Die Sprache der katholischen Gottesdienste erscheint Annette Jantzen kaum geeignet, Menschen in ihrem Glauben und Beten zu unterstützten. Sie soll Ewigkeitscharakter zeigen und wirkt doch nur abgehoben und weltfremd.
Wenn Glauben mehr ist als etwas für wahr zu halten, dann ist Beten mehr als Worte zu sprechen. Dann braucht das Gebet die Bindung, die Beteiligung der betenden Person. Darum sieht das katholische Messbuch auch vor, dass bei den Kollektengebeten in der Eucharistiefeier – Tagesgebet, Gabengebet, Schlussgebet – nach der Aufforderung „Lasset uns beten“ eine Stille folgt, in der die Anwesenden schweigend beten, bevor dann der Gebetstext folgt, der diese Gebete zusammenfassen und ihnen einen gemeinsamen sprachlichen Ausdruck geben soll.
Die Prägung durch manche Gewohnheit
als Deformation des Glaubens.
Bei der konkreten Gestaltung der katholischen Liturgie bleibt diese Perspektive oft verstellt; das liegt aber nicht nur daran, dass die Stille oft nicht gehalten wird – und wenn sie gehalten wird, viele Anwesende ihren Sinn nicht kennen –, sondern vor allem daran, dass die vorgegebenen Gebetstexte sich häufig als untauglich erweisen. Ihr oft geschraubter Stil, ihre Armut an Gottesbildern, ihr belehrender Duktus mag da weniger ins Gewicht fallen, wo sie Menschen so vertraut sind, dass sie in die Gebetsworte hineinwachsen, die Worte mit eigenen Vorstellungen füllen und sie zur Hülle für das eigene Beten werden lassen können, so wie es mit dem Psalmgebet auch möglich ist. Diese Möglichkeit will ich nicht ausschließen, auch wenn ich den Verdacht habe, dass es ein Glücksfall ist, wenn man in diesen Gebetsworten tatsächlich wachsen kann, und dass die Prägung durch diese Gewohnheit auch eine Deformation, ein sehr gestutztes Wachstum des eigenen Glaubens bedeuten kann.
Ohne die Vertrautheit der Gewohnheit aber laden die Gebete kaum ein, das eigene Beten, die eigene innere Beteiligung ins gehörte Wort hineinzulegen, sie nachzuvollziehen, sie innerlich mitzubeten, das Gebet mitzutragen, es zum eigenen Gebet werden zu lassen. Das ist darum besonders schade, weil es ja eigentlich die sammelnden Gebete sein sollten, die die Gemeinde betend auf Gott hin einen.
gottprotzig und vollmundig.
Man kann an den Kollektengebeten vieles kritisieren – ihre verengten Gottesbilder, ihre veraltete Theologie, ihren Hang zum Dozieren: Weil so vieles verlorengeht, wenn die Gottesbilder, die Gott ja immer unähnlicher als ähnlich sind, so wenige sind, dass so viel von Gottes Schönheit ungesagt bleibt. Weil es ein Skandalon ist, wenn all das redliche, im Angesicht der Greuel dieser Welt ringend verantwortete theologische Bemühen um eine trotzdem noch mögliche Gottesrede sich überhaupt nicht in der Liturgie auffinden lässt. Weil im Gegenteil hier unerschrocken und gottprotzig weiterhin vollmundig von Allmacht, Vorsehung und Liebe gesprochen wird, als würden diese Begriffe nicht selber mehr Fragen aufwerfen als beantworten – Fragen, die damit einfach übergangen werden. Da ist es dann auch kein Wunder, wenn Menschen, die in ihren jeweiligen Wissensbereichen sehr klug argumentieren können, den christlichen Glauben mit Begründungen ablehnen, die auf Gott hin keinen Gedanken zu viel verschwenden. Die Theologie nach Auschwitz kommt in diesen Gebeten nicht vor, als wäre nichts gewesen – man kann es nicht verübeln, wenn Menschen sich darum abwenden und diese Art des unerschrockenen Betens oder gleich den ganzen Glauben, der sich darin ausdrückt, ablehnen. Es läge in der Verantwortung der Bischöfe, die liturgischen Kommissionen diverser zu besetzen und mit mehr theologischem Mut auszustatten, damit nicht die Angst vor Fehlern und Sicherheitsverlust die Gestaltung der Texte bestimmt.
