Alexander Deeg denkt über den „ersten KI-Gottesdienst“ während der Nürnberger Kirchentags nach, hält das Experiment für gescheitert und bleibt skeptisch gegenüber Liturgien, die nicht menschlich gestaltet sind.
Chat-GPT und kein Gottesdienst! Das war jedenfalls meine Erfahrung beim (allerdings nur digitalen) Miterleben des groß angekündigten „ersten KI-Gottesdienstes“ im Rahmen des Nürnberger Kirchentags. Mir zeigt die Feier nicht primär, was eine Künstliche Intelligenz liturgisch und homiletisch schon jetzt kann oder vielleicht bald können wird, sondern was wir an den Gottesdiensten haben, die Menschen (mit all ihren Wunden und Narben, ihrer Begeisterung und ihrer Schönheit) gestalten und feiern. Der erste KI-Gottesdienst war eine großartige Werbung für ‚ganz normale‘ Gottesdienste; ein Plädoyer für ganz und gar menschliche Liturg:innen und in dieser Hinsicht vielleicht das genaue Gegenteil von dem, was manche erwartet haben. „Kann eine künstliche Intelligenz bald Pfarrer*innen ersetzen? In Fürth wird das erstmals probiert“, so war etwa bei taz.de zu lesen.[1]
ChatGPT zur Liturgin gemacht.
Der „erste KI-Gottesdienst“ schaffte es sogar in den kurzen zusammenfassenden Bericht vom Kirchentag in der Tagesschau vom 12. Juni 2023. Darin heißt es: „Auch Kirchentagsgeneralsekretärin Kristin Jahn zeigte sich zufrieden mit dem Kirchentag. Mit einem KI-Gottesdienst habe man Neuland betreten […].“[2] Es braucht schon überaus erleuchtete Augen des Herzens, um in dem KI-Gottesdienst liturgisch-homiletisches „Neuland“ zu erkennen oder „Potential“ für zukünftige Gottesdienste, wie die Philosophin und Theologin Anna Puzio meinte.
Der „erste KI-Gottesdienst“ ist medial vielfach beschrieben worden.[3] In der Fürther St. Paul-Kirche wurde unter dem Titel „Alexa, starte den Gottesdienst“ am 9. Juni um 11 Uhr dazu eingeladen. Als Mitwirkende wurde erwähnt: „Liturgie: GPT3, Künstliche Intelligenz, San Francisco, USA“. Der in Wien arbeitende Praktische Theologe Jonas Simmerlein hat ChatGPT zum:r Liturg:in gemacht. Mit seinen Prompts hat er die Künstliche Intelligenz die gesamte Liturgie sowie die Predigt generieren lassen und dies nur wenig (nach eigener Aussage: 2%) nachbearbeitet. Die Zuschauer:innen sahen eine Leinwand im Kirchentagsgrün und abwechselnd zwei Avatare – eine (weiße) Frau und einen (POC-)Mann –, die die vorher genierten Texte monoton von sich gaben (und keine liturgischen Gesten vollzogen). Der Raum spielte nicht mit: Es brannten keine Kerzen und das Kreuz in der Kirche war durch die Leinwand verdeckt. 45 Minuten hörten die Zuschauer:innen, was eine KI gegenwärtig an Texten aus dem Material des Internets zusammenstellt, wenn sie um eine Begrüßung zum Gottesdienst, Gebete, eine Predigt und einen Segen ‚gebeten‘ wird.
wie Liturg:innen in Gottesdiensten nicht reden sollten.
Eine Prädikant:innen-Fortbildung oder ein homiletisch-liturgisches Seminar hätten der KI sehr gut getan. Denn bereits die Wortwahl war eine Katastrophe und ließ erschrecken über das, was die KI augenscheinlich im Netz finden konnte. Die KI freute sich – ganz klassisch – „begrüßen zu dürfen“, anstatt direkt zu begrüßen. Sie forderte zu Beginn auf: „Lassen Sie uns […] nachdenken“ und hatte keine Ahnung, dass Gottesdienst mehr sein kann als ein gemeinsames Nachdenken über ein Thema. Sie sprach in einer „wir“- und „wir alle“-Diktion, die spätestens seit Ottos „Wort zum Montag“ vor allem für die Karikatur von Kanzelsprache taugt. Im Prompt wurde die KI gebeten, sich auf das Thema „Zeit“ zu beziehen. Und da ‚überraschte‘ sie mit Plattitüden wie „Zeit ist ein kostbares Gut.“ Und sie hoffte, die kommende Zeit werde „anregend und vor allem sinnvoll“ sein. In gewisser Weise war sie das ja auch und konnte zeigen, wie Liturg:innen in Gottesdiensten nicht reden sollten. Erstaunlich auch, wie gestelzt die KI-Sprache klang: „Während wir uns in diesem Heiligen Raum versammeln …“ In Verbindung mit der ganz und gar nicht heiligen Atmosphäre eines aus grüner Leinwand sprechenden Avatars waren es solche Momente, die viele Betrachtende unweigerlich zum Schmunzeln reizten. „Sinnvoll“ scheint für ChatGPT übrigens ein hoher Wert zu sein. Und so endete das Fürbittgebet im Namen „dessen, was sinnvoll und gut ist“. Wer am negativen Beispiel lernen wie, wie Gebete und Predigten nicht funktionieren, nutze ChatGPT als Liturg:in.
