Stefan Burtscher ist Seelsorger in Köln. Und er hat einiges zu erzählen – Geschichten vom Leben auf der Straße und auch davon, was das Zweite Vatikanum damit zu tun hat.
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger:innen Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“ (Gaudium et spes 1). Kaum ein Textabschnitt aus dem II. Vatikanum ist so relevant und programmatisch für eine Kirche im Sinne Christi wie dieser aus der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“. Viel zitiert, mancherorts mit Leben gefüllt, andernorts als Störung des kirchlichen Betriebs empfunden, bald 60 Jahre alt und doch unglaublich aktuell, ist die Wahrhaftigkeit dieser Zeilen für mich Tag für Tag erfahrbar.
Kirche für Menschen auf dem Weg
Das erste Mal gehört habe ich diesen Satz im ersten Semester an der Universität. Vieles haben wir Studierende über diesen Satz erfahren: wie er im Gesamtzusammenhang des Konzils zu verorten ist, wie die Konzilsväter um jedes Wort gerungen haben, welche pastoralen Konzepte sich auf diesen Satz beziehen und wie sehr dieser Satz Fundament einer modernen jesuanischen Kirche ist. Die Klarheit der Formulierung und die Tiefe der gewählten Worte haben mir schon im Studium imponiert – richtig verstanden habe ich den Satz aber erst mit Beginn meiner Arbeit als Seelsorger für obdachlose und wohnungslose Menschen in Köln. Seit über zwei Jahren arbeite ich nun in „GUBBIO – der Kirche für Menschen auf dem Weg“ und auf den Straßen Kölns als Seelsorger. In den folgenden Zeilen lade ich Sie ein, mitzukommen in eine andere Welt mitten in Köln. Eine Welt, die dabei helfen kann, theologische Theorie besser zu verstehen und immer wieder aufs Neue Fragen ans Leben und an den Glauben stellt.
Offene Ohren
Seit den 1990er Jahren gibt es ein seelsorgerisches Angebot für obdachlose Menschen in Köln. Seit 2004 auch mit eigenen Räumlichkeiten und einer eigenen Kirche. An zwei Nachmittagen in der Woche öffnet Gubbio – benannt nach der franziskanischen Legende vom Wolf von Gubbio – die Türen. Bis zu 50 Gäste werden von zwei haupt- und mehreren ehrenamtlichen Mitarbeitenden empfangen. Zu Beginn der Nachmittage liegt der Fokus auf dem leiblichen Wohl der Gäste. Bei Kaffee, Tee, belegten Broten und Kuchen können die Gäste einfach nur da sein und eine Unterbrechung von den Strapazen des Alltags erleben. Dabei stoßen sie auf offene Ohren für ihre vielschichtigen Probleme und so manch ganz konkretes Anliegen. Insbesondere in den Wintermonaten ist die Nachfrage nach Zelten, Isomatten, trockenen Schuhen und warmen Socken hoch. Aber auch im Sommer wird die Frage nach einem warmen und vor allem sicheren Schlafplatz häufig gestellt. Jedoch steckt sehr oft hinter einer materiellen Frage ein tiefergehendes Problem oder eine spirituelle Frage nach der Ursache des eigenen Leids und nach dem Sinn eines Lebens am Rand und außerhalb der Gesellschaft.[i]
Quelle der Hoffnung im Leben
Diese Fragen kommen auch beim wöchentlichen Bibelteilen zum jeweiligen Sonntagsevangelium, beim monatlichen Glaubensgespräch und in den regelmäßig sehr lebendig gefeierten Gottesdiensten zur Sprache. Dabei ist es immer wieder berührend, miterleben zu dürfen, mit welcher Offenheit und Aufrichtigkeit der Frage nachgegangen wird, was die Texte des Evangeliums mit dem Alltag und der Lebensrealität der Teilnehmenden zu tun haben und mit welcher innerlichen Aufmerksamkeit über die Geheimnisse des Glaubens nachgedacht wird. Besonders faszinierend ist, welch große Rolle der Glaube als Fundament des Lebens und Quelle der Hoffnung im Leben vieler Gäste spielt.
