Im Rückblick auf die Weihnachtsgeschichte und ihre Vereinnahmung für traditionelle Familienbilder verweist Anna-Lena Passior auf das Lernpotenzial der dystopischen Fernsehserie „The Handmaid’s Tale“.
Jungfrau. Heilige Familie. Stille Nacht. Wichtige Stichworte für jedes Krippenspiel. Über Sex wird in der katholischen Kirche nicht gerne geredet, doch immer wieder steht an Weihnachten das Schwangersein und Gebären im Mittelpunkt. Die lukanische Weihnachtsgeschichte von Gott als Kind in einer Krippe ist eigentlich pure Kritik an patriarchaler Macht. Wenn die Tannenbäume nun die Wohnzimmerböden mit Nadeln übersäen und alle Kekse aufgegessen sind, ist vielleicht der richtige Zeitpunkt, um sich die dystopische Serie „The Handmaid’s Tale“ anzusehen. Sie stärkt nicht wie „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ oder „Der kleine Lord“ den Glanz der romantischen Liebe und „heiligen“ Familienkonstellation. Doch die Dystopie „The Handmaid’s Tale“ steht verbunden mit der Utopie von Weihnachten als dunklere Seite der Kritik des Satus Quo.
Die Erzählung einer erzwungenen Leihmutterschaft
Dystopien warnen vor den Mächten und Gewalten, die unser Heute schon jetzt prägen, aber nicht immer sichtbar sind. Die dystopische Serie „The Handmaid’s Tale“, auf Grundlage des Romans von Margaret Atwood aus dem Jahr 1985, spielt in der nahen Zukunft und ist zu einem politischen Zeichen geworden. Weltweit gehen Menschen mit den Symbolen der Serie auf die Straße, um damit deutlich zu machen: Das Patriachat ist mächtig und muss immer wieder problematisiert werden. Mittelpunkt der Serie ist die biblische Erzählung einer erzwungenen Leihmutterschaft und die patriarchale Kontrolle über Menschen, die schwanger werden können, sowie die Entscheidungsmacht über deren Kinder.
zur Dienstmagd versklavt.
In der Serie schüren religiösen Fanatiker*innen durch dystopische Narrative und Apokalypsen Angst, um einen Ausnahmezustand auszurufen und nach einem gewaltsamen Umsturz den patriarchalischen Gottesstaat namens Gilead zu errichten. Die wenigen Menschen, die (noch) schwanger werden können, werden als Dienstmägde versklavt und missbraucht, um der religiösen Führungselite und ihren unfruchtbaren Ehefrauen Kinder zu gebären. Die Perspektive, aus der die Serie erzählt