Zumutung der verbindlichen Vorgabe.
Neben diesen offensichtlichen Gründen, die derzeit vorliegenden Kollektengebete zu kritisieren, gibt es aber noch eine Perspektive, und das ist ihre Verbindlichkeit. Sicher können die Liturgen die Verbindlichkeit ablehnen und die Gebete abändern – aber dieser Hinweis entschärft nicht die Zumutung der verbindlichen Vorgabe. Diese Vorgabe sorgt auch dafür, dass viele Liturgen, die Messtexte abändern, ergänzen, austauschen oder in neuen Übersetzungen verwenden, denunziert oder diffamiert werden können, weil ihr Tun so als Verstoß und nicht als Übernahme liturgischer Verantwortung eingeordnet werden kann.
Beharren auf Deutungshoheit.
Drei Probleme werden durch diese so oft theologievergessenen kirchlich-liturgischen Vorgaben sichtbar: das Streben nach Einheitlichkeit, die Nicht-Anerkenntnis der Möglichkeit einer säkularen Weltdeutung und das Beharren auf Deutungshoheit, wobei die beiden letzteren eng miteinander verwoben sind.
Tradition wird sehr eng, wenn das Schöpfen aus dieser Tradition gleichgesetzt wird mit der Beschränkung auf direkte Übersetzungen aus den lateinischen Messtexten, wie sie vom Vatikan vorgegeben werden. Die Kirchenleitung scheint dem Wirken des in der Kirche doch lebendig geglaubten Gottesgeistes wenig zuzutrauen, wenn die jeweiligen soziokulturellen Umstände so wenig Niederschlag in der Liturgie finden dürfen. Erzwungene Einheitlichkeit führt nicht zur Erfahrung von Einheit, sondern zur Erfahrung von Vereinheitlichung und Entfremdung. Wir erleben das nicht nur in Deutschland derzeit in dramatischen Ausmaßen. Man kann nun sagen, dass die vorgegebene Gewohnheit auch Beheimatung bedeutet – zu Hause zu sein in oft gehörten Worten, in Formeln und Wiederholungen. Die Gewohnheit und das Streben danach, sich in sie hinein zu beheimaten, haben ihre Berechtigung. Es wird aber da ein Problem, wo aus der Gewohnheit die Macht der Gewohnheit wird und wo diese Macht bewusst und gezielt eingesetzt und ausgespielt wird – auch und gerade gegen die Aufbrüche, die daraus erwachsen können, dass Menschen ihre Gegenwart ins Gebet bringen.
Die Welt durchsichtig machen auf Gott hin.
Damit, nämlich die Gegenwart ins Gebet zu bringen, würde man tun, was die Aufgabe von Theologie auf Weltdeutung hin ist: Die Welt und ihre Zusammenhänge, wie sie naturwissenschaftlich, historisch, gesellschaftlich darstellbar sind, durchsichtig machen auf Gott hin. Theologie darf keinen alternativen Wissensbestand darstellen, weil damit Vernunft und Glaube in eine Konkurrenz geraten würden, die letztlich zu klein von Gott denkt – denn wenn unsere Erkenntnisfähigkeit uns auch zum Glauben fähig macht, dann darf dieser Glaube nicht im Widerspruch zur Vernunft stehen. Er darf sie allerdings übersteigen, er muss es sogar, denn mit naturwissenschaftlichen Mitteln lässt sich Glaube aus logischen Gründen weder be- noch widerlegen. Hierin liegt auch die Ausgangsthese begründet: Wenn Glaube mehr ist als etwas für wahr zu halten, dann ist Beten mehr als Worte zu sprechen. Darum braucht es zum Gebet die Beteiligung der Beter*innen, und darum kann das Gebet sich nicht in einem gänzlich von der sonstigen Erfahrungswelt getrennten Bereich abspielen.
Das Wort des Gebetes
vom Gebet unterscheiden.