Ein bisschen Glanz
Es gibt Gäste, die das GUBBIO schon seit vielen Jahren regelmäßig besuchen, einige sind sporadisch ein paar Mal zu Gast, bevor sie die Wirren des Lebens wieder wegführen, manche kommen nach einigen Wochen Pause wieder, andere nicht. Die Gruppe von Menschen, die in GUBBIO versucht, das Leben und den Glauben miteinander zu teilen, kann als Personalgemeinde verstanden werden. Sie feiert zusammen, wenn es etwas zu feiern gibt, trauert, wenn jemand aus der Welt der Straße verstirbt und auf dem eigenen Gräberfeld zu Grabe getragen wird, und versucht sich gegenseitig dort zu helfen, wo Hilfe möglich ist. Die daraus entstehenden Beziehungen untereinander schaffen Vertrauen. Sehr intensiv ist dies zu erfahren, wenn eine Gruppe aus GUBBIO etwa einmal im Jahr in gemeinsamen Exerzitien auf Spurensuche nach Zeichen der Gegenwart, des Wirkens und der Liebe Gottes im eigenen Leben geht. In diesen Zeiten des Miteinanders besteht aber auch viel Zeit und Raum für Freuden und Hoffnungen, Trauer und Ängste der Menschen. Ähnlich verhält es sich bei regelmäßigen gemeinsamen Pilgerfahrten, Wanderungen und Ausflügen, die eine Unterbrechung des alltäglichen Trotts und ein bisschen Glanz[ii] ins Leben der Menschen bringen.
Aufsuchende Seelsorgende
Neben den Angeboten, die in der Kirche von GUBBIO stattfinden, ist es uns Seelsorgenden ein großes Anliegen, als aufsuchende Seelsorgende auf den Straßen und Plätzen Kölns unterwegs zu sein. Wir wollen Gast in den Lebensrealitäten der obdachlosen und wohnungslosen Menschen sein. Dabei erfahren wir, wie Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen aussehen, sich anfühlen und auch riechen. An verschiedenen Hotspots in der Kölner Innenstadt sind wir präsent und begegnen den Menschen mit offenen Ohren und offenem Herzen. Oft sind die Probleme der Menschen jedoch so vielschichtig und gravierend, dass sie nicht einfach gelöst und kaum gemindert werden können.
Nicht über die Köpfe der Menschen hinweg
Dennoch versuchen wir mit unserem Dasein und gelegentlich einem Kaffee als Eintrittskarte in ein Gespräch, den Menschen einen geschützten Raum zu eröffnen. Dadurch haben die Menschen, denen wir begegnen, eine Gelegenheit, ihre Alltagssorgen und ihre Geschichten mit allen Facetten des Lebens, zumindest für den Moment, loszuwerden. Bedeutende Orientierungspunkte für das eigenen Handeln und gleichzeitig Garantie dafür, dass die angebotene Hilfe auf Augenhöhe und nicht über die Köpfe der Menschen hinweg und an deren tatsächlichen Bedürfnissen vorbei geschieht, sind dabei sowohl die jesuanische Frage: „Was willst du, dass ich dir tue?“ (Lk 18,41), als auch das Riechen und teilweise das Annehmen des Stallgeruchs der Schafe[iii].
Ständiger Balanceakt
Diese Begegnungen auf neutralem, manchmal heiligem Boden[iv], in der ungeschönten, oftmals einfach nur brutalen Realität, sind ein ständiger Balanceakt entlang einer unsichtbaren und doch für jede*n sichtbaren Grenze[v] zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Einer Welt innerhalb der Gesellschaft und einer Welt außerhalb der Gesellschaft. Dieser Balanceakt ist für den persönlichen Glauben, aber auch für die Kirche und die Theologie, eine fruchtbare Herausforderung und eine unauflösbare Dissonanz zugleich. Der Blick in die Realität von den heutigen Aussätzigen, die sich nach Heilung, Achtung und einem Platz in der Gesellschaft sehnen (vgl. Lk 5,12–16) und von den heutigen Stummen, die sich danach sehnen, dass ihre Schreie von jemandem gehört werden (vgl. Lk 11,14-16), lässt vieles, was in Theologie und Kirche diskutiert wird, nebensächlich erscheinen. Die Auseinandersetzung mit der brüchigen Realität am Rand und außerhalb der Gesellschaft ermöglicht es aber auch, neue Perspektiven auf kirchliche Lehre und theologische Überlegungen einzunehmen.
Nicht ganz so einfach zu beantworten
Der Begriff der Kontingenz – einer möglichen Wirklichkeit – des Lebens ist beispielsweise ein spannender und vor allem das theologische Arbeiten bereichernder Begriff. Ein Blick in die Realität auf der Straße – auf wirklich gewordene Möglichkeiten –, wo Leben mehr Überleben ist, macht die Ausmaße dieser Überlegungen aber erst deutlich und führt automatisch zur Frage nach dem Ursprung des Leids. In den Hörsälen der Universitäten lässt sich vieles über die Theodizee-Frage sowie deren Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit diskutieren. Die Lebensrealitäten und Geschichten von Menschen auf der Straße zeigen jedoch, dass die Frage nach dem Ursprung von personalisiertem Leid nicht ganz so einfach zu beantworten ist und die Verzweiflung, die diese Frage oftmals mit sich bringt, nur zu gut zu verstehen ist.
