Johanna Beck engagiert sich für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche. Als Mitglied und Sprecherin des DBK-Betroffenenbeirats arbeitet sie seit diesem Jahr auch beim Synodalen Weg mit, zuletzt brachte sie ihre Stimme bei der Vollversammlung im Februar ein. Franziska Loretan-Saladin stellte ihr für feinschwarz.net fünf Fragen.
feinschwarz.net: Am 2. März 2019 wandten Sie sich auf feinschwarz.net unter dem Pseudonym «Madame Survivante» in einem offenen Brief an die Deutschen Bischöfe.1 Was hat Sie später dazu gebracht, aus der Anonymität heraus zu gehen und sich öffentlich für die Aufarbeitung körperlichen und geistlichen Missbrauchs in der Kirche einzusetzen?
Johanna Beck: Im Zuge der Veröffentlichung der MHG-Studie holte mich meine eigene Missbrauchs-Vergangenheit ein. Damals begann ich, mich nicht nur intensiv mit meinem eigenen Fall, sondern auch mit sexualisierter Gewalt und mit geistlichem Missbrauch in der katholischen Kirche im Allgemeinen zu beschäftigen. Dabei musste ich feststellen, dass es in der Kirche häufig noch an Sensibilität für das Thema Missbrauch mangelt, dass es mit der Aufarbeitung immer noch nicht deutlich vorangeht und dass vielen Betroffenen immer noch nicht Gerechtigkeit widerfährt. Auch stehen viele Kirchenvertreter der Reform kirchlicher Strukturen nach wie vor kritisch gegenüber, obwohl diese den Missbrauch nachweislich begünstigen.
Es mangelt in der Kirche häufig noch an Sensibilität für das Thema Missbrauch.
So habe ich – quasi als sprachliche Selbstermächtigung wider das Ohnmachtsgefühl – angefangen, dagegen anzuschreiben: auf Twitter und dann auch in Form meiner offenen Briefe an die Bischöfe bei feinschwarz.net. Dies geschah allerdings als Selbstschutz unter meinem Pseudonym und Twitter-Namen Madame Survivante. In den folgenden Monaten ist der Radius der Menschen, die von diesem Hintergrund wussten und die mich in meinem Engagement bestärkten, immer größer und meine Angst vor negativen Reaktionen und Folgen immer kleiner geworden, sodass ich im Frühjahr 2020 beschloss, nun auch unter meinem richtigen Namen aktiv zu werden. Gleichzeitig stellte ich fest, dass ich mit meinem (bis dato anonymen) Schreibtisch-Engagement wirkungstechnisch an meine Grenzen stieß, weshalb ich mich – in der Hoffnung, mehr in Sachen Aufarbeitung und Strukturwandel bewegen zu können – für den Betroffenenbeirat der DBK bewarb. Und spätestens als ich dann als Teil des Sprecher*innen-Teams des Beirats vor der Synodalversammlung gesprochen hatte, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gibt.
Je mehr Menschen über ihre eigene Geschichte reden, desto besser kann man das Schweigen und die Isolation der Betroffenen besiegen.
Daneben bestehen aber noch weitere Gründe, warum ich mich für ein öffentliches Engagement entschieden habe: Ich habe festgestellt, dass das Sprechen über Missbrauchserfahrungen ‘ansteckend’ sein kann, dass auf eine sprechende betroffene Person in der Regel weitere folgen und je mehr Menschen über ihre eigene Geschichte reden, desto besser kann man das Schweigen und die Isolation der Betroffenen besiegen und desto gestärkter kann man gegen die Täter*innen und die herrschenden Missstände vorgehen. Gleichzeitig hoffe ich, auf diese Weise auch anderen Betroffenen, die aus nachvollziehbaren Gründen nicht an die Öffentlichkeit gehen wollen, eine Stimme zu geben, auch wenn ich natürlich nie repräsentativ für sämtliche Betroffene sprechen kann.
Inwiefern fördern aus Ihrer Sicht die patriarchalen Strukturen der Kirche Missbrauch und Vertuschung?
