Vom Sterben her denken – oder vom Geborenwerden? Isabella Bruckner über den Zauber des Anfangs auch in der Theologie.
Die Anthropologie des 20. Jahrhunderts hat den Menschen vorrangig vom Existenzial der Sterblichkeit her bedacht. Nicht nur Martin Heidegger, auch Max Scheler, Karl Jaspers oder Gabriel Marcel sowie in der Theologie Karl Rahner oder Gisbert Greshake sahen das Humanum zunächst von seiner Vergänglichkeit, seinem „Sein zum Tode“ bestimmt. Verständlich, in einem Jahrhundert, in welchem die Endlichkeit und Verletzlichkeit menschlichen Lebens – mit zwei Weltkriegen und Lagern der Massenvernichtung – wohl selten so deutlich tagtäglich vor Augen geführt wurde. Doch lässt sich neben diesem dominierenden Strang einer „thanatologischen Philosophie“[1] auch die Spur einer Gegenlese aufnehmen. Anstatt das Dasein als auf sein unausweichliches und doch prinzipiell unverfügbares Ende vorlaufend zu verstehen, findet sich – insbesondere in den Werken weiblicher Autorinnen – der vielleicht gerade heute neu zu entdeckende Versuch, die menschliche Existenz von seinem unverfügbaren Beginn her in den Blick zu bringen. „Geburtliches Denken“ nannte der Benediktiner Elmar Salmann eine solche Perspektive auf das Lebendige.[2] Statt dem Abbruch rückt es den Konnex und die Verdanktheit des Lebens ins Zentrum; die Bejahung des Seins in seiner primären Gutheit, in seinem generativen Überschuss, sowie die Affirmation der den Geborenen eigenen Freiheit.
Wunder eines neuen Anfangs der Welt
Hannah Arendt, die als eine der ersten Denkerinnen diese Perspektive mit Bezug auf die Sphäre des Politischen einbrachte, versteht das Existenzial der Natalität vor allem als das Wunder eines neuen Anfangs der Welt, der sich in der Geburt als der Voraussetzung des freien Handelns gründet: „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“[3] Es darf nicht übersehen werden: Das Handeln bedarf auch in der Konzeption der jüdischen Politologin der Vergebung sowie im Weiteren des Versprechens, d.h. den frei-lassenden und vertrauenden Umgang mit Vergangenheit und Zukunft[4]. Ursprünglich gegeben ist dem Menschen das Neu-Anfangen-Können der Freiheit jedoch schon als Entsprechung zum wundersamen Neu-Anfang der Geburt.
Gleichsam wie Arendt setzt das christliche Zeugnis die Unverfügbarkeit des Ursprungs der Potenzialität von Welt und Mensch voraus, welche mit dem Gottesnamen in Verbindung steht. Dass der Gottesname sich nicht nur in Kreuz und Erlösung, sondern bereits in Krippe und (beständiger Neu-)Schöpfung der Welt offenbart, ist in der Theologie, in der religiösen Ästhetik und spirituellen Praxis in der Westkirche seit dem Mittelalter eher ins Hintertreffen geraten. In jüngerer Zeit weisen Theolog:innen jedoch immer häufiger auf die Tatsache hin, dass das Heil nicht erst in der Vergebung der Sünden geschenkt wird, sondern bereits mit dem Schwangergehen einer Frau verheißen ist, mit der Erfahrung der Geburt eines Kindes bzw. eines neuen Volkes. „Die Bibel hat den Weg der Geburten gewählt wie wenige andere religiöse Traditionen: Wenn der biblische Gott etwas Neues in der Geschichte zu schaffen intendiert, etwas Neues, das diese Neuheit auch reflektiert, wird ein Kind geboren“[5].
Abbrüche, Unregelmäßigkeiten, Verschiebungen und Sprünge
Betrachtet man aus dieser Perspektive die biblischen Texte, wird schnell deutlich, dass sich Erzählungen von gnadenhaften Geburten quer durch die biblischen Schriften ziehen. Dabei weist die geschichtlich-theologische Perspektive der biblischen Texte zum einen darauf hin, dass sich die Weitergabe des Lebens nicht positivistisch-mechanisch im Sinne einer linearen lückenlosen Kausalverbindung verstehen lässt. Sosehr die Aufzählung der Toledot, die Abfolge der Generationen (A zeugte B, B zeugte C, …), die in den biblischen Büchern häufig vorkommt, ähnlich einer mathematisch-logischen Ableitung Zwang und Notwendigkeit suggeriert (dem Schema: A folgt aus B, B folgt aus C, …)[6], sind die entscheidenden heilsgeschichtlichen Generationenfolgen doch von Abbrüchen, Unregelmäßigkeiten, Verschiebungen und Sprüngen gekennzeichnet.
