: dieses Tagebuch, in dem die Glaubensgeschichte des 20. Jahrhunderts vorweggenommen zu sein scheint. Oder jene Langzeitpförtner, Konrad von Parzham in Altötting und Alfons Rodríguez SJ in Palma de Mallorca mit ihrer täglichen Routine und unauffälligen Präsenz, oder … .
Deshalb wird es auch weiterhin seltsame Wüstenexistenzen geben, Mystikerinnen der anderen Art oder Seelen, die scheinbar weltfremd um das Überleben ringen. Das wird auch deshalb ein Papst nicht verhindern können, weil nur aus den heiligen Experimenten dieser ExtremistInnen der Transzendenz erfahren werden kann, was heute an der Zeit ist und in welches seltsame Land in der Zukunft der unableitbare Ruf einen treiben kann. Denn die Kirche lebt nicht davon, dass alle ausgewogen einem Muster folgen, sondern dass alle von den gelebten Zeugnissen der anderen leben.
Auch dieser Text hat seine Grenzen
Charles de Foucault, den der Papst nennt (Nr. 155), lässt sich nicht ganz mit der Grammatik dieses Textes verstehen. Die Erkundungen des verborgenen Lebens Jesu lassen sich nirgends einordnen. Und fruchtbar geworden ist dieses Leben erst nach seinem Tod. So hat auch dieser Text seine Grenzen; – wie alle kirchlichen Regeln und Orientierungen ihre Grenzen am unableitbaren, immer wieder überraschenden Ruf des Herrn in eine Nachfolge, die die Glaubensgemeinschaft erst noch als solche zu lernen hat. Dass der Papst zu Beginn diese Möglichkeit einräumt, gibt dem Schreiben seine besondere Qualität. Deshalb wird niemand verhindern können, dass Menschen in bestimmten Situationen ekstatisch die Augen verdrehen (96). Wer will es ihnen verdenken, wenn die Entzückung einen überfällt wie Philip Neri.
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Roman Siebenrock ist Leiter des Instituts für Systematische Theologie an der Universität Innsbruck.
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