Johanna Beck: Die patriarchalen Strukturen fördern Missbrauch und Vertuschung gleich auf mehreren Ebenen:
Zum einen sind sexualisierte Gewalt und geistlicher Missbrauch im Kern immer auch Missbrauch von Macht. In den in der Kirche vorherrschenden extremen Machtasymmetrien stehen ausschließlich geweihte, männliche Kleriker an der Spitze, dann kommen die ungeweihten Männer und dann erst die Frauen. Und klar ist: Je weiter unten jemand in dieser Hierarchie steht, desto höher ist die Gefahr, dass sie (oder er) Opfer von Missbrauch wird. Erschwerend kommt eine Tendenz zur Überhöhung und Übersakralisierung des Priesteramtes hinzu, die Kleriker mit einer nahezu unkontrollierten (Manipulations-)Machtfülle ausstattet und die einen gefährlichen Nährboden für Missbrauch bietet.
Je weiter unten jemand in dieser Hierarchie steht, desto höher ist die Gefahr, dass sie (oder er) Opfer von Missbrauch wird.
Zum anderen weisen Studien immer wieder auf den Problemfaktor Männerbünde hin: Extrem enge, teilweise schon seit dem Priesterseminar bestehende, hermetische Klerikerbünde begünstigten, dass sich bei einem Missbrauchsfall der schützende Mantel der männlichen Seilschaften über den Täter legte und der Schutz der Opfer vernachlässigt wurde oder gar völlig ausblieb. Der im Kölner Gehrke-Gutachten veröffentlichte Name der meisnerschen ‘Giftakten’ – «Brüder im Nebel» – offenbart genau diese Problematik: Hier herrschten mehr Fürsorge und Schutz für die brüderlichen Täter als für die Opfer sowie Empathielosigkeit, Schweige-Omertà und Intransparenz.
Nicht vergessen werden darf darüber hinaus die in katholischen Kreisen teilweise immer noch kursierende, hochproblematische Dichotomie von zwei Frauenbildern: Da ist einerseits das Idealbild der reinen, dienenden, gehorsamen und demütigen Maria, das leider viel zu oft genutzt wurde, um Frauen zu passiven, alles erduldenden Verfügungsobjekten zu degradieren, und andererseits das Bild der ‘normalen’ Frau als Sünderin und Verführerin, das sich fatalerweise optimal für Täter-Opfer-Umkehr-Strategien eignet(e).
hochproblematische Dichotomie von zwei Frauenbildern
Wenn man sexualisierte Gewalt und geistlichen Missbrauch in Zukunft verhindern will, dann müssen dringendst auch die vorherrschenden Männerbünde aufgebrochen, die patriarchalen Strukturen reformiert und die Diskriminierung und misogyne ‘Verteufelung’ von Frauen umgehend beendet werden.
Was kann der Synodale Weg dazu beitragen, dass Täter auch innerkirchlich angeklagt und zur Rechenschaft gezogen werden?
Johanna Beck: Der Synodale Weg kann die Aufarbeitung in den Bistümern kritisch begleiten und beobachten, sich für Gerechtigkeit für Betroffene einsetzen, zu einem allgemeinen Kulturwandel beitragen, und er kann sich vor allem für eine Reform des kanonischen Verfahrens stark machen: Bisher sind Betroffene lediglich Zeug*innen und nicht Nebenkläger*innen, ihnen wird keine Akteneinsicht gewährt und im CIC wird sexualisierte Gewalt durch einen Kleriker immer noch primär als Verstoß gegen das 6. Gebot und gegen die Amtspflicht gewertet und nicht als Verstoß gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht und die Würde eines Menschen.2 Zudem werden erwachsene Betroffene nicht adäquat berücksichtigt. All das muss sich dringend ändern, auch weil das bisherige Verfahren so ein unglaubliches Retraumatisierungs- und Reviktimisierungspotenzial birgt, nicht nur weil Betroffene die Taten wiederholt schildern müssen, sondern auch, weil sie wieder in eine Ohnmachtssituation gedrängt werden, weil sie wieder einen Kontrollverlust erleben und weil wieder die Institution und nicht die Perspektive und das Leid der Opfer im Zentrum stehen.
Das bisherige Verfahren birgt so ein unglaubliches Retraumatisierungs- und Reviktimisierungspotenzial.
Insofern könnte – und sollte – der Synodale Weg (zusammen mit den Bischöfen) seine Stimme nutzen, um auf die vatikanischen Behörden und den Papst einzuwirken, entsprechende Änderungen im Kirchenrecht vorzunehmen.
Welche konkreten Veränderungen fordern Sie von der Kirche in Deutschland und weltweit?
