Leben heißt: sich wandeln. Angesichts innerkirchlicher Blockaden auf dem Synodalen Weg lohnt es sich, Newman wiederzulesen – meint Johannes Frenz. Eine Relektüre im Kontext aktueller Debatten.
Die Sorge, dass die römisch-katholische Kirche in Deutschland schismatisch werden könnte, wirkt wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten, wurde aber im Jahr 2021 geäußert.[1] Der Grund dafür war aber nicht das Aufbäumen einer schwerwiegenden christologischen Häresie, sondern die Frage nach der Bewertung von Partnerschaftsformen und der institutionelle Umgang mit ihnen. Dieser Diskurs erhält eine weltkirchliche Brisanz, wenn u. a. die derzeitigen Vorgänge in Ghana bedacht werden. Eine Vielzahl von garstig breiten Gräben scheinen die innerkatholische Welt nicht nur in Deutschland zu spalten. Die Debatten sind kontrovers, die meisten Fragen weder neu noch scheinen sie einfach lösbar.
Viele Fronten scheinen verhärtet oder gar verstockt zu sein, da die Ressourcen im Streit ungleich verteilt sind. Auch dies hat zur Folge, dass Menschen die Kirche aufgrund von Erfahrung von Verletzung hinter sich lassen. Die Phrase „deutscher Sonderweg“ löst keine Fragen und scheint eher die Legitimität der Fragenden untergraben zu wollen. Sind die Debatten um die Lehrentwicklung noch aus der Stagnation zu retten? Ein hier dargelegter Vorschlag soll Abhilfe leisten: Es ist Zeit für eine theological correctness nach John Henry Newman!
Gemeinsame Diskursgrundlage
Den meisten Leser*innen müsste der Begriff der political correctness bekannt sein. Populär wurde der Begriff in der US-amerikanischen Politik. In den 1970ern und den beginnenden 1980ern wurde er von liberalen Politiker*innen zur Kritik gegen linke Bestrebungen gebraucht. In den 1990ern in den USA von konservativen Politiker*innen gegen links-liberale politische Bestrebungen. Heute wird political correctness nicht nur in den USA u. a. im Rahmen von Safe-Space und Hatespeech verwendet.[2] Selbst wenn der Begriff auch instrumentalisiert wird und wurde, hat er letztendlich eine funktionale Größe: Er fordert eine gemeinsame Diskurs- sowie Sprachgrundlage ein, die einem gesetzten Erkenntnisstand und der Abwehr von fehlgehenden Gedanken dient.
Dies ist hier in einem gewissen Sinn mit dem Begriff theological correctness auch gemeint: Es geht um die Frage, auf welchen Grundannahmen die binnenkirchlichen Debatten geführt werden sollten, damit eine produktive Lehrentwicklung gelingen kann. Theological correctness beinhaltet weniger den Aspekt der Sprachkritik, sondern zielt auf gemeinsame inhaltliche Grundannahmen für jede Debatte. Eine Basis für das Ringen um das richtige Verständnis. Doch warum eignet sich John Henry Newmans Theologie für einen solchen Entwurf? Zwar ist er ein weiterer weißer europäischer Theologe aus dem 19. Jahrhundert, jedoch zeichnet sich Newmans Theologie durch zwei Merkmale aus: Seine Theologie verwirft kritische Themen nicht, sondern durchdenkt und erschließt sie. Sein ganzheitliches Sachinteresse verhindert eine einseitige ideologische Vereinnahmung, wenn man ihn angemessen verstehen möchte.[3]
Lebendig, nicht museal
Was würde eine theological correctness nach Newman inhaltlich bedeuten?[4]
Die erste Grundannahme wäre: Die Glaubenslehre muss sich entwickeln, wenn sie lebendig bleiben und nicht museal werden will. Eine formulierte ‚reine Lehre‘ ist eine ahistorische Illusion. Die Glaubenslehre bedarf immer einer ‚Verheutigung‘, immer einer Entwicklung.
Zu der Frage, wann eine Entwicklung korrekt sein müsste, bietet Newman eine hilfreiche Unterscheidung an, die die zweite Grundannahme darstellt: Ein Lehrsatz, in seinem sprachlichen Ausdruck, ist nicht gleichzusetzen mit der Glaubensidee, die dahintersteht. Der Satz verweist auf die Glaubensidee, ist aber nicht sie selbst. Somit ist eine wahre Entwicklung nicht damit gegeben, dass die Sätze gleichbleiben – das wäre tödlich –, sondern dass die Ideen und Prinzipien des Glaubens gleichbleiben.[5] Also eine Kontinuität des Glaubens bei einer möglichen oder notwendigen Diskontinuität des Ausdrucks.
Die dritte Grundannahme für eine theological correctness ist die folgende: Entwicklung geschieht durch Zusätze und Korrekturen, nicht durch Streichungen. Mit Newman lassen sich keine Statuen stürzen. Stattdessen muss es im Kern um besseres Erklären und Bewahren des Vergangenen gehen. Dies stellt einen klaren Debattenauftrag für die Krisenthemen dar: Was ist die Glaubensidee und wie können wir sie heute besser verstehen und entfalten?
Wagnis der Verheutigung
Die dritte Grundannahme ist gerade im heutigen Diskurskontext essentiell: Glaubensideen sind weder zeitlich noch örtlich gebunden. Ihr Verständnis oder ihre Darlegung aber schon. Wenn wir über Glaubensideen und ihre leitenden Prinzipien sprechen, dann sprechen wir eigentlich über ihre Aspekte, die sich über die Zeit entwickelt haben und weiter entwickeln müssen. Sonst sterben und vergehen sie, wie die Zeit, aus der sie stammen. Das Wagnis der ‚Verheutigung‘ bleibt unumgehbar und unhintergehbar. Die Glaubenslehre- und -vermittlung einer universalen Kirche steht immer in der Spannung zwischen Universalität und ihrer partikularen Verkündigung bzw. Formung. Die Glaubenslehre muss in Bremen, Taipeh, Tamale und Obidos lebbar, anwendbar und kontextualisierbar sein.
Diese zwingende Verheutigung muss zu der vierten Grundannahme führen, dass in der Geschichte immer wieder neue Aspekte und Ideen, die Anteil an der einenden Glaubensidee haben, hervortreten. Hierbei hat das gesamte Gottesvolk eine immens wichtige Funktion für Newman. In der Begegnung des Gottesvolkes mit der Zeit und mit dem Glauben treten Glaubensideen hervor, die sich verbreiten und durch eine Prüfung des Lehramts schlussendlich zur Lehre werden. Das Gottesvolk ist Prüfstein der Rechtgläubigkeit sowie Erkenntnisort des gelebten Glaubens. Dem Lehramt obliegt nach Newman nicht die Prüfung des Literalsinns, sondern ob die Ideen und Prinzipien des Glaubens gleichbleibend und ganzheitlich sind.
Die letzte Grundannahme ist die Bewusstwerdung der Heilsgeschichte, in der wir stehen. Das bedeutet, dass Häresien und auch weltliche Zwänge nicht per se negativ sind. Nein, sie sind nach Newman sogar Wegweiser und Hilfe auf dem Weg zu Lebendigkeit und Wahrheit.[6] Eine Krise wäre es dagegen, wenn die Kirche und die Menschen in ihr die notwendigen Entwicklungen verweigern und somit die Lebendigkeit ersticken oder die Korruption so überhandnimmt, dass nur noch eine Reform(ation) die Kirche retten kann und zu einem weniger korrumpierten Zustand zurückführt.
Garstig breite Gräben überbrücken
Meine begründete Vermutung ist die folgende: Mit einer theological correctness gemäß den Grundannahmen von John Henry Newman sollte eine Debatte möglich sein, die garstig breite Gräben überbrücken könnte, eine Revitalisierung des Glaubens und der kirchlichen Lehre zumindest für einen Moment ermöglichen würde. Es ist ein Segen der theologischen Debatten, dass Ideen entweder aufgegriffen und tradiert werden oder ins Leere gehen. Das wird sich auch in Bezug auf eine theological correctness nach John Henry Newman zeigen. In dem Sinne wünsche ich eine fruchtbare und lebendige Debatte und schließe mit den bekanntesten Worten von Newman, um das hier Gesagte auf den Punkt zu bringen: „In einer höheren Welt ist es anders, aber hienieden heißt leben sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich oft gewandelt zu haben.”[7]
Johannes Frenz, Mag. Theol. B.A. Rel.-Päd., WMA der Theologischen Revue und Promovend in der Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (johannes.frenz@uni-muenster.de)
[1] Siehe dazu: Kardinal Ruini warnt vor Schisma wegen Segnungsfeiern – katholisch.de [Stand:17.12.2021].
[2] Roper, Cynthia: Art. „political correctness“. In: Encyclopedia Britannica (31 Jan. 2020): https://www.britannica.com/topic/political-correctness [Stand: 17.12.2021].
[3] Vgl. Ker, Ian: Newman on Vatican II. Oxford 2016, 2f; Müller, Gerhard Ludwig: John Henry Newman begegnen. Augsburg ²2003, 8f.
[4] Die folgenden Grundannahmen ergeben sich auf Newmans Darlegung der Glaubensideen und der Kennzeichen für eine wahrhafte Entwicklung, siehe: Newman, John Henry: Über die Entwicklung der Glaubenslehre. übersetzt von Theodor Haecker und kommentiert von Johannes Artz. Mainz 1969, 33–111.149–183; Für das englischsprachige Original siehe: Newman Reader – Development of Christian Doctrine [Stand: 17.12.2021].
[5] Hilfreich hierfür ist Predigt „Die Theorie der Entwicklung in der religiösen Lehre“ vom 2. Februar 1843, siehe: Leben als Ringen um die Wahrheit. Ein Newman Lesebuch, hg. v. Günter Biemer / James Derek Holmes / Roman A. Siebenrock. Ostfildern 2019, 227–238.
[6] Dazu besonders Newmans Biglietto-Rede in Rom 1879, vgl. Leben als Ringen um die Wahrheit. Ein Newman Lesebuch, hg. v. Günter Biemer / James Derek Holmes / Roman A. Siebenrock. Ostfildern 2019, 110–112, hier 112.
[7] Newman, John Henry: Über die Entwicklung der Glaubenslehre. übersetzt von Theodor Haecker und kommentiert von Johannes Artz. Mainz 1969, 41.
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