Jan Kingreen ist Friedensbeauftragter der EKBO. Er berichtet aus der evangelischen Friedensarbeit, die er als Friedensdiskursarbeit versteht, welche Bedeutung den Kirchen in den aktuellen verteidigungs- und sicherheitspolitischen Debatten zukommt und welche Haltung es für eine gegenseitige Verständigung braucht.
„Kriegstreiber“ hallt es durch die hohen Decken der spätgotischen Kirche im Süden Brandenburgs. Im Rahmen der Friedensdekade, also der Zeit im Jahr, in der traditionell das Thema ‚Frieden‘ in kirchlichen Kontexten besonders in den Mittelpunkt rückt, lud die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) im Anschluss an Friedensandachten zu Bürgergesprächen ein. Diese brachten auch das Thema, das seit drei Jahren diese Kirche spaltet, zur Sprache: Waffenlieferungen an die Ukraine und die Position der Kirche(n) dazu.
Die Emotionalität, die sich an den 11 Abenden entlädt, an denen kirchenleitende Personen mit mal mehr, mal weniger kirchenverbundenen Bürger:innen ins Gespräch kommen, zeigt zwei grundlegenden Verschiebungen im Friedensdiskurs der (evangelischen) Kirche.
grundlegende Verschiebungen im Friedensdiskurs
War das Thema bis zum Februar 2022 zwar in Ausschüssen und Arbeitskreisen präsent, aber gesamtkirchlich eher randständig, wurde es mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ‚über Nacht‘ zu einem Thema mit gesamtkirchlichem Fokus. Eine Verschiebung, die sich ja auch in der deutschen Öffentlichkeit insgesamt vollzog. Mit diesem neuen Fokus wurden kirchenleitende Personen zu meinungsbildenden Sprecher:innen, die bis heute das Thema und die Position der Kirche nach außen vertreten.[1] Dies geschieht teilweise an den Menschen und Vereinen, die langjährig am Thema Frieden arbeiten, vorbei, was wiederum deutliche Reaktionen von pax christi, der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF), church for peace und anderen Friedensdiensten hervorruft.[2] Dass kirchenleitende Personen zu meinungsbildenden Stimmen werden, ist nicht nur der existenziellen Brisanz des Themas geschuldet, sondern auch der umgreifenden Verunsicherung, die durch die neue US Administration nicht eben kleiner geworden ist. Hier wünschen sich Menschen nachvollziehbarerweise eine institutionelle Haltelinie, eine positionierte Sicherheit, die institutionell wirkmächtig vorgetragen wird. Herausfordernd dabei ist freilich, dass die Kirche nicht die eine Position vertritt – und angesichts der pluralistischen Gesellschaft(en) auch nicht vertreten kann.
Herausforderung pluraler Positionen – auch innerhalb der Kirche
Neben dieser Diskurs-Verschiebung lässt sich beobachten, dass sich auch die ethischen Begründungsmuster verlagert haben. Wurde und wird gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine bisher gesinnungsethisch geurteilt und unter Rückgriff auf biblische Normen (jesuanischer Gewaltverzicht, Feindesliebe usw.) auch rechtserhaltende Formen von Gewalt kategorisch abgelehnt, nutzen die Vertreter:innen, die für die Ausstattung der Ukraine mit deutschen Waffen argumentieren, vor allem verantwortungsethische Argumentationen und denken kontextbezogen von den möglichen Folgen her.
Beide Verschiebungen sind grundlegend und verursachen ein – höflich formuliert – ‚Grummeln‘ an der kirchlichen Basis, ganz konkret vor Ort in den Gemeinden. Ein ‚Grummeln‘, das sich auch durch emotionalere oder weniger emotionale Äußerungen, Zuschriften oder Online-Kommentare Bahn bricht.
zwischen gesinnungsethischer und verantwortungsethischer Argumentationen
Was also tun? Wie damit umgehen? – fragt sich ein Friedensbeauftragter, der im Friedensdiskurs der EKBO („Evangelisch im Osten“) auch noch eine nur wenig aufgearbeitete Ost-West Dynamik, die quer zu einer Generationsthematik liegt, erblickt: Wie schaut jemand, der im Westen Deutschlands sozialisiert wurde auf die territorialen Ambitionen Russlands? Wie auf die NATO und durch die USA in Frage gestellte Beistandspflicht? Wie ist darauf die Perspektive, von jemandem, der im Osten aufwuchs? Wie bewertet jemand die friedensethischen Herausforderungen, dessen sicherheitspolitische Grunderfahrung die Anschläge von 9/11 waren und der Nato-Doppelbeschluss ein historisches Ereignis vor der eigenen Geburt darstellt?
