Archäologisch lässt sich ein wiederholender Zyklus beobachten: Hin zu einer Bestattung auf formalen Deponierungsarealen (Friedhöfen) und wieder weg zu alternativen Beisetzungsformen. Daniela Hofmann blickt als Archäologin auf den Friedhof und wirbt für interdisziplinäre Verstehenszugänge.
Friedhöfe sind sind nicht selbstverständlich. Für weite Teile der Vorgeschichte gibt es überhaupt keine Friedhöfe, im Sinne größerer Ansammlungen von Gräbern in einem von Siedlungen abgetrennten Bereich. So finden die wenigen Beispiele von Bestattungen des frühen anatomisch modernen Menschen in Europa (ab ca. 45.000 v. Chr.) meistens innerhalb oder in Randbereichen der zeitgleichen Siedlungsplätze statt. Oft enthalten sie Individuen, die jung und/oder gewaltsam zu Tode kamen, an Erkrankungen litten, oder (wie die beiden möglichen Zwillinge aus Krems-Wachtberg, Österreich) von ihren Zeitgenossen wohl als besonders erachtet wurden (Pettitt 2011, 170). Es war also bei weitem nicht ‚normal‘, im Tode als Teil einen größeren Kollektivs in einer Weise beigesetzt zu werden, die dauerhafte Spuren hinterließ.
Für Archäologinnen und Archäologen ist daher eine der wesentlichen Fragen, warum sich diese Einstellung änderte. Vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren gab es Versuche, allgemeingültige Erklärungen für das Phänomen Friedhof zu finden. Im wissenschaftlich orientierten Jargon der Zeit sprach man dabei allgemeiner von ‚formal disposal areas‘, was sich etwa als ‚formal gestaltete Deponierungsbereiche‘ wiedergeben lässt und auch Anlagen wie Kollektivgräber oder Ossuarien einschließt. Die einflussreichste der damals vorgeschlagenen Erklärungen wurde von Arthur Saxe als letzte von acht Hypothesen zum menschlichen Bestattungsverhalten formuliert, die er anhand von archäologischen und ethnographischen Daten aufstellte.
Friedhöfe (Deponierungsbereiche) treten dann auf, wenn der Zugang zu begrenzt vorhandenen Ressourcen über die Abstammung von Ahnen geregelt wird.
Der Anspruch, mittels dieser Daten Regeln aufdecken zu können, die für alle Gesellschaften gültig sind, war ambitioniert und scheiterte in vielen Fällen an der Bandbreite der beobachteten Ausprägungen. Eine der wenigen Hypothesen, die Bestand hatte, war jedoch eben jene Hypothese 8, die von Lynne Goldstein auf einer breiteren Datengrundlage überarbeitet wurde (siehe einführend Parker Pearson 1999, 29f). Sie besagt, dass formal gestaltete Deponierungsbereiche dann auftreten, wenn der Zugang zu begrenzt vorhandenen Ressourcen über die Abstammung von Ahnen geregelt wird.
Treibt beispielsweise eine Gesellschaft Ackerbau, dann ist gerodetes Ackerland eine wichtige Ressource, die nicht sofort und nicht grenzenlos zur Verfügung steht. Zugang wird also über die Ahnen geregelt: man hat Anspruch, genau diese Felder zu nutzen, weil schon die eigenen Vorfahren sie bearbeitet und urbar gemacht haben. Letztere werden in klar umgrenzten, nach bestimmten Regeln angelegten Arealen beigesetzt, um diesen Besitzanspruch dauerhaft zu untermauern. Sichtbare, kollektive Deponierungsbereiche sind somit Ausdruck einer materiell manifestierten genealogischen Verbundenheit mit Auswirkungen auf eigene Rechte und Pflichten.
Im Umkehrschluss trifft jedoch nicht zu, dass Gesellschaften ohne solche Areale keine Ressourcen haben, zu denen man einen eingeschränkten Zugang begründen müsste. Friedhöfe stellen nur eine mögliche Strategie der Legitimation der eigenen Ressourcen dar. Ebenso sind Beziehungen mit den Ahnen nicht auf das rein politische zu beschränken. Trotzdem bleibt die Korrelation bestehen: auch wenn wir aus ihrem Fehlen nicht viel folgern können, so zeigt die Anwesenheit formal gestalteter Deponierungsbereiche eine Gesellschaft, die Zugang zu Ressourcen zumindest teilweise über ihre Ahnen argumentiert.