Massive Moralisierung und Ethisierung der Botschaft.
Aber es ist evident: Hier kann und wird Künstliche Intelligenz besser werden, wenn sie mehr (gute) Texte rezipiert und man ihr in den Prompts vielleicht noch ein paar Hinweise für gelingende liturgische Sprache gibt (und vielleicht auch sagt, dass ein Kyrie zu Beginn des Gottesdienstes nicht schon ein erstes Fürbittgebet ist). Und vielleicht kann eine Künstliche Intelligenz irgendwann auch gottesdienstliche Musik erstellen, die sich nicht nach „Fahrstuhlmusik“ anhört!
Ganz sicher kann eine KI auch theologisch besser werden. Die massive Moralisierung und Ethisierung der Botschaft war für mich entweder schwer erträglich oder führte zu einiger Heiterkeit. „Diese Verse fordern uns auf …“ – „Wir müssen lernen, die Vergangenheit loszulassen.“ – Oder: „Wir müssen regelmäßig beten und die Kirche besuchen.“ Und ChatGPT gab dann auch weitere ganz „praktische Ratschläge“. Man möchte der KI wünschen, dass sie mehr gute Predigten im Netz rezipiert – und nicht nur bei eher evangelikalen, jedenfalls radikal pädagogisierenden, autoritären und bevormundenden Predigten (primär aus dem englischsprachigen Bereich) in die Schule geht. Vielleicht versteht eine KI dann irgendwann sogar, was es heißen könnte, ein Bibelwort in der Gegenwart zu inszenieren und nicht auf platteste Weise zu ‚erklären‘ und im zweiten Schritt moralisch zu applizieren.
Phrasen- und schablonenhafte Sprache
Friedrich Niebergall hat vor gut 100 Jahren – in einem Paragraphen seiner Predigtlehre mit dem Titel „Vom Kirchenschlaf“ – die Wahrnehmung einer langweiligen Predigt auf den Punkt gebracht: „Es predigt.“[4] Und damit wären wir bei dem Eigentlichen, was der KI-Gottesdienst zeigte: Im Spiegel der phrasen- und schablonenhaften Sprache (und ihrer mechanischen Ausführung durch die Avatare) wurde klar, warum es Menschen als Liturg:innen braucht (in realer Präsenz, aber durchaus auch in audiovisueller bzw. digitaler Vermittlung!) – und warum eine depersonalisierte Liturgie und Predigt nicht funktionieren kann.
Worte zu Worthülsen, zu Lippenbekenntnissen.
Die Avatare trugen etwa die Worte der Bibel bei der Lesung in jeder Hinsicht verständnis- und emotionslos vor. Resonanz, wie Hartmut Rosa sie zurecht als Charakteristikum gelingender Kommunikation und als Sehnsucht von Menschen beschreibt, entsteht so nicht – im Gegenteil erlebte ich die Maschine als ‚repulsiv“, um erneut mit Rosa zu sprechen. Wenn Menschen kommunizieren, entsteht eine „Aura“ (Walter Benjamin), und Karsten Kopjar erkennt zurecht, dass ChatGPT als Liturg:in mehr vorgebe, als sie kann: „[…] es scheint mir eine Anmaßung, wenn eine Maschine uns ‚Brüder und Schwestern‘ nennt, vom gemeinsamen Glauben spricht oder einen Glauben bekennt, den sie nach konkreter Selbstaussage als ‚generativer vortrainierter Transformator‘ (GPT) nicht haben kann. So werden die Worte zu Worthülsen, zu Lippenbekenntnissen und die Rolle als Liturgin und Prediger zur Anmaßung.“[5]
Beten heißt nicht,
irgendwie ‚richtige‘ religiöse Texte zu produzieren.