Dies beginnt schon in der zweiten menschlichen Generation: Nicht auf die starke Linie Kain-Lamech baut letztlich die Heilsgeschichte; es ist die unterbrochene Linie vom Windhauch Abel und dem ‚Ersatz‘-Sohn Set, die erzählt wird – die Linie eines Menschen, der keine Kinder hatte, der stumm blieb und von dem als einzige Äußerung der Schrei seines Blutes überliefert ist sowie die Linie eines Menschen, der seine „Identität“ in der Stellvertretung eines anderen, Toten, findet, damit dieser nicht vergessen wird. Diese „schwache“, gnadenhafte, gar subversive genealogische Erzählung setzt sich fort: Abraham/Sara-Isaak, Elkana/Anna-Samuel, Noomi-Rut/Boas-Obed, Zacharias/Elisabeth-Johannes, (Josef/)Maria-Jesus… Von diesen wenigen herausragenden Beispielen her lässt sich ahnen, dass die biblischen Texte die Momente von Schwangerschaft und Geburt generell in einen Horizont des Wunders, der Hoffnung und Verheißung stellen, wo immer wieder mit Überraschungen zu rechnen ist.
Gnade eines neuen Anfangs
Beide Testamente erzählen von unerwarteten oder gar unmöglichen Geburten, die den normalen Lauf der Dinge unterbrechen und die Gnade eines neuen Anfangs bedeuten. Doch auch in der Gründungsgeschichte des Gottesvolkes, in der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten, lässt sich dieses Motiv entdecken: Ein Mann, ein Fremder gar, aus dem Wasser gerettet und genährt von der Amme-Mutter, wird zum Anführer einer Gruppe berufen, die sich durch ein Befreiungsereignis, das mit der Teilung des Schilfmeers der Erschaffung der Welt gleichkommt, zu einem Volk formt. Der anschließende gefahrvolle Marsch durch die Wasser kann im Sinne einer großen Geburt verstehen werden. Deshalb findet der Durchzug des Volkes durch das Rote Meer auch Eingang in die paulinische Tauftheologie. Im Ersten Korintherbrief setzt der Apostel das Geschehen des Exodus mit der Taufe in Beziehung und vergleicht sie der Durchquerung des Roten Meeres: „Ich will euch aber, Brüder und Schwestern, nicht in Unwissenheit darüber lassen, dass unsre Väter [und Mütter] alle unter der Wolke gewesen und alle durchs Meer gegangen sind; und sind alle auf Mose getauft worden in der Wolke und im Meer“ (1 Kor 10,1f.). „In beiden Fällen“, so Linda Pocher, beim Exodus wie bei der Taufe, „kommt der Durchgang durch das Wasser einer neuen Geburt gleich, da er einen völlig neuen Anfang begründet.“[7]
In diesem Sinne erinnert sodann auch die erste Formel für die Segnung des Taufwassers an die Erfahrung des Volkes Israel und an die Bedeutung des Meeres: „Die Kinder Abrahams hast du trockenen Fußes durch das Rote Meer geführt und sie befreit aus der Knechtschaft des Pharao. So sind sie ein Bild der Getauften, die du befreit hast aus der Knechtschaft des Bösen.“ (FKT 54)[8] Alle die Taufe begleitenden Gesten und Zeichen – das Eintauchen in das Wasser und das Auftauchen aus dem Wasser, in der Antike sogar die völlige Nacktheit des Täuflings – sowie die Architektur und musivischen Motive der Baptisterien der frühen Kirche, die sowohl das Grab als auch den mütterlichen Schoß symbolisierten, zeugen von diesem Verständnis der Taufe als Wiedergeburt des Gläubigen.[9]
Radikalisierung des offenen Moments
Diese zweite Geburt oder Wiedergeburt, die die Taufe darstellt, ist – abgesehen vielleicht in den Wirkbereichen eines sozusagen ’notwendig vererbten‘ Kultur-Katholizismus bzw. -Protestantismus – nicht mehr dem Prinzip der Genealogie zuordenbar. Sie gehört vielmehr zu jener anderen Art von Bindung, die biblisch die Beziehung zwischen Gott und den Menschen sowie zwischen den Völkern ermöglicht: dem Bund. Der Bund – vielleicht könnte man auch von Freundschaft sprechen – beruht nicht auf Blutsbanden, sondern auf Freiheit, Wort und Versprechen. Insofern bedeutet das Wiedergeboren werden nicht, „die Genealogie neu zu beginnen […], sondern an die Möglichkeit der Neueröffnung […] durch das Wort zu glauben“[10]. Diese zweite symbolische Geburt radikalisiert das offene Moment, das, wie oben aufgezeigt wurde, die biblischen Generationenfolgen von Anfang an durchzieht. Bund bzw. Freundschaft sind in der Lage, Beziehungen zwischen Menschen zu stiften, die nicht derselben Genealogie angehören. Sie öffnen die familiären Bande für andere, potenziell für alle oder jedenfalls für jede/n X-Beliebige/n – auch für jene, die aus ihrer eigenen Genealogie herausgefallen sind oder sie nicht kennen.
Diese zweite, symbolische Geburt, ist nicht im Sinne einer Abwertung der ersten, „natürlichen“ Geburt und damit zugleich der Frau zu verstehen – eine Lesart deren die Philosophin Francesco Rigotti gerade die christliche Tradition verdächtigt[11], wofür sie sicherlich in manchen theologischen Entwürfen oder Beispielen kirchlicher Verkündigung Bestätigung findet. Dagegen ließe sich einwenden, dass diese „zweite Geburt“ gerade nicht ohne die erste gedacht werden kann, die den Körper als unabdingbares Prinzip von personaler Freiheit voraussetzt.[12] Aber vielleicht gilt es hier noch radikaler anzusetzen. Vielleicht bedeutet geburtlich zu denken, mit neuem Staunen auf dieses Wunder der Geburt und des Wachsens zurückgeführt zu werden; die Generativität selbst als bereits begeistet wahrzunehmen und die Kreativität der Anfänge neu zu entdecken. Kein Auseinander von Schöpfung und Gnade also, sondern die Neuentdeckung der Gnadenhaftigkeit des Gegebenen selbst.
Dr. Isabella Bruckner ist Professorin für „Christliches Denken und Spirituelle Praxis“ (Pensiero e forme dello Spirituale) am Päpstlichen Athenäum Sant’Anselmo in Rom. Trägerin des Karl-Rahner-Preises 2022.
[1] Zucal, Silvano: Filosofia della nascita, Brescia: Morcelliana 2017, 7.
[2] Vgl. den gleichnamigen Vortrag in der Katholischen Akademie Berlin, 12.12.2014, in: https://www.youtube.com/watch?v=cCj4ifKDDvo 1.
[3] Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 162015, 215.
[4] Vgl. auch Michaela Quast-Neulingers Beitrag „Leben heißt Vertrauen“, in: feinschwarz, 26.11.2021 in: https://www.feinschwarz.net/leben-heisst-vertrauen/ 1.
[5] “La Bibbia ha preso la via della nascita come poche altre tradizione religiose: quando il Dio biblico intende creare del nuovo nella storia, un nuovo che rispecchi la propria novità, fa nascere un bambino.” (Sonnet, Jean-Pierre: Generare, perché? Una prospettiva biblica, in: Anthropotes 36 (2020), 139–190, 140.)
[6] Vgl. Heinrich, Klaus: Die Funktion der Genealogie im Mythos, in: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Freiburg/Wien: ça ira 32020, 11–28.
[7] “il passaggio attraverso l’acqua equivale a una nuova nascita, poiché stabilisce un inizio completamente nuovo.” (Pocher, Linda: Dalla Terra alla madre. Per una teologia del grembo materno, Bologna: EDB 2021, 92.)
[8] Die Feier der Kindertaufe in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Zweite authentische Ausgabe gemäß der Editio typica altera, Freiburg i. Br.: Herder 2007.
[9] Vgl. Hernández, Jean-Paul: Nel grembo della Trinità. L’immagine come teologia nel battistero più antico di Occidente (Napoli IV secolo), Milano: San Paolo 2004.
[10] “Rinascere di nuovo non significa […] ricominciare la genealogia […] ma credere nella possibilità della nuova apertura[…] della Parola”. (Guanzini, Isabella: Nascere di nuovo. Profezia e anarchia delle generazioni, in: id. / Melandri, Giovanna: Come ripartire?, Genova: il melangolo 2022, 7–38, 36f.)
[11] Vgl. Rigotti, Francesca: Da corpo di donna, in: dies. / Veladiano, Mariapia: Venire al mondo, Trento: Il Margine 2015, 23–42, 35–37.
[12] Vgl. Forcades, Teresa: Il Corpo Gioia di Dio. La Materia come Spazio di Incontro tra Divino e Umano, San Pietro in Cariano: Il Segno dei Gabrielli Editori 2020.
Dr. Isabella Bruckner ist Professorin für „Christliches Denken und Spirituelle Praxis“ (Pensiero e forme dello Spirituale) am Päpstlichen Athenäum Sant’Anselmo in Rom
Bildquelle: Pixabay