Seit dem Ukraine-Krieg steht die Friedensbewegung der Kirchen massiv in Frage. Wie verändert das eine postheroische Theologie, wird Michael Schüßler von David Schilling gefragt: Ein Mailwechsel.
Lieber Herr Schüßler,
ich habe im vergangenen Sommersemester, als ich noch in Tübingen studiert habe, Ihre Vorlesung zu Caritas und Kirche gehört. Ich habe mich dieser Tage daran erinnert, was Sie damals über den Postheroismus und seine Bedeutung besonders für Theologie und Kirche gesagt haben. Es fiel mir damals recht schwer, Ihnen zu folgen, sehe aber nun, wo alle nach Aufrüstung schreien, immer klarer, wie wichtig dieser Gedanke ist. Wenn Sie mir die Frage erlauben und Zeit finden, sie zu beantworten, würde mich sehr interessieren, ob Sie seit Beginn des Krieges in der Ukraine Ihren Standpunkt geändert haben, oder den Postheroismus jetzt vielleicht sogar für noch wichtiger halten. Ich bin zunehmend fassungslos angesichts der Rhetorik, mit der teilweise inzwischen gegen kirchliche Friedensethik polemisiert wird (etwa Daniel Deckers in der FAZ). Mich würde sehr interessieren, wo Sie die Stellung von Christentum und Kirche verorten.
Viele Grüße aus Freiburg, David Schilling
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Lieber Herr Schilling,
sie treffen mit ihrer Mail ins Zentrum dessen, was ja nicht nur sie und mich seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Urkaine bewegt und verstört. Am Tag des Kriegsbeginns, dem 24.2., habe ich Herfried Münklers „Kriegssplitter“ aus dem Regal gezogen, in dem er den europäischen Wandel von kriegsbereiten heroischen Gemeinschaften zu postheroischen Gesellschaften als Lernprozess nach den Katastrophen der beiden Weltkriege beschreibt. Aber nicht als lineare Erzählung zum Besseren, sondern als stets gefährdete und weiterhin von Gewalt und hybriden Kriegen durchzogene Transformation. Das Buch von 2015 beginnt mit den Sätzen: „Die Angst vor einem großen Krieg ist nach Europa zurückgekehrt; die Ursache dafür … [ist] vor allem das aggressive Agieren Russlands gegen die Ukraine … . Sobald Russland im Spiel ist, werden Erinnerungen an den Ort-West-Konflikt und die einstigen Empfindungen des Bedrohtseins wach. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der von Russland massiv unterstützte Separatistenkrieg im Donbass haben die Zuversicht, dass es in Europa keine Kriege mehr geben werde, schwer gedämpft. Jedenfalls ist die mehr als zwei Jahrzehnte umfassende Zeitspanne, während der sich in Europa die Friedensdividende unbesorgt konsumieren ließ, vorerst zu Ende gegangen, und keiner kann sagen, ob sie jemals in dieser Form wieder zu haben sein wird.“ (7).
Wandel von kriegsbereiten heroischen Gemeinschaften zu postheroischen Gesellschaften als Lernprozess
Genau das ist heute Realität. Deutschland liefert Waffen in das Kriegsgebiet der Urkaine, die Bundeswehr wird mit dem 100 Milliarden-Sonderfond aufgerüstet, der Wehretat über das 2%-Ziel der NATO angehoben. Allerdings hat sich auch der immer schon falsche Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ in eine Solidaritätskultur, jetzt sogar aller europäischen Staaten, für ukrainische Flüchtende hinein aufgelöst. Es ist eine Zeitenwende, wie der Kanzler sagt, aber eine Wende wohin?
Es ist nicht auszuhalten, die ganzen Nachrichten und Bilder von Verzweiflung, Tod und Zerstörung in der Urkaine zu sehen. Aus christlicher Perspektive ist alles daran zu setzen, das Töten so schnell wie möglich zu beenden. Aber auf welchem Weg? Einerseits gibt es in der Gesellschaft und den Kirchen einen breiten Konsens, den Flüchtenden und der Ukraine humanitär mit allen Mitteln zu helfen. Zugleich machen sich seit Kriegsbeginn (auch und gerade in den Kirchen) zwei Positionen gegenseitig heftige Vorwürfe. Die christliche Friedensbewegung steht mit ihren pazifistischen Überzeugungen unter größtem Druck. Wohlfeile Gesinnungsethik sowie das Ablehnen von Waffenlieferungen etwa durch Pax Christi sei nahe an einer „Ideologie der unschuldigen Hände“ und spätestens jetzt aus der Zeit gefallen. Soll die Ukraine denn mit Wattebäuschen werfen, um sich zu verteidigen, so eine Predigt in der Münsteraner Lamberti-Kirche.
Soll die Ukraine denn mit Wattebäuschen werfen, um sich zu verteidigen?
Aber heißt christlicher Realismus dann umgekehrt, dass „gerechter Friede“ auch theologisch auf Abschreckung, Waffengewalt und eine neo-heroische Kultur der Stärke hinausläuft? Nicht nur in Deutschland verläuft die Diskussion nach der „Zeitenwende“ jetzt entlang eines schmalen Grades zur Eskalation, etwa zu einem Eingreifen der Nato, also zur großen Konfrontation – mit noch mehr Tod und Leid. Putin verstehe eben nur die heroische Sprache von Dominanz und Gewalt, die westliche Gesellschaften verlernt hätten.
Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs werden verheerend sein und wahrscheinlich eine nächste Generation traumatisieren.
Gott sei Dank konnten wir mit diesem Verlernen beginnen, sagt dagegen die christliche Friedensforschung. Egon Spiegel plädiert auf katholisch.de für die zivile Wehrpolitik des gewaltfreien Widerstands. „Bezeichnenderweise bekommen wir auf dem europäischen Territorium des Ersten und Zweiten Weltkrieges ein hoffentlich letztes Mal überzeugend demonstriert, wie ‚aus der Welt‘, ja irrsinnig der Versuch ist, Konflikte militärisch lösen zu wollen.“ Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs werden verheerend sein und wahrscheinlich eine nächste Generation traumatisieren. Die neue Rüstungsspirale und geostrategische Neusortierung der Welt könnte entscheidende Ressourcen binden, die dann für den Aufbau einer gemeinsamen und friedlichen plantaren Zukunft fehlen.
Eine besondere Empfindlichkeit für die destruktive Verbindung von Religion, Gewalt und heroischem (Selbst)Opfer
Ich bin weder Militärexperte noch ausgewiesener Friedensforscher. Als christlicher Praktischer Theologe habe ich aber eine besondere Empfindlichkeit für die destruktive Verbindung von Religion, Gewalt und heroischem (Selbst)Opfer entwickelt. Wozu das im Fall der russisch-orthodoxen Kirchenleitung führt, erläutert Regina Elsner. Patriarch Kyrill hilft bekanntlich nach Kräften bei der neoimperialen Inszenierung Russlands als heroisch starke, religiöse Gemeinschaft im Kampf gegen die Verkommenheit des Westens. Religion macht dabei aus dem sinnlosen Tod z.T. ahnungsloser russischer Wehrpflichtiger in einem Angriffskrieg ein gerechtfertigtes Selbstopfer (sacrifice) und blendet zugleich die vielen ukrainischen Opfer (victim) grundsätzlich aus.
Ich bin Kind einer postheroischen Gesellschaft und kann mit Aufopferung wenig anfangen.
Auch bei der erzwungenen Landesverteidigung der Ukraine ist von oft überraschendem Heldentum die Rede. Aber das ist eine notgedrungene Verschärfung, das Mobilisieren von Widerstand im Angesicht tödlicher Aggression. Mir geht es dabei wie Dirk Kurbjuweit auf Spiegel-Online: „Ich bin Kind einer postheroischen Gesellschaft und kann mit Aufopferung wenig anfangen. Gleichwohl beeindrucken mich Mut und Entschlossenheit dieser Leute, ihr Land und ihre Lebensform zu verteidigen. … Gleichzeitig bin ich dagegen, dass die Nato in der Ukraine interveniert. Deshalb halte ich es persönlich für unpassend, diese Menschen als Helden zu feiern. Sie sind Verzweifelte, für deren Verzweiflung ich als Teil der westlichen Gesellschaft eine Verantwortung trage.“ Dieser Verantwortung, dem Scheitern von zivilem „Wandel durch Handel“ mit Putin im aktuellen Krieg, dem wird sich auch die christliche Friedensbewegung stellen müssen und es wird sich hier wohl vieles verändern. Aber hoffentlich nicht alles.
Glückliche Friedenszeit nicht nur überholte Naivität, sondern auch Ressourcen einer planetare Zukunft des multilateralen Zusammenlebens.
Ich habe als Theologe keinen Masterplan für diesen Krieg. Ich fürchte allerdings nicht nur die Gewalt und Unterdrückung einer neoimperialen Weltordnung autoritärer Regime, sondern eben auch eine schleichende Re-Heroisierung europäischer Kultur, die uns durch den Krieg aufgezwungen wird. Hier wachsam zu sein für latente atmosphärische Veränderungen könnte Aufgabe einer kritischen öffentlichen Theologie sein.
Die postheroischen Lernprozesse und die europäischen Erfahrungen einer Friedensdividende halte ich jedenfalls nicht allein für überholte Naivität, sondern es sind auch Ressourcen für eine planetare Zukunft des friedlichen, multilateralen Zusammenlebens. Das sieht man im postkolonialen Afrika ganz ähnlich, so etwa der UN-Botschafter Kenias Martin Kimani. Es waren vielleicht besondere und besonders glückliche Konstellationen. Aber wenn wir das durch die aktuelle Zeitenwende nach und nach aufgeben, um Putin und andere Aggressoren der Welt gewaltsam zu besiegen, dann haben auch wir verloren. Es wird nicht nur darauf ankommen, Freiheit und Demokratie zu verteidigen, sondern vor allem darauf, mit welchen Mitteln das langfristig geschehen wird.
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Text: David Schilling studiert zunächst in Tübingen und jetzt in Freiburg/Brsg. katholische Theologie. Michael Schüßler ist Professor für Praktische Theologie in Tübingen und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net.
Bild: ELG21 auf Pixabay.