An biblischen Vorbildern, Angegriffenen in der Not zu helfen, mangelt es nicht (z.B. die Geschichte des barmherzigen Samariters). Und das Gebot der Nächstenliebe schließt auch den Schutz seiner existenziellen Lebensbedingungen mit ein. Ebenso bedeutet „Du sollst nicht töten!“ nicht, dass wir ohne Handlungsoption zuschauen, wenn andere getötet werden.
ambivalente biblische Befunde
Doch ist dieses Aufzeigen der ambivalenten biblischen Befunde wieder ein Einstieg ins gesinnungsethische Argumentieren, dass mit Blick auf andere – gegenwärtige wie mögliche (Taiwan) – Konflikte nur in eine Aporie führen kann. Ferner unterschlägt dies die aufgeklärte Feststellung, dass biblische Aussagen (wie alle Aussagen) kontextgebunden sind und ihren vollen Sinn nur in diesem historischen Kontext entfalten. Zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen, einem Sondervermögen für die Bundeswehr oder die Wiedereinführung der Wehrpflicht gibt die Bibel schlicht keine konkreten ethischen Positionierungen.
Darum braucht es also einen Lösungsansatz aus der Praxis, um das ‚Grummeln‘ in der harmonieverliebten evangelischen Kirche, in der Beschlüsse gern einstimmig gefasst werden, besser auszuhalten. EKD-Ratsvorsitzende Kerstin Fehrs fordert, wie andere auch, eine „nüchterne fachorientierte Debatte“[3]. Moralisch abrüsten, faktisches Wissen anhäufen und Expert:innen zu Wort kommen lassen, statt gewissenhaft im Wächteramt die immer komplexer werdende Welt zu erklären. Das wäre wünschenswert und darin läge auch eine Chance für einen kirchlichen Mehrwert in der Gesellschaft: Man könnte Räume schaffen, Diskursort werden, wie das im Projekt „Verständigungsorte“ zu gesellschaftlichen Trigger-Themen ja bereits geschieht.[4]
Wem gibt man eine Bühne? Und wem nicht?
Problematisch ist hier jedoch zweierlei: Wem gibt man da eine Bühne? Und wem nicht? Und ist diese Auswahl nicht schon eine (verdeckte) Parteinahme? Oder anders: Möchte man für eigene Wahrheiten eintreten oder eine pluralistische Wahrheitsform ermöglichen, die dann allerdings auch Gedanken und Meinungen beinhalten kann, die jenseits des eigenen Werthorizonts liegen? Außerdem birgt die Forderung nach mehr Sachlichkeit auch eine gewisse Form der akademischen Idealisierung: Die Welt, in der ausgewogen und fair um das beste Argument gerungen wird, in der sich jemand sachlogisch überzeugen lässt und dann die eigene, unter Umständen seit Jahrzenten vertretene Position ändert, ist nicht für alle Menschen geöffnet.
Vielleicht hilft es, einen Schritt zurückzutreten. In einen Resonanzraum jenseits der großen politischen Bühnen. „An Ihren Händen klebt Blut!“ so der empörte Zwischenruf bei einer Podiumsdiskussion mit einer Friedensaktivistin in einer Kirche im Süd-Westen Berlins. Wie damit umgehen? Ganz konkret vor Ort.
Ruhe, Geduld und Zuhören
In der Praxis haben sich zwei Verhaltensweisen etabliert: Ruhe und Geduld. Darauf folgt: Zuhören. Nicht bloße Kenntnisnahme, sondern echtes individuelles Zuhören. Ungeteilte Aufmerksamkeit, um das Murmeln, Rauschen, Andeuten, Schweigen zu hören. In einem persönlichen Gespräch einem anderen Menschen offen begegnen. Seine Sichtweisen, Fragen, Sorgen und Ängste wahrnehmen, zu begreifen zu versuchen und ins eigene Bewusstsein durchdringen zu lassen. Labeling, Urteile und Vorannahmen für einen Augenblick fahren lassen.
