Seit 10 Jahren findet in Köln die weltweit größte Messe für elektronische Unterhaltung statt, die Gamescom. Michael Swiatkowski (Bochum) analysiert Eindrücke der Spielemesse. Denn digitale Lebenswelten sind auch für die Kirche interessant.
Letztes Jahr habe ich einem älteren Bekannten im pastoralen Dienst im Zuge eines Gesprächs über Jugendliche einen Besuch der Gamescom in Köln empfohlen. In diesem Jahr ist er meinem Rat gefolgt, und so konnten wir bereits nach dem ersten Messetag am Telefon seinen Besuch reflektieren. „Mir fehlt da anscheinend der Zugang, das hat mich alles total erdrückt, was wollen die Massen da und was soll ich damit überhaupt anfangen …?“, so die Quintessenz seines ziemlich aufgeregten Berichtes.
Als Konzentrationspunkt digitaler Lebenswelten auch für Kirche relevant.
Was war in Köln denn los? Die Games-Branche hat sich vom 21. bis 25. August in der Domstadt zum zehnten Mal zur weltweit größten Messe für interaktive Unterhaltung getroffen. Das Event hat sich inzwischen zum zentralen Treffpunkt der weltweiten Gamerszene entwickelt und ist mit vielen Begleitveranstaltungen und bis zu 400.000 überwiegend junger Besucher*innen für ein paar Tage der Konzentrationspunkt digitaler Lebenswelten – und damit auch für Kirche relevant.
Die Geschichten verweben dabei menschliche Bedürfnisse und spiegeln nicht selten die Probleme und Ängste der Gegenwart wider.
Spiele und interaktive Unterhaltung sind inzwischen ein zentraler Bestandteil der Alltagswelten von jungen Menschen. Sie erleben sie zuerst individuell. Die Spiele entfesseln Kreativität und Fantasie. Sie brechen Grenzen auf und können einen mit in utopische Welten nehmen, sie verarbeiten das Wissen und Erfahrungen von der Naturwissenschaft, gleich neben den Motiven aus Literatur, Kunst und Religion. Die Geschichten verweben dabei menschliche Bedürfnisse und spiegeln nicht selten die Probleme und Ängste der Gegenwart wider. Beindruckend ist dabei weniger die inzwischen enorme technologische Dimension der Projekte, sondern vor allem die Qualität und Kraft der Geschichten, die das identitätsstiftende Potenzial der Computerspiele fokussieren.
Motto „Du bist, was du spielst“.
Doch die Spiele sind heute auch nicht nur individuelle Erfahrungen. Das Zocken ist längst zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis geworden. In dem aktuellen Megaerfolg „Fortnite“ zum Beispiel werden Spielerinnen und Spieler ohne Ausrüstung auf einer Insel abgesetzt und müssen zusammen ihre Herausforderung bewältigen. Spiele sind so zu einem Medium geworden, über das man wirklich miteinander kommunizieren kann. Das tun immer mehr Menschen und verleihen über diesen Kanal ihre Persönlichkeit somit eine weitere Ausdrucksmöglichkeit. In immer mehr vor allem jugendlichen Lebenswelten gilt daher das Motto „Du bist, was du spielst“.
Trotz des hartnäckigen Vorurteils, Spiele sind gleich Ballerspiele, entwickelte sich ein breites Ökosystem, weit weg von waffenzentrierten Egoshootern. Rennspiele, Simulatoren oder Strategie und allerlei Aufbauspiele stellen in den Mittelpunkt eine Veränderung, kreative Problemlösung oder eine Neuerschaffung, statt einer bloßen Zerstörungskraft. Der Primus dieser Leitidee, das Spiel Minecraft, ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Das Wachstum des Marktes haben inzwischen nicht nur die Wirtschaftsverbände, sondern auch die Politik, die sich immer prominent auf der Gamescom zeigt, erkannt. Große Zukunft verspricht hier z.B. der E- Sport, also Zocken der Sportspiele. Dabei geht es nicht mehr um das Spielen in den vier Wänden oder streamen auf YouTube, sondern um eine neue Eventform, die Veranstaltungshallen füllt und regelrecht eine neue Milliardenbranche entstehen lässt. In immer mehr asiatischen Ländern werden die E-Sport Teams inzwischen genauso gefeiert wie die Fußballspieler hier zu Lande.
Vielfalt ist für die Games-Macher ein entscheidender Motor der künftigen Entwicklung.
Die ästhetische Prägung dieses Mediums spielt bei ihrem Erfolg zweifellos auch eine wichtige Rolle. Die meisten jugendkulturellen Phänomene von Street Art, Körperkunst über Mode bis zu den Festivals bilden auf diese Weise einen Ausdruck jugendlichen Lebensgefühls und gestalten so sinnliche Weltzugänge. Glück und Trauer werden dabei in einem ästhetisierten, für manche Beobachter vielleicht künstlichen Setting, genauso thematisiert wie Lust und Zorn. Dabei ist die Bewertung über die Kategorie der Schönheit zweitrangig. Die ließe sich in vielen Fällen absprechen, die enorm identitätsstiftende Kraft dieser Inszenierungen eher weniger. Für den zufälligen Besucher sieht die farbenfrohe Gamescom wie eine bunte Feier der Vielfalt aus. Dieser Eindruck ist durchaus intendiert. Vielfalt ist für die Games-Macher ein entscheidender Motor der künftigen Entwicklung und die Branche, für die Ideen das Rohmaterial sind, hat ihr Potenzial stets klar im Visier.
Lernen gekoppelt mit dem Spaßfaktor ist effektiver.