Johanna Beck: Mit Blick auf die Vergangenheit fordere ich eine lückenlose, konzertierte und unabhängige Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, die nicht in einen zerfasernden (diözesanen) Flickenteppich ausarten darf. Mit Blick auf die Gegenwart fordere ich, dass endlich der Opferschutz über Institutions- und Täterschutz gestellt wird und dass Betroffene angemessen (!) für das erlittene Leid entschädigt werden. Mit Blick auf die Zukunft fordere ich eine stetige Verbesserung der Präventionsmaßnahmen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch eine radikale Reform der missbrauchsbegünstigenden Strukturen eine Form von Prävention darstellt: Kirchliche Machtausübung muss entklerikalisiert, enthierarchisiert, geteilt und besser kontrolliert werden.
Dass endlich der Opferschutz über Institutions- und Täterschutz gestellt wird.
Es braucht eine Neubuchstabierung der katholischen Sexualmoral – weg von menschenfeindlichen, verletzenden und naturrechtlichen Satzungen hin zu einer Fokussierung auf Liebe, Treue, Konsens und auf den Wert der sexuellen Selbstbestimmung. Der Pflichtzölibat muss abgeschafft werden und, wie ich bereits angesprochen habe, die misogynen und patriarchalen Strukturen müssen beseitigt, Geschlechtergerechtigkeit hergestellt und Frauen zu allen Weiheämtern zugelassen werden – auf dass die Kirche sicherer, demokratischer, menschenfreundlicher, geschlechtergerechter und evangeliumsgemäßer werde.
In einem Bericht über Ihr Engagement habe ich folgende Aussage von Ihnen gelesen: „Ich werde nichts unversucht lassen, damit sich in der Kirche etwas ändert.“ Was gibt Ihnen Hoffnung, dass sich die Kirche verändert?
Johanna Beck: Tatsächlich habe ich mich dazu entschieden, in der Kirche zu bleiben und von innen heraus für Veränderungen zu kämpfen – wohl wissend, dass mir vor lauter Betonwänden irgendwann die Kraft und die Zuversicht ausgehen könnte. Aber aktuell gibt es ein paar Entwicklungen, die mir Hoffnung machen: Zum Beispiel, dass in der Kirche zunehmend das Schweigen gebrochen wird, dass (Sprach-)Tabus fallen, dass die problematischen oder abgründigen Dinge zunehmend angesprochen, ausgeleuchtet und angegangen werden – denn nur so kann sich etwas zum Besseren ändern. Oder dass immer mehr Betroffene den Mut, den Raum und ein offenes Ohr finden, um zu sprechen, anzumahnen, anzuklagen und zu sensibilisieren – und somit etwas zu bewegen. Und Hoffnung gibt mir auch das weibliche Empowerment, die bestärkende Vernetzung unter den Frauen, aber auch der pastorale Ungehorsam, der aktuell wieder aufkeimt. Da herrscht eine Dynamik, die vieles in Rollen bringen könnte, vielleicht sogar unerwarteter und schneller als gedacht.
Es gibt ein Gedicht von Hilde Domin, das lautet:
Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
daß der Wind
hindurchfährt.
Genau das erhoffe ich mir für die Kirche: dass sie einmal hochgeworfen wird, dass der Heilige Geist (der im Hebräischen ja weiblich ist) hindurchfährt, sie durchlüftet und für Neues öffnet. Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
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Johanna Beck ist Literaturwissenschaftlerin, Theologie-im-Fernkurs-Studierende, eine der Sprecher*innen des Betroffenenbeirats der DBK und (frisch gewähltes) Mitglied des ZdK.
Franziska Loretan-Saladin ist Mitglied des feinschwarz.net-Redaktionsteams.
Beitragsbild: Joe Dudeck auf unsplash.com
- Vgl. auch den zweiten Brief von «Madame Survivante» an die Deutschen Bischöfe: https://www.feinschwarz.net/verletzliche-kirche-offener-brief-an-die-bischoefe/ (veröffentlicht am 9. April 2020) ↩
- Inzwischen wurde bekannt, dass im neu revidierten kirchlichen Strafrecht sexualisierte Gewalt nicht mehr als Verstoß gegen den Zölibat, sondern als „Verbrechen gegen das Leben, die Würde und die Freiheit von Menschen“ gewertet wird. Der Aspekt der sexuellen Selbstbestimmung bleibt aber weiterhin unberücksichtigt. (Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/29895-neues-kirchliches-strafrecht-kommt-im-sommer). ↩