Um nicht missverstanden zu werden: Hier geht es nicht um ein instrumentalisiertes Zurschaustellen von Zuhören, um ein Gespräch, das so tut, als würde zugehört, um dann doch die eigene Position durchzusetzen. Wie dysfunktional dieser Ansatz ist, lässt sich gut an den im Wahlkampf exponentiell steigenden Bürgerdialogen ablesen. Diese und andere Instrumente im politischen Raum sollen dafür sorgen, über den Umweg ‚Anerkennung‘ und ‚Zuhören‘ dafür zu sorgen, dass eine Gesellschaft (wieder) zur Gemeinschaft findet. Ein idealisierter Lösungsweg, der schon aufgrund der kommunikationstheoretischen Grundlage schief gehen muss und allenfalls als „hegemonialer Polit-Kitsch“ gedeutet werden kann.[5]
Zuhören als Beziehungsarbeit und Erfassen von Weltzugriffen anderer
Was hier mit Zuhören gemeint ist, ist Beziehungsarbeit. Also das persönliche Gespräch im geschützten Raum, das sich für die Andersartigkeit des Gegenübers öffnet und echtes Interesse an biographischen, wertprägenden Erfahrungen zeigt. Warum denkt oder fühlt jemand so? In welcher Wirklichkeit ergibt diese Weltwahrnehmung einen Sinn, erscheint als wahr? Bei dieser Art von Zuhören kann es nun nicht darum gehen, die eigene Perspektive zugunsten des Gegenübers aufzugeben, sich bedingungslos in den anderen hineinzuversetzen, sich quasi therapeutisch seine Perspektive zu eigenen zu machen. Hier geht es noch nicht einmal um Sympathie oder Einverständnis, sondern schlicht darum, die Beweggründe und Motive des anderen zu erfassen und so die eigenen Weltzugriffe und Verstehenskategorien behutsam zu erweitern.
Limitierungen des Zuhörens
Das markiert auch die individuell sehr unterschiedliche Limitierung des Zuhörens: Bei allen Bemühungen über die eigene Perspektive hinauszusteigen, die ja ihrerseits in Erfahrungen und Biographie, im eigenen Denken und Fühlen gebunden ist, gilt es auch, die eigenen Grenzen zu zeigen und Positionierungen zu markieren. Zuhören so verstanden heißt eben nicht aufhören mit der eigenen Weltwahrnehmung, sondern Anerkennung einer Differenz – so wie eben Biographien different sind – und dies ohne das Ziel, dieselben aufzulösen. Wer hier wieweit und wem gegenüber wie offen zuhören kann, ist hochgradig situativ, persongebunden und kontextabhängig und muss für jeden Fall einzeln entschieden werden.
Innehalten, Zuhören und Nachfragen – das erfordert einen geschützten Raum, Zeit und Ruhe, Konzentration und Zuwendung. All das sind Ressourcen, die die Kirchen und ihre Vertreter:innen derzeit noch haben. Kirche könnte hier im Aufspannen von Resonanzräumen ein Vorbild werden.
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[1] https://www.deutschlandfunk.de/deutsche-bischofskonferenz-bekraeftigt-unterstuetzung-fuer-waffenlieferungen-102.html
[2] https://pax-christi.de/brief-an-die-bischoefe
[3] https://www.ekd.de/fehrs-zu-mittelstreckenraketenstationierung-85698.htm
[4] https://www.mi-di.de/verstaendigungsorte
[5] https://geschichtedergegenwart.ch/zuhoeren-die-politischen-fallstricke-einer-schoenen-idee/
Beitragsbild: shutterstock
Dr. Jan Kingreen, Studium der ev. Theologie in Göttingen und Berlin, Ausbildung zum systemischen Supervisor, Gründungskoordinator Institut für Katholische Theologie der HU Berlin, Geschäftsführer Berliner Dom, derzeit Pfarrer und Vorstand der Stiftung Garnisonkirche Potsdam und Friedensbeauftragter der EKBO.