Die Wahrheit des Evangeliums ist konkret. Wenn Kirche zeitlos über den Dingen schwebt, entgleitet ihr die eigene, subversive Botschaft. Von Stefan Gärtner.
Jedes Jahr erleben Touristen nach ihrer Heimkehr aus dem Urlaub dieselbe Enttäuschung. Sie haben beim Ziegenzüchter in Dänemark Rohmilchkäse, vom Weinbauern im Burgund den Rotwein oder die katalonische Hartwurst genossen und das Produkt gleich mit nach Hause genommen. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Denn die Leckereien schmecken im heimischen Garten natürlich nie so wie am Ferienort. Was die moderne Hermeneutik über die notwendige Kontextbindung beim Verstehen eines Textes behauptet, bestätigt der kulinarische Tourismus.
Literarische Verortungen
Gleiches gilt für die Literatur. Der Lyriker Reiner Kunze berichtet in seinem Essayband Das weiße Gedicht von einer Lesung vor notabene den Sprecherinnen und Sprechern der Katholischen Studierendengemeinden in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Man hat sich in einer Kirche versammelt, denn das ist der einzige Ort, an dem eine solche Veranstaltung überhaupt stattfinden kann. Sie muss dann allerdings einen religiösen Charakter haben, weswegen der Pfarrer die Lesung mit einem Gebet eröffnet und am Ende einen Segen spricht. Natürlich steht die Veranstaltung unter genauer Beobachtung durch die Staatssicherheit. In diesem Setting eröffnet Kunze seine Lesung mit dem vermeintlich harmlosen Gedicht Radfahren. Doch er kommt nicht weiter als bis zum ersten Wort, dann wird er dreimal hintereinander von Beifall unterbrochen. Das Wort lautet: Ablenken. („Ablenken, hin/zu den wäldern//Die autofahrer lächeln/wie erwachsene….“) Nur durch den Kontext, in dem Kunze das Wort aussprach, erhielt es eine subversive Wirkung. Sie stellte sich bei den Zuhörenden so spontan wie einheitlich ein.
…bei den Köpfen der Dämonen Anspielungen auf lokale Persönlichkeiten…
Ein zweites Beispiel. Hanns-Josef Ortheil erzählt in seinem Roman Hecke die Geschichte des Westerwalder Dorfes Knippen (nach dem Ort Wissen an der Oberen Sieg) während der Nazizeit. Der Maler Peter Hacker, für den der rheinische Kirchenmaler Peter Hecker Modell gestanden hat, bekommt den Auftrag, die Decke der katholischen Kirche auszumalen. In der Motivwahl ist er vermeintlich frei, doch tatsächlich drücken die Zeitumstände ihren Stempel auf seine Entscheidung. Er wählt schließlich die Versuchung des Heiligen Antonius, der als Eremit auf einem einsam gelegenen Felsplateau vom Teufel versucht wird. Hacker verortet diesen traditionellen Topos, indem er den Heiligen erkennbar in die Landschaft des Westerwaldes hineinmalt und bei den Köpfen der Dämonen Anspielungen auf lokale Persönlichkeiten macht. Die Gemeinde ist bei der Enthüllung des Deckengemäldes entsprechend perplex.
Papst Franziskus und die lokale Kirche
Für die Kirche ist das Bewusstsein für die Kontextbindung jeder Glaubensaussage ein alter Hut. Die Gemeinschaft der Getauften war schon immer zunächst die lokale Kirche. Doch heutzutage ist das nicht mehr für jeden selbstverständlich. Ausgerechnet der Papst musste es seiner Kirche wiederholt in Erinnerung rufen. Schon bei dem ersten öffentlichen Auftritt nach seiner Wahl auf dem Balkon über dem Petersplatz präsentierte sich Franziskus nicht nur als Papst, sondern ausdrücklich als Bischof von Rom.
Nicht jede Lösung muss auf dem Niveau der Weltkirche gefunden werden
In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium plädierte er unter Verweis auf Lumen Gentium für eine größere Rolle der lokalen Bischofskonferenzen, die kirchenrechtlich bis heute einen prekären Status haben, „denn es ist noch nicht deutlich genug eine Satzung der Bischofskonferenzen formuliert worden, die sie als Subjekte mit konkreten Kompetenzbereichen versteht“ (EG 32). Und im Umfeld er jüngsten Familiensynode wies der Papst wiederholt darauf hin, dass nicht jede Lösung in diesen Fragen auf dem Niveau der Weltkirche getroffen werden müsse.
Subversion und Kontextbindung des Evangeliums
Wenn Reiner Kunze heute das erste Wort seines Gedichtes Radfahren öffentlich vorliest, so dürfte es den Zuhörenden nicht weiter auffallen. Auch expressionistische Deckengemälde des Heiligen Antonius dürften keinen Katholiken mehr beunruhigen. Dagegen wird beides im Kontext eines totalitären Regimes zu einem subversiven Akt. Das gibt der Kirche zu denken.
Das offenherzige Wort sollte dominieren, nicht die Angst
Wenn sie über den Dingen schwebt und vermeintlich zeit- und ortlose Wahrheiten vertritt, dann droht ihr das Evangelium zu entgleiten, weil es immer eine kontextgebundene Botschaft ist. Zudem macht sie Gläubige damit mundtot und es entsteht in der Kirche die Notwendigkeit für ein subversives Sprechen: nicht das offenherzige Wort dominiert, sondern die Angst. Die Glaubensgemeinschaft muss aber der Wahrheit, die Christus ist, nach außen hin wirkmächtig Recht verschaffen, indem sie das Evangelium vor Ort und in der Zeit freimütig verkündet. Sie will dabei sowohl der jeweiligen Situation als auch den christlichen Traditionen gerecht werden. So kann das Evangelium selbst zu einer subversiven Botschaft werden. Und die Kirche ist als lokal verwurzelte Gemeinschaft gleichzeitig universell, wahrheitsgemäß und traditionsgetreu.
Stefan Gärtner / Foto: pixelio.de / Andreas Hermsdorf