Ort theologischer Erkenntnis
Dieses individuelle „Sich-Aussetzen“ sowie die persönliche Auseinandersetzung mit der vor Augen geführten Zerbrechlichkeit und den erfahrenen Brüchen im Leben, ist für mich zu einem wichtigen Ort theologischer Erkenntnis und zugleich zum Gradmesser, an dem das Handeln der Kirche als Ganzes hinsichtlich ihrer jesuanischen DNA bewertet werden kann, geworden. In zahlreichen Vorlesungen zur Christologie klang es schön und erbaulich, als wir von der transformativen Kraft von Ostern gehört haben. Wir haben erfahren, dass die österliche Botschaft jene ist, dass Gott auf die Spirale der menschlichen Gewalt, Ausgrenzung und deren Gipfel im Tod Christi mit Frieden und Liebe antwortet. Doch ganzheitlich verstanden habe ich diese Botschaft erst, als ich sie aus dem Leben einer einfachen Frau erfahren habe.
Ich bin nicht mehr nur Opfer
Im Alter von sieben Jahren wurde sie zum ersten Mal von ihrem eigenen Großvater vergewaltigt. Ihre Mutter glaubte ihr nicht und hat sie immer wieder zu ihm gebracht. 50 Jahre später sitzt sie neben mir und sagt: „Meinen Hass bekommen sie nicht. Ich mache in der Spirale von Gewalt und Hass nicht mit. Sie haben vieles in meinem Leben zerstört, aber ich habe gelernt, sie nicht mehr zu hassen. Seitdem kann ich wieder leben, ich bin nicht mehr nur Opfer, ich lebe mein Leben.“ Die Frau weiß es nicht, aber sie hat mir dabei geholfen, das Geheimnis von Ostern besser zu verstehen.
Erfahrung in Taizé
Von einer anderen Frau habe ich erfahren, wie tragend eine Einladung im Sinne Jesu „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen!“ (Mt 11,28) sein kann. Mitten in der Stadt am Boden sitzend, haben wir lange miteinander gesprochen. „Ich war vor 20 Jahren mal in Taizé“, hat sie dabei gesagt. „Dort habe ich zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass ich so wie ich bin angenommen – ja geliebt bin. Mit all meinen Problemen und Schwierigkeiten.“ Probleme und Schwierigkeiten hatte sie damals schon genug. Sie war drogenabhängig und landete schließlich auf der Straße und war über 15 Jahre heroinsüchtig. Im Gespräch hat sie mir erzählt, dass diese Erfahrung in Taizé – die Erfahrung, geliebt zu sein, und die Erinnerung daran ihr Fundament und ihr Antrieb dafür war, all die Jahre durchzuhalten. Inzwischen hat sie es herausgeschafft. Heraus aus dem Leben auf der Straße und aus dem Kreislauf, der doch nur eine Einbahnstraße in Richtung des nächsten Schusses war. Sie lebt nun in einer kleinen Wohnung, hat eine bezaubernde kleine Tochter, die ihr Ein und Alles ist, und versucht ihr Leben in geordneten Bahnen zu halten.
Nicht klar, wer wessen Kreuz trägt
Über das Miteinander von Simon von Cyrene und Jesus unter dem Kreuz habe ich vieles von einem obdachlosen Mann gelernt. Eines Tages haben sich unsere Lebenswege am Kölner Bahnhof gekreuzt. Er – schwer suchtkrank, ohne Papiere, ohne Zuversicht und ohne Zukunft. Ich – frisch von der Uni und mit entsprechend wenig Ahnung vom wirklichen Leben. Wir haben uns oft zwischen Bahnhof und Kölner Dom getroffen. Ich habe ihn zum Amt begleitet, ihm ein Platz in einer Entgiftung und Therapie organisiert, ihn im Krankenhaus besucht, als er im Winter beinahe verstorben wäre und dabei ganz viel über sein Leben, seine Freude und Hoffnung, Trauer und Ängste erfahren. Bei alledem ging es mir zwischenzeitlich so, wie Simon von Cyrene auf dem Bild von Sieger Köder, auf dem nicht klar ist, wer wen und wessen Kreuz trägt – auf dem Fremde zu Brüdern werden.