Der Unterschied zwischen dem Vortrag des Gebets und dem Beten selbst ergibt sich nämlich nur, wenn es einen Unterschied geben kann zwischen der Welt, wie wir sie vorfinden, und der Deutung, die wir ihr geben. In einem vormodernen Weltbild, in dem es keine Differenz zwischen Welt und Weltdeutung gibt, braucht es auch keine Unterscheidung zwischen der Geste und dem Wort auf der einen Seite und dem Gehalt, der Bedeutung von Geste und Wort auf der anderen Seite. Wenn man aber unterscheiden kann zwischen Wort und Bedeutung – und das heißt auch: zwischen den Worten des Gebets und dem Gebet an sich –, dann geht damit ein Verständnis von „Gebet“ einher, das auf Gottesbegegnung abzielt und darum eine innere Beteiligung der betenden Person braucht. Ansonsten bleiben die Worte ein nur zitiertes Gebet, eine Behauptung auf Gott hin, die sie nicht einlösen können. Das Gebet in diesem Sinn braucht Subjektivität – die Subjektivität einer Freiheit, die sich auf Gott beziehen kann. Die Kirche, die doch die Freiheit der Person in Bezug auf den Glauben bekennt, sie traut dieser Freiheit wenig zu; und der Verdacht drängt sich auf, dass sie auch das Eigenrecht einer säkularen Weltdeutung nur halbherzig anerkennt und stattdessen implizit doch noch eine standortungebundene Erkenntnis für sich beansprucht.
Kirche – getragen von der subjektiven Erfahrung.
Sie scheut die Subjektivität und die aus ihr notwendig folgende Individualität. Das, was die liturgische Bewegung in grundstürzender Weise vor 100 Jahren entdeckte, nämlich „die Messe zu beten (statt zu hören)“, was sie gar als „das Erwachen der Kirche in den Seelen“ (Romano Guardini) begriff, das wurde in der Liturgiereform nur halb umgesetzt: Die Verpflichtung auf einen bestimmten Wortlaut – und die Verschärfung aus dem Jahr 2001, dass wörtlich aus dem Lateinischen zu übersetzen sei – bezieht sich explizit darauf, dass nicht die innere Verfassung der Gläubigen eingeholt und auf Gott ausgerichtet werden solle, sondern ewige Wahrheiten auszudrücken seien.[1] Damit ist aber das Gebet nur unzureichend von einem magischen Ritual abgegrenzt, das unabhängig von der persönlichen Beteiligung der Person eine Wirkung auf die Welt und Gott haben soll. Die Kirche, die in den Seelen erwachte, sie wäre getragen von der subjektiven Erfahrung der Einzelnen. Sie würde die säkulare Welt durchsichtig machen auf Gott hin, ohne damit eine Deutungshoheit über diese Welt zu beanspruchen. Dieses Erwachen der Kirche in den Seelen wurde aber im letzten Konzil, das doch auch Frucht der liturgischen Bewegung war, nur halb anerkannt: Zwar wurden in seiner Folge über 50 Jahre später die zahlreichen und eindeutigen Verstöße und Übertretungen gegen die liturgischen Vorschriften legitimiert, von denen die Verwendung der Volkssprache und die Versammlung um den Volksaltar die augenfälligsten waren. Die Begründung dieser Übertretung wurde aber nur teilweise nachvollzogen.
Eine wirklich mitbetende Gemeinde?
Die Trägerinnen und Träger dieser Erfahrung in der Burgkapelle von Burg Rothenfels und anderswo in den Jugendverbänden erlebten den qualitativen Unterschied von einem als objektiv wirksam verstandenen Ritual und der subjektiven Aneignung dieses Rituals. Auf die Gebetssprache übertragen: Sie erlebten den qualitativen Unterschied zwischen einem gehörten Gebet, dessen Wortlaut wichtiger ist als seine Verständlichkeit, und dem innerlich mitvollzogenen Gebet. In der Liturgiereform wurde nun das Gebet in der Liturgie in verständliche Sprache übertragen, es wurde darauf geachtet, dass die Gemeinde wirklich mitbeten könne – aber die Wichtigkeit des Wortlauts wurde beibehalten. Die Gemeinde soll also nicht mit ihren Worten beten, sondern sich prägen lassen von den vorgegebenen Worten, diese zu ihrem eigenen Gebet machen. Es kann, wie gesagt, ein Weg religiösen Wachstums sein, sich eine widerständige Gebetssprache anzueignen. Aber es macht dann doch noch ein Unterschied, ob das eine so durchbetete Sprache ist wie die der Psalmen, oder ob es eine lehramtliche, autoritätssichernde, auf Korrektheit bedachte Sprache ist, der die individuelle Freiheit der Betenden suspekt bleibt und der letztlich auch ein biblisches – vielseitiges, in menschlichen Erfahrungen ausgedrücktes, mit Emotionen belegtes – Gottesbild deutlich ferner liegt als eines, das von der griechischen Philosophie geprägt ist. Dass das in den liturgischen Vorgaben transportierte Gottesbild auch von patriarchalen Vorstellungen durchtränkt und einseitig männlich ausgedrückt ist, ist naheliegend.