Aber das Entscheidende im Blick auf liturgisch-homiletische Kommunikation liegt in der Frage, ob und wie der Glaube, besser: im Glauben kommuniziert wird. Paulus schreibt: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm 8,26). Beten heißt nicht, irgendwie ‚richtige‘ religiöse Texte zu produzieren und diese dann vorzulesen. Beten ist Einsatz und Risiko, bedeutet das Wagnis der Worte im Moment ihres Aussprechens – und manchmal vielleicht auch das Fehlen der Worte. Beten bedeutet, mit eigenen Zweifeln und Fragen umzugehen – und die Klagen und Fragen, die Hoffnung und das Vertrauen von Menschen zu artikulieren. Menschen merken sehr schnell und ganz zurecht, ob ein Gebet vorgelesen wird oder ob ein:e Liturg:in betet. Der Bielefelder Praktische Theologe Markus Schmidt formuliert pointiert: „Vorbeten kann nur, wer vorher betet.“ Und Thomas Hirsch-Hüffell beschreibt den besonderen Reiz liturgisch-homiletischer Kommunikation so, dass es darum gehe, einem Menschen beim „eigenen Glauben“ „zusehen [zu] dürfen“ und gerade jenseits der „richtigen Formeln“ etwas zu erfahren.[6]
Die Interaktion von Menschen
kann nicht überschätzt werden.
Jede Predigt lebt davon, dass die Worte, Bilder und Geschichten im Medium eines Menschen, der:die sich riskiert, verletzlich macht und sein:ihr Leben mit den Texten verbindet, heute lebendig werden. Irgendwelche Informationen über die alten Texte der Bibel lassen sich überall nachlesen. Große Worte, wie ChatGPT sie spricht, bleiben leer.
Und nicht zuletzt gibt es eine Dimension der Leiblichkeit, die in den vergangenen Jahrzehnten zurecht wieder entdeckt wurde und die wir bei aller digitaler Euphorie nicht wieder vergessen sollten. Körper sind nicht nur Sprachmaschinen, mit deren Hilfe Texte in Schallwellen verwandelt werden. Körper sprechen und Körper beten. Und die Interaktion von Menschen kann nicht überschätzt werden und lässt sich inkarnationstheologisch interpretieren: Das Fleisch gewordene Gotteswort Jesus Christus kommt leiblich neu zu Wort – ganz klassisch in der Sprache von Menschen, im Brot und Wein des Abendmahls, aber auch in liturgischen Gesten, in Tönen und Klängen, im gemeinsamen Schweigen etc. Insofern ist jedes Jauchzen eines Kindes, jedes Seufzen eines alten Menschen, jedes stammelnde Gebet mehr Gottesdienst als das, was am Kirchentagsfreitag in Fürth zu erleben war.
dankbar für jedes liturgisch-homiletische
Suchen und Stammeln.
Aber genau deshalb war das Nürnberger Experiment nicht vergeblich und hat hoffentlich nicht nur mir die Augen neu geöffnet für das, was an Sonn- und Feiertagen liturgisch und homiletisch geschieht, wenn Menschen miteinander beten, Liturg:innen nach Sprache suchen und Predigten im Klangraum der Bibel Persönliches sagen. Die KI zeigte, was Gottesdienste ‚schön‘ macht – übrigens gerade dann, wenn sie nicht perfekt sind. Ich bin dankbar für jedes liturgisch-homiletische Suchen und Stammeln, für jede gelungene Formulierung, die eine prosa-verflachte Welt für einen Moment durchbricht, für jedes leidenschaftliche Gebet, für jede gefüllte gemeinsame Stille, für jeden Segen, den ein Mensch mir zuspricht, für jede stimmige liturgische Geste, die zeigt, dass Menschen das tun, was sie immer neu nur versuchen, aber eben nicht machen können: auf Gott zu hören und mit ihm:ihr zu reden. Danke, ChatGPT, dass Du so ganz und gar kein:e Liturg:in bist und einfach nicht predigen kannst!
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Alexander Deeg, Dr. theol., ist seit 2011 Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig mit den Schwerpunkten Homiletik und Liturgik und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD.
Bild: imago Stock & People GmbH
[1] https://taz.de/Gottesdienst-durch-Kuenstliche-Intelligenz/!5939632/ [Zugriff vom 17.06.2023].
[2] https://www.tagesschau.de/inland/regional/bayern/br-erleichterung-ueber-gelungenen-kirchentag-in-nuernberg-106.html [Zugriff vom 16.06.2023].
[3] Die wesentlichen Links zu Presseartikeln und Wahrnehmungen versammelt Ralf Peter Reimann auf seiner Homepage: https://theonet.de/2023/06/12/deutschlands-erster-ki-gottesdienst-auf-dem-kirchentag-ein-faszinierendes-experiment-mit-zukunftsweisenden-fragen/ [Zugriff vom 16.06.2023].
[4] Friedrich Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen? Eine Untersuchung über Motive und Quietive, Göttingen 31909, 65.
[5] https://medientheologe.de/cms/?p=1188 [Zugriff vom 17.06.2023].
[6] Thomas Hirsch-Hüffell, Die Zukunft des Gottesdienstes ist jetzt. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2021, 176.