Besonderes Weihnachtsfest
Dass Gottes Liebe nicht nur vor 2000 Jahren in einem einfachen Stall in Bethlehem Mensch geworden ist, sondern, dass diese Liebe auch in unserer Zeit immer wieder im menschlichen Miteinander erfahrbar ist, war für mich an einem besonderen Weihnachtsfest inmitten von Lockdown und „social distancing“ erfahrbar. Nach einem festlichen Gottesdienst mit 80 Besuchern und einem anschließenden Weihnachtsmahl und Geschenken an alle Anwesenden, haben knapp 20 Gäste in unserer Kirche übernachtet. Für manche nichts Neues – sind sie doch Stammgäste im „Nachtcafé“[vi]– waren es doch an diesem Heiligen Abend mehr Gäste als üblich. Unter ihnen waren auch zwei Männer, die gemeinsam Platte machen. Beide trinken, ihre Körper sind krank, sie leben ein bewegtes Leben, der eine kann nicht ohne den anderen. Der jüngere der beiden kann seit Jahren kaum mehr in geschlossenen Räumen schlafen, und trotzdem bleibt er dem anderen zuliebe auch über Nacht.
Reich beschenkt
Ich schlief irgendwo zwischen Altar und Weihnachtsbaum und blickte in der Nacht immer wieder in den Kirchenraum hinein, in dem die Gäste eine warme und sichere Nacht verbrachten, lauthals schnarchten und der Stallgeruch der Schafe den Duft des Weihrauchs verdrängte. Einer machte in dieser Nacht kein Auge zu. Wie die Hirten auf dem Feld wachte er über seinen Freund. Er saß die ganze Nacht auf einem Stuhl neben ihm – nur für die eine oder andere Zigarettenpause unterbrach er seine Nachtwache. Schon am Abend zuvor hatte er uns reich beschenkt. „Hier, ich habe eine Bibel für euch mitgebracht. Ihr könnt sie sicher besser brauchen – ich kann ohnehin nicht lesen.“ In dieser weihnachtlichen Nacht habe ich ein bisschen besser verstanden, was es bedeutet, wenn Jesus uns aufträgt, einander zu lieben (vgl. Joh 15,12).
Es lohnt sich also für den persönlichen Glauben, aber auch für die Kirche und für die Theologie, sich selbst verwundbar zu machen und sich den Wunden der Welt auszusetzen.
Es lohnt sich also, mit theologischem Diskursarchiv im Rucksack, hinaus in die Welt zu gehen, sich der Ungewissheit des Lebens zu stellen und die Kontrolle über das, was bzw. wer einem begegnet, zumindest ein Stück weit abzugeben.
Es lohnt sich also, die gemachten Erfahrungen den theologischen Theorien und der Lehre der Kirche abduktiv[vii] gegenüberzustellen und so Neues über die Welt, über den Glauben, über sich selbst und über Gott zu erfahren.
Es lohnt sich also das, was man aus Vorlesungen, Büchern, Konzilstexten oder auch aus der Bibel lernt, einem Realitätscheck zu unterziehen und schöne Worte mit persönlichen, bildhaften und manchmal auch riechenden Erfahrungen zu untermauern.
Stefan Burtscher ist Pastoralassistent in Köln.
[i] Mehr Informationen auf www.gubbio.de.
[ii] Vgl. Domin, Hilde, Die Heiligen, in: Nur eine Rose als Stütze: Gedichte, Frankfurt am Main: Fischer, 1994 „Wir essen Brot und leben vom Glanz“.
[iii] Vgl. Elbs, Benno, Im Stallgeruch der Schafe, Graz: Styria Premium 2014.
[iv] Vgl. https://www.feinschwarz.net/wenn-strasse-heiliger-boden-wird/.
[v] Vgl. Luther, Henning Religion und Alltag, Radius Verlag 1992, S. 48 ff.
[vi] Das Nachtcafé ist ein niederschwelliges Übernachtungsangebot für obdachlose Menschen, das von verschiedenen Kirchengemeinden in Köln zwischen November und März einen warmen und sicheren Schlafplatz in Gemeinderäume, Kirchen o.ä. ermöglicht.
[vii] Vgl. Bauer, Christian, Denken in Konstellationen? Pastoraltheologie als kontrastiver Mischdiskurs. https://www.uibk.ac.at/praktheol/mitarbeiter/bauer/statement-wissenschaftstheorie-ch–bauer.pdf.