Friedhöfe dienten der Zementierung des gesellschaftlichen Status Quo.
Obwohl die Arbeiten von Saxe und Goldstein in späteren, eher geisteswissenschaftlich argumentierenden archäologischen Strömungen scharf kritisiert wurden, blieb der archäologische Umgang mit Bestattungen auf die weltliche Dimension beschränkt. Zwar standen nun spezifische historische Kontexte im Vordergrund, doch sah man Friedhöfe nach wie vor als zutiefst politisierte Orte gesellschaftlicher Wettbewerbssituationen. Unter dem Schlagwort ‚the dead don’t bury themselves‘ wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass hier die Überlebenden versuchten, Machtpositionen zu legitimieren und, beispielsweise durch den demonstrativen Konsum von hochwertigen Grabbeigaben, die eigene gesellschaftliche Stellung als Erben bestimmter Privilegien zu festigen. Auch dienten Friedhöfe der Zementierung des gesellschaftlichen Status Quo, etwa mittels der Verteilung von Beigaben in einer hierarchischen Gesellschaftsordnung.
Aspekte wie Emotionen, Religion und Kreativität kommen zu kurz. Ihre Existenz wird zwar nicht bestritten, aber meist negativ als ‚Verzerrung‘ begriffen.
Diese archäologischen Herangehensweisen haben zu wichtigen Erkenntnissen geführt. Friedhöfe stehen jedoch nicht um ihrer selbst willen im Vordergrund des archäologischen Forschungsinteresses. Sie sind immer Abbilder einer angeblich dahinter verborgenen sozialen Realität von Macht, Tradition und Legitimation (kritisch: Tarlow 1999, 12). Aspekte wie Emotionen, Religion und Kreativität kommen zu kurz. Deren Existenz wird von Archäologinnen und Archäologen zwar nicht bestritten, aber meist negativ als ‚Verzerrung‘ begriffen, die uns von unserem eigentlichen Ziel – gesellschaftlichen Strukturen und Normen – abhält. Somit bleiben viele Fragen nicht nur unbeantwortet, sondern werden (zumindest für schriftlose Kulturen) kaum gestellt: Was bedeutete der individuelle Tod für die Hinterbliebenen? Wie stellten sie sich die weitere Existenz der Verstorbenen, oder Teile dieser (etwa einer oder mehrerer ‚Seelen‘), vor? Und wie ändern sich Bestattungssitten?
Eine Möglichkeit ist, sich verstärkt auf die Gräber zu konzentrieren, die aus der jeweiligen Norm herausfallen.
Mittlerweile mehren sich die Versuche, zumindest einen teilweisen Perspektivwechsel zu vollziehen. Dies bleibt allerdings diffizil, muss man sich doch noch weiter auf das dünne Eis von assoziativen Interpretationen wagen, als es die Archäologie ohnehin verlangt. Eine Möglichkeit ist, sich verstärkt auf die Gräber zu konzentrieren, die aus der jeweiligen Norm herausfallen. Zwar ist diese Herangehensweise insofern unbefriedigend, als hier nur ein Residuum interpretiert wird – ‚irrationale‘ Gründe werden als Restkategorie für diejenigen Gräber verwendet, für die unsere vertrauten Standardinterpretationen nicht gelten. Andererseits können wir auf diese Weise den Stellenwert der Performanz betonen, anstatt aus der Regel fallende Bestattungen als ‚statistisch nicht relevant‘ wegzuerklären. Normen können sich demnach nur halten, wenn sie ihre emotionale, soziale und auch religiöse Gültigkeit wahren, und zwar jeweils in den speziellen Situationen, mit denen sich Hinterbliebene konfrontiert sehen. Jede Abweichung hat das Potential, zu einer neuen Norm zu werden, wo sie ihren Erfolg beweist, mit den Herausforderungen eines Todesfalls zufriedenstellender umgehen zu können. Was nun als ‚zufriedenstellender‘ zu gelten hat, wird von vielen Faktoren und gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst, die sich weit jenseits der ‚formal gestalteten Deponierungsareale‘ abspielen.
Der Zyklus, hin zur Bestattung auf formalen Deponierungsarealen und wieder weg zu anderen Beisetzungsarten, vollzieht sich viele Male.