Es herrscht Aufbruchsstimmung. Dabei scheint es, dass jede Plattform und jedes Genre seine Nische gefunden haben. Sichtbare Verdrängungskämpfe sucht man in der Branche vergeblich, was nicht nur für die Spieler sicherlich eine gute Nachricht ist, sondern auch die Vielfalt der Branche befeuert. Der Fokus der Spielemacher erfasst aber auch Bereiche, die nicht primär mit Unterhaltung assoziiert werden. Stichwort Gamification – die Anwendung spieltypischer Elemente in einem spielfremden Kontext. Was wir schon lange wussten, hat inzwischen die Forschung ausgiebig untersucht. Das Lernen gekoppelt mit dem Spaßfaktor ist effektiver. Die Spielprozesse, die durch spielerische Aufmachung und mit Freude erfolgen, sind stärker und effizienter. Am besten sollen wir gar nicht merken, dass wir gerade etwas lernen, sondern die Aufgabe einfach genießen. Diese Erkenntnisse sind inzwischen vor allem im Bereich des E-Learnings bzw. des Blendend Learnings angekommen. Mit speziell entwickelten Spielen lernen inzwischen Mitarbeiter von Unternehmen wie Lufthansa oder IKEA. Die Gamification Logik geht hier inzwischen nicht selten einen Schritt weiter und auch als Kunde z.B. von IKEA kann man spielen und dabei einiges lernen, z.B. wie man seinen Wohnraum mit Produkten von Ikea viel besser gestalten könnte.
horchen, wo der Puls der Zeit schlägt
Es geht um den Alltag junger Menschen und damit für Kirche um eine Chance spannender Lernprozesse, einerseits hinsichtlich der Entwicklung jugendlicher Lebenswelten, anderseits aber auch dazu, wie diese vielfältige Zielgruppe heute adressiert wird. Auf der Messe jagen Unternehmen und gesellschaftliche Akteure der Gunst der jungen Besucher*innen nach und horchen, wo der Puls der Zeit schlägt.
Auch Kirche muss hier präsent sein. Sie kann dabei überraschen, denn die Besucher*innen erwarten nicht, dass sie hier Kirche begegnen: „Oh, die Kirche ist auch da und es geht um die Themen, die mich wirklich interessieren.“ Diese Erfahrung macht auf der Gamescom das Angebot der evangelischen Jugend. Sie organisiert schon das dritte Jahr in Folge einen Treffpunkt mit Kletterberg, Bungee-Run, Menschenkicker, sowie Chill-Ecke zum Relaxen. Auch die Caritas tastet sich mit einer interaktiven Schnitzeljagd auf das noch nicht ganz vertraute Terrain voran und erfreut sich eines großen Interesses der Besucher, wenn man auch noch ein wenig abseits des Hauptortes des Events platziert ist.
noch spürbare Zurückhaltung der kirchlichen Veranstalter
Nachvollziehbar ist aber die hier noch spürbare Zurückhaltung der kirchlichen Veranstalter, die nicht selten mit diffusen Ängsten gekoppelt ist. Von einem jugendpastoralen Anbieter bekommt man bei dem Hinweis, man müsste etwas bei der Gamescom machen und dort Präsenz zeigen, heute leider immer noch eher unwahrscheinlich Begeisterung gezeigt. Wie soll diese Begegnung klappen? Was sollen wir dort zeigen? Gehören wir da hin? Das sind eher die ersten Reaktionen, die dann zu hören sind. Positive Erfahrungen muss man ja aber bekannterweise erstmals machen. Ich selbst konnte sehr positive Erfahrungen in der Begegnung der Lebenswelten von Kirche und Computerspieler während des Projektes silentMOD in Köln machen. Eine multisensorische Inszenierung des Kölner Domes, die besonders junge Besucher während der Gamescom 2016 zu einem Nachtbesuch der Kirche einladen sollte und an drei Abenden etwa fünfzigtausend Besucher zählte. Die Rückmeldungen der Volunteers (Jugendseelsorger und Jugendliche), die während des ganzen Events den Besuchern als Gesprächspartner zur Verfügung standen, bestätigten meine Wahrnehmung und lassen sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Gehen sie auf die jungen Leute einen Schritt zu, und sie gehen zehn Schritte auf uns zu.
Jede Form der Präsenz in dieser Lebenswelt ausprobieren und wahrnehmen
In den digitalen Hotspots kommen also immer noch ganz analoge Begegnungsformate gut an. So lohnt es sich auf jeden Fall, wenn man noch ein wenig abseits des Hauptortes des Events platziert wird, jede Form der Präsenz in dieser Lebenswelt auszuprobieren und wahrzunehmen. Ein Besuch der Gamescom ist auch ein erster Schritt und vielleicht wäre ein verpflichtender Termin bei der Messe für alle, die im jugendpastoralen Bereich tätig sind, auch nicht die schlechteste Idee. Und wenn die Aufmachung und die Dimension einen ein wenig einschüchtert, sollte man nicht vergessen, dass Feste als Treffen mit „Event-Charakter“ ja schließlich auch zur biblischen, jüdisch-christlichen Tradition gehören. Und vielleicht mischt die Kirche demnächst mal selbst mit. Einen Event, der die Erwartungen der jugendlichen Zielgruppen auch in Punkto Inszenierung erfüllt, das könnte sich die Kirche als Organisation auf jeden Fall noch leisten.
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Autor: Michael Swiatkowski, Kommunikationswissenschaftler und Theologe. Arbeitet am Zentrum für angewandte Pastoralforschung der Ruhr-Universität Bochum. Forscht zu Themen der digitalen Kommunikation und Kampagnenfähigkeit der kirchlichen Organisationen.
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