Ursula Oehy Bubel, freiberufliche Dozentin und Kommunikationstrainerin, ist Mitarbeiterin im Projekt „Stärkung der Gastfreundschaft in der Zentralschweiz“.
2015 war das Jahr der Gastfreundschaft in der Zentralschweiz. Man feierte rund um den Vierwaldstädtersee das „Gästival“: ein Fest zu Ehren der 200-jährigen Tourismusgeschichte. Angehängt an das „Gästival“ war ein interdisziplinäres Projekt der Hochschule Luzern, welches sich diversen Fragen der touristischen Gastfreundschaft 1 widmete.
Es ging also nicht nur darum, die Geschichte zu ehren, sondern auch einen Diskurs über die ge- und erlebte Gastfreundschaft in der Region zu führen. Und dies mit dem Anspruch, konkrete Erkenntnisse für die touristischen Praktiker abzuleiten. Man suchte in dieser bergigen Region im Herzen der Schweiz förmlich die Gratwanderung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und praktischem Alltag.
Nun, das Gästival ist Geschichte, die Erkenntnisse des Projektes sind jedoch auf einer Homepage erfasst und können und sollen in die Zukunft weiterwirken. In der Folge möchte ich Ihnen einige Aspekte daraus vorstellen:
Erinnern Sie sich, wie die Hotel- und Tourismusindustrie entstand?
Alles begann mit Handelsreisenden und Pilgern, die auf der Suche nach Unterkunft oder Essen bei fremden Türen anklopften. Damals wurde ihnen ihr Wunsch auch ohne Entgelt erfüllt, heute jedoch haben wir es mit einem globalisierten und milliardenschweren Wirtschaftszweig zu tun. Es gilt also als erstes zwischen einer traditionellen Gastfreundschaft, die in der Kultur eines Volkes verankert ist, und einer professionellen Gastfreundschaft, wie sie in touristischen Unternehmen gelebt wird, zu unterscheiden. In den diversen Workshops und Gesprächen, die mit Mitarbeitern und Führungskräften im Tourismus geführt wurden, galt Gastfreundschaft unbestritten als Voraussetzung für einen gelingenden Tourismus. Und dennoch schimmerte hie und da die Erkenntnis durch, dass man auf der Suche nach ebendieser Tugend bei sich selbst und bei anderen an Grenzen stieß. Wo liegen die Ursachen dafür?
‚Gastfreundschaft‘ ist eine Kombination von zwei Gegensätzen
Geht man dem Begriff genauer auf die Spur, zeigt sich Erstaunliches: Der Begriff „Gast“ geht auf das indoeuropäische „ghostis“ zurück, was „Fremdling“ bedeutet und unter anderem auch in der Bedeutung von „Feind, feindlicher Krieger“ verwendet wurde. Ursprünglich finden wir hier also die Bezeichnung eines Menschen, dem man kritisch und abwehrend gegenüberstand, der eine Bedrohung darstellte. Der Begriff „Freund“ hingegen hat die alte Bedeutung von „Blutsverwandter“ oder „Stammesgenosse“. Damit wird jemand bezeichnet, der einem sehr nahe steht. Der Begriff „Gastfreundschaft“ ist also streng genommen eine Kombination von zwei Gegensätzen: das Fremde und das Verwandte. Warum wohl wurden diese Begriffe miteinander verbunden? Es scheint, als sei es Ausdruck eines Bestrebens, eines kulturellen Aktes, sich bewusst darin zu üben, dem Fremden wie einem Verwandten zu begegnen. Diesem Anspruch und der Überwindung dieses überaus deutlichen Paradoxons hat sich die Tourismusindustrie jeden Tag von Neuem zu stellen. Es ist nichts Banales, sondern ein Widerspruch, dem man bewusst und reflektiert begegnen muss.
Das bringt uns zu einem extremen Beispiel: In der Schweiz wird viel unternommen, um die Gäste aus den Golfstaaten zu gewinnen. Sie bleiben länger und geben in ihrem Urlaub mit durchschnittlich 500 Franken pro Tag auch mehr aus als andere. Ein bekanntes Warenhaus an der Zürcher Bahnhofstrasse hat speziell für muslimische Kunden einen Gebetsraum eingerichtet. Damit können die gläubigen Kunden die Zeiten für die vorgeschriebenen Gebete einhalten, ohne dafür extra ins Hotel zurückzukehren. Fast zur gleichen Zeit, im selben Land, spielen sich Szenen ab, die andersartiger kaum sein könnten: Das Tessin verbietet die Burka im öffentlichen Raum und das Thema „Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen“ beschäftigt die Parteien und Bevölkerungen diverser Schweizer Gemeinden. Was ist hier los? Die Einstellungen sind widersprüchlich.