Interessant für das Thema Friedhof ist dabei dessen langfristige Impermanenz. Haben sich in einem Gebiet einmal Friedhöfe herausgebildet, etwa in Mitteleuropa nach der Einwanderung der ersten sesshaften Bauern (ab 5500 v. Chr., mit größeren Friedhöfen um die 200 Jahre später), so heißt das nicht, dass diese seitdem durchgehend vorhanden waren. Im Gegenteil: Der Zyklus, hin zur Bestattung auf formalen Deponierungsarealen und wieder weg zu anderen – oft archäologisch unsichtbaren – Beisetzungsarten, vollzieht sich viele Male und bildet keinen einfachen evolutionären Trend ab. Es stellt sich die Frage nach der Aufgabe von Friedhöfen und ähnlichen Einrichtungen – in welchen Situationen verlieren sie wieder an Bedeutung?
Heutige ‚alternative‘ Bestattungssitten als jüngste Wendung eines sich stetig wiederholenden Kreislaufs
Interessant wäre eine langfristig angelegte Studie über die Geschwindigkeit der sich wiederholenden Zyklen, hin zu und weg von formal gestalteten Deponierungsarealen, sowie deren Korrelation mit anderen gesellschaftlichen Faktoren. Hier ergeben sich mögliche Überschneidungen zwischen den Interessen von Archäologie und denen der Sozial-, Kultur- und Religionswissenschaften, die sich mit heutigen ‚alternativen‘ Bestattungssitten auseinandersetzen. Im Licht der Archäologie erscheinen diese als nichts anderes als die jüngste Wendung in diesem sich stetig wiederholenden Kreislauf.
Im Fokus dieser Diskussion standen bisher genau die weltanschaulich-religiösen und emotionalen Argumente, denen Archäologinnen und Archäologen traditionell mit großer Skepsis begegnen. Gemeinsam ließe sich also den verschiedenen und dicht gelagerten Funktionen nachgehen, die ein Friedhof gemeinhin erfüllt. Ebenso stellt sich die gemeinsame Frage nach den Prozessen innerhalb eines wirksamen Gesamtgefüges, durch welche diese Funktionen auf unterschiedliche Funktionsträger wieder neu verteilt werden.
Die unterschiedlichen Wissenschaften können viel voneinander lernen.
Aus der archäologischen Langzeitperspektive heraus ist das Aufgeben von formal gestalteten Deponierungsarealen nicht überraschend. Es muss auch nicht dazu führen, dass Angehörigen eine angemessene Form der Trauer erschwert wird. Diese Funktionen können auch andere Orte übernehmen, die nicht einmal mit dem Ort des Verbleibes eines Leichnams übereinstimmen müssen. Eher scheint in heutiger Zeit die Tendenz gesunken, sich in seinen gesellschaftlichen und politischen Legitimationsansprüchen explizit auf Ahnen zu beziehen. Die soziale Herkunft ist nach wie vor nachweislich wichtig für den Zugang zu Macht und Ressourcen, aber wir neigen dazu, dies zumindest im sepulkralen Kontext zu verschleiern. Die Gründe hierfür sind, wie immer, im Wechselspiel des Friedhofes mit anderen Bereichen sozialen Handelns zu suchen. Durchaus lassen sich dabei interessante Parallelen mit Situationen vergangener Gesellschaften finden. Wir können hier als unterschiedliche Wissenschaften viel voneinander lernen, wenn wir unsere Sichtweisen gegenüberstellen.
Das Ende der Friedhöfe, die wir heute kennen, ist nur eine Frage der Zeit.
Doch zu welchem Schluss wir über die heutige Situation auch immer kommen werden: das Ende der Friedhöfe, die wir heute kennen, ist nur eine Frage der Zeit – genauso wie irgendwann neue formal gestaltete Deponierungsbereiche entstehen werden.
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Literatur:
Parker Pearson, M. 1999. The archaeology of death and burial. Stroud: Sutton.
Pettitt, P. 2011. The Palaeolithic origins of human burial. London: Routledge.
Tarlow, S. 1999. Bereavement and commemoration. Oxford: Blackwell.
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Daniela Hofmann ist Juniorprofessorin für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Universität Hamburg. Dort ist sie Teil eines interdisziplinären Forschungsnetzwerkes zu Bestattungsriten.
Bild: Marco Barnebeck / pixelio.de