Anspruch überzeitlicher Geltung.
Nun kann man entgegnen, dass zeitgenössische Gebetssprache auch sehr zeitgebunden und damit bald wieder veraltet ist. Das mag stimmen – das gilt aber für traditionelle Texte auch. Und: Es stimmt umso weniger, je erfahrungsgesättigter und damit auch erfahrungsaufnahmefähiger ein Text ist. Manches Gebet aus den 1970er oder 1980er Jahren wirkt heute bizarr – aber auch nicht deutlich bizarrer als manches heute verbindlich vorgegebene Gebet, das genauso aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Nicht das Ausmaß an Nicht-Passung macht hier den Unterschied, sondern das Framing: Die Gebete aus den 1970er oder 1980er Jahren lassen sich in der Regel ihren Autor*innen und ungefähren Entstehungszeiten zuordnen und gelten als zeitbedingt; die verbindlichen Texte des römisch-katholischen Messbuchs hingegen werden bewusst nicht mit dieser Kontextualisierbarkeit ausgestattet. So beanspruchen sie eine überzeitliche Geltung, obwohl auch sie sehr konkreten Denk- und Lebenszusammenhängen entspringen und häufig auch über diese konkreten Zusammenhänge hinaus nicht mehr ins Beten zu führen vermögen.
bloß ungebetenes Wort.
Dabei gibt es eine gute Begründung für ein wenig subjektives Gebet: Man gerät schnell in den Bereich spiritueller Übergriffigkeit, wenn man als Vorbeter*in zu persönlich wird und dadurch Menschen näheren Einblick in das je eigene Beten gibt, als diese wollen, und das auch noch, ohne dass sie sich dem entziehen könnten. Auf der anderen Seite steht, dass das, was für alle passen soll, letztlich niemandem wirklich passt. Dann bleibt, was ein Gebet werden könnte, ein ungebetetes Wort, und damit auch ein belangloses. Die Balance zu halten zwischen Authentizität und Allgemeinheit, zwischen dem vorbetenden „Ich“ und dem unterstellten „Wir“, das ist eine Herausforderung. Sich an Glaubensgeschwistern zu orientieren, aus der Tradition zu schöpfen, anzueignen, was passt, wegzulassen, was nicht passt, und dabei natürlich sich Rechenschaft zu geben darüber, dass das keiner Bequemlichkeit entspringt, das ist anspruchsvoll, und nicht jede*r muss jeden Gottesdienst selbst durchkomponieren.
Es bräuchte liturgische Leerstellen.
Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn unsere Gottesdienste nicht nur geduldeterweise persönlicher, gegenwartsfähiger, zugänglicher sein dürften, sondern wenn sie es sogar sein sollten, weil diese Welt Gottes Welt ist und wir in dieser Welt zu Hause sind. Es bräuchte liturgische Leerstellen, die ausdrücklich von den je Verantwortlichen zu füllen und zu gestalten wären – auf dass ihnen diese Verantwortung auch wirklich zugetraut und übertragen werde und sie mehr Vor- als Nachbeter*innen sein dürften.Das hieße, die Zäune des Misstrauens abzubauen. Und es hieße, nicht nur den Feiernden, sondern auch Gottes Gegenwart mehr zuzutrauen, sie nicht nur zu behaupten, sondern sie innig zu feiern und sprachlich zum Leuchten zu bringen.
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Annette Jantzen, Dr. theol., ist Pastoralreferentin im Bistum Aachen und dort eingesetzt als Frauenseelsorgerin sowie in der Regionalleitung einer der Bistumsregionen. Sie betreibt den Blog www.gotteswort-weiblich.de und ist als Autorin tätig
Titelbild: Matt Meilner /unsplash.com
Porträtbild A. Jantzen: Ute Haupts
[1]Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Der Gebrauch der Volkssprachen bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie, Fünfte Instruktion „zur ordnungsgemäßen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie“, Rom 2001, 19.