Vorder- und Hinterbühne
Dieses Nebeneinander an Meinungen im Umgang mit fremden Kulturen – hier nur beispielhaft am arabischen Tourismus erklärt, ist ein spannendes Phänomen. Um es zu verstehen, hilft das Bild eines Theaters, das der Soziologe Erving Goffman beschrieben hat. Er unterscheidet in seinem Modell eine Vorder- und eine Hinterbühne. Die touristische Begegnung spielt sich vorne, abgetrennt von der Hinterbühne ab und gehorcht durchaus eigenen Regeln. Die Anbieter touristischer Leistungen richten sich nach den (antizipierten) Erwartungen ihres Publikums (der Gäste). Es scheint problemlos möglich, auf das Gegenüber zuzugehen, denn als Gegenleistung wird ja ein Eintrittspreis bezahlt. So ist man in der Schweiz wie auch anderswo um des finanziellen Einkommens willen gerne bereit, vielfältige Dienstleistungen anzubieten, man gibt sich offen und entgegenkommend. Doch das Schauspiel auf der Bühne ist nicht das Leben. Abseits des Tourismus, hinter dem geschlossenen Theatervorhang, zeigt sich die wahre Alltagswelt, ein privater, zum Teil verschlossener und vor Außeneinflüssen beschützter Kreis. Hier können die Masken fallen und man kann vom Drehbuch abweichen. Mischt man jedoch Vorder- und Hinterbühne führt dies zu Irritation und Unbehagen.
„Normal“ würde wohl der verstorbene spanische Philosoph George Santayana sagen: „Lebende Wesen, die der Luft ausgesetzt sind, brauchen eine Schutzhaut, und niemand wirft es der Haut vor, dass sie nicht das Herz ist.“ Folgt man seinem Vergleich, kann man es den touristischen Anbietern nicht verübeln, wenn sie sich auf einer oberflächlichen Dienstleistungsebene bewegen. Und gilt dies nicht auch für die Gäste?
Haus der Gastfreundschaft
Wenn Sie bis hierhin mitgelesen haben, erkennen Sie, welches interessante Feld sich hier eröffnet. Sie erahnen, dass man anhand dieses Beispiels sehr gut über „die Haut“ und über „das Herz“, resp. Grenzen der Gastfreundschaft diskutieren und anknüpfend Lösungen finden kann, die für Gast und Gastgeber befriedigend sind. Genau das taten wir im Projektteam und in zahlreichen Workshops mit Touristikern. Zudem gibt es eine Vielzahl weiterer persönlicher, unternehmerischer und gesellschaftlicher Aspekte von Gastfreundschaft. Diese wurden zu einem Modell, dem „Haus der Gastfreundschaft“, zusammengefasst, das Sie auf der obengenannten Homepage downloaden können.
Mystery Checks und Customer Journeys
Und nun versetzen Sie sich bitte in die Lage eines Hotelangestellten, der sich mit Müh und Not zwei Stunden für einen Gastfreundschafts-Workshop freischaufeln konnte: Er möchte Erkenntnisse hören, Tools, die er im Alltag sinnvoll anwenden kann. Für ihn und alle jene, denen es wie ihm geht, finden sich auf der Homepage unter anderem Hinweise und Präsentationen zu gelingender Sprache, zum Umgang mit Feedback auf Bewertungsplattformen, Vorlagen für Mystery Checks und Customer Journeys, Informationen zu interkulturellen Besonderheiten und eine Sammlung an positiven Gastfreundschafts-Erlebnissen.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Stöbern und bei Ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Aspekten, bei anderen und bei sich selbst!
Text: Ursula Oehy Bubel
- Im Wissen, dass das Wort „Atlas“ für einen Geografen und einen Physiotherapeuten eine andere Bedeutung hat, erwähne ich hier bewusst, dass im Projekt ausschliesslich die touristische Gastfreundschaft beleuchtet wurde, und möchte vor vorschnellen Übertragungen in andere Fachgebiete warnen. ↩