Anlässlich des „Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs“ zeigt Hannah Ziegler auf, dass die römisch-katholische Kirche nach wie vor weder traumasensibel noch zur Umkehr bereit ist.
Am 18. November findet der „Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs“ der Deutschen Bischofskonferenz statt. Eine merkwürdige Veranstaltung: Da betet die Täterinstitution für die Opfer. Die Strukturen aber, die sexuelle Gewalt ermöglicht haben, bleiben bestehen. Entschädigung, also wenigstens der Ausgleich der materiellen Schäden, wird verweigert. In den Fürbitten wird Gott um manches gebeten, was diese Kirche Überlebenden vorenthält.[1] Für Menschen, die – wie ich – sexuelle Gewalt gemeinsam mit spirituellem Missbrauch erlebt haben, ist es schon schwer genug, überhaupt Spiritualität zu erleben. Solange weiterhin Frauen und queeren Menschen ihre Berufung abgesprochen wird, ist es nicht möglich, von einer Seelsorge zu sprechen, die sich am Bedarf von Betroffenen orientiert. Es waren die Bischöfe, die beim Synodalen Weg verhindert haben, dass Menschenrechte wenigstens eingefordert wurden, ganz zu schweigen von ihrer Durchsetzung. Dabei wurde diese Versammlung als Reaktion auf sexuelle Gewalt in der römisch-katholischen Kirche ins Leben gerufen. Gebet statt Gerechtigkeit entleert die gesprochenen Worte – und all dies kann eine (weitere) spirituelle Verletzung von Überlebenden sein.
Gebet statt Gerechtigkeit
Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, werden durch eine solche Veranstaltung schnell zu den ‚Anderen‘, die nicht zu dieser Kirche gehören, sondern irgendwo außerhalb verortet werden. An so vielen Veranstaltungen und Orten werden sie nicht mitgedacht, gar durch Sprache ausgeschlossen. Da werden Lieder eines Vergewaltigers gesungen, fromme Zitate von Tätern finden sich in Bildungshäusern und auf Postkarten. Die Vergebung von Sünde dominiert in Gottesdiensten und damit ein auf Täter:innen zentriertes Konzept – obwohl die Bibel oft genug davon erzählt, dass Gott gerade Gewalt nicht vergibt.[2] Geistliche leiten Gebete und Gottesdienste, ohne die Vielfalt der Gemeinde und auch von Betroffenen widerzuspiegeln: weiblich, nonbinär, männlich und manches mehr, trans und cis, in einer Partnerschaft oder Ehe mit Menschen des gleichen oder auch eines anderen Geschlechts, in ihrer ersten oder einer neu geschenkten Ehe, in einer Ordens-, Lebens- oder Wohngemeinschaft, mit und ohne (eigene) Kinder, auf der Suche nach einer anderen Lebensform als der gegenwärtigen, Single aus Überzeugung oder weil Gewalt andere Möglichkeiten zerstört hat.
Da werden Lieder eines Vergewaltigers gesungen, fromme Zitate von Tätern finden sich in Bildungshäusern und auf Postkarten.
Kirche muss für alle Menschen ein sicherer Raum sein, besonders für Betroffene. Dafür braucht es Kontrolle von Macht und verbindliche Mitbestimmung. Liturgie darf die Strukturen, die sexuelle Gewalt ermöglicht haben, nicht durch die Vorsteher:innen, durch Sprache und Inszenierung fortsetzen. Papst Franziskus hat zwar beim Weltjugendtag in Lissabon behauptet, dass alle in dieser Kirche einen Platz haben. Das stimmt aber nicht. Menschen können ihr Leben, ihre Liebe und ihre Berufung nicht frei leben. Heilung ist für Überlebende sexueller Gewalt in dieser Kirche nicht möglich. Anders als etwa die Church of England[3] hat die römisch-katholische Kirche noch nicht mal den Anspruch, ein sicherer Ort für Menschen zu sein, die sexuelle Gewalt überlebt haben. Sie ist und bleibt damit auf Täter:innen zentriert und auf sich selbst fixiert. Überlebende sexueller Gewalt haben keinen Platz in der römisch-katholischen Kirche. Es gibt keinen Ort, wo sie dauerhaft lebendig und sicher ihren Glauben leben können – höchstens Nischen, immer prekär und gefährdet. Überlebende bedrohen diese Strukturen. Schon durch ihre bloße Existenz verkörpern sie, wohin die Machtstrukturen und die offizielle Lehre der römisch-katholischen Kirche führen.
Überlebende sexueller Gewalt haben keinen Platz in der römisch-katholischen Kirche.
Diese Kirche versagt in ihrem Kern. Wenn eine Kirche sich schwertut mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, mit moderner Kunst und Musik, dann lässt sich argumentieren, dass ja bei Kirche(n) etwas anderes im Mittelpunkt steht: Kirche möchte die Frage nach Gott wachhalten und in der Gesellschaft für Werte einstehen. Sie will die Barmherzigkeit und Liebe Gottes verkünden, indem sie Menschen in Not in den Blick nimmt und seelsorgerlich begleitet. Doch in all dem versagt die römisch-katholische Kirche, wenn es um Überlebende sexueller Gewalt geht. Die Bischöfe betonen zwar, auf der Seite der Betroffenen zu stehen und notwendige Veränderungen anzugehen (und manchmal scheinen sie es sogar selbst zu glauben). Damit sagen sie lediglich das, was Mitglieder der römisch-katholischen Kirche hören möchten, um das Bleiben in ihrer Kirche noch vor sich selbst rechtfertigen zu können. Und: Das, was die Bischöfe sagen, stimmt schlicht nicht. Überlebende sexueller Gewalt erleben es ganz anderes – nicht nur in den (Erz-)Bistümern, bei denen es offensichtlich ist! Denn es hat sich nichts grundlegend geändert. Nach wie vor stehen die eigene Institution und ihr Machterhalt im Vordergrund. Überlebende werden ignoriert und abgewehrt, ihnen wird mit Misstrauen begegnet. Die Kommunikation und das Handeln sind unprofessionell und nicht traumasensibel. Betroffene erhalten zum Teil so widersprüchliche Informationen, dass dies den Schluss nahelegt, dass sie angelogen werden. Von Menschlichkeit und echtem Interesse, gar von seelsorgerlicher Kompetenz ist nichts zu spüren.
Die Kommunikation und das Handeln sind unprofessionell und nicht traumasensibel.
Eine wirksame Prävention bestünde nur dann, wenn diejenigen, die von der sexuellen Gewalt berichten, die sie erlebt haben, nicht früher oder später ihre kirchliche Heimat verlieren – während die Täter:innen unbehelligt bleiben und besonders Kleriker oft bis an ihr Lebensende gut bezahlt werden. Mit dem Peterspfennig wird jedes Jahr in allen Pfarreien Geld für den Vatikan gesammelt, eine Kollekte für Betroffene gibt es dagegen nicht. Meldepflichten verletzen das Seelsorgegeheimnis gegenüber Betroffenen, während bei der Suche nach klerikalen Tätern plötzlich auf den Datenschutz verwiesen wird. Die römisch-katholische Kirche bleibt also Täterorganisation, denn sie verweigert den Perspektivwechsel, die grundlegende Umkehr, wohl auch im Wissen um die Konsequenzen. Die Logik dieser Kirche ist nicht mit der Perspektive von Betroffenen vereinbar. Denn wenn sexuelle Gewalt und die Folgen davon wirklich ernst und als Ausgangspunkt genommen werden, welche Theologie, Spiritualität, Liturgie und Organisationsform erweist sich dann noch als tragfähig?
Die römisch-katholische Kirche bleibt also Täterorganisation, denn sie verweigert den Perspektivwechsel.
Wer Mitglied einer Organisation ist, ist damit für ihr Handeln mitverantwortlich. Was bedeutet das für die Menschen, die immer noch Mitglieder dieser Kirche sind? Durch die fehlende Mitbestimmung haben sie eigentlich nur zwei Optionen: bleiben oder gehen. Kirche umfasst eine große Vielfalt an Konfessionen, die römisch-katholische Kirche ist nur eine davon. Wer in ihr für Veränderung kämpft, versucht nach wie vor, diese Konfession zu retten. Es mag (gute und weniger gute) Gründe geben, warum Menschen (noch) Mitglied in der römisch-katholischen Kirche sind. Dennoch die Fragen: Wie soll in und von dieser Kirche Gott verkündet werden? Warum ist die Loyalität zu dieser Kirche wichtiger als die Solidarität mit Menschen, die durch sie sexuelle Gewalt erlebt haben? Warum nehmen Menschen für ihre eigene Religiosität und Spiritualität die Verletzung der Menschenrechte anderer in Kauf?
Autorin: Hannah Ziegler ist Theologin und Überlebende sexueller Gewalt in der römisch-katholischen Kirche. Sie schreibt hier unter Pseudonym, um selbst darüber zu bestimmen, mit wem sie über die sexuelle Gewalt spricht, die sie als Kind erlebt hat.
Beitragsbild: Christoph Bauer
Zum Weiterlesen:
Hannah Ziegler, Theologie angesichts sexueller Gewalt in der römisch-katholischen Kirche, in: ET-Studies 13 (2022) 2, 291-310, https://poj.peeters-leuven.be/content.php?url=article&id=3291039&journal_code=ETS.
Hannah Ziegler, Nicht mehr meine Kirche. Gerechtigkeit für Überlebende sexueller Gewalt!, in: FAMA 39 (2023) 3, 8-9, https://famabloggt.wordpress.com/2023/08/23/nicht-mehr-meine-kirche-gerechtigkeit-fur-uberlebende-sexueller-gewalt/.
[1] Z.B. offene Ohren, Solidarität, konsequente Aufarbeitung, verantwortliches Handeln von Leitungspersonen. Vgl. Gebetstag für Betroffene sexuellen Missbrauchs. Überlegungen zur Verbindung zwischen den Lesungen des Tages und Betroffenen sexualisierter Gewalt, https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2020/10-Gebetstag-Archiv-Ueberlegungen-Fuerbitten.pdf.
[2] Am 2,4-16, Am 5,9-27, Zef 1,7-18, Mal 3,18-21. Im NT ist die Verweigerung von Vergebung an einer Stelle sogar eine Gabe der heiligen Geistkraft (Joh 20,22-23).
[3] Safeguarding. A safer church, https://www.churchofengland.org/safeguarding. Dieser Anspruch wird zwar sicher nicht immer umgesetzt, aber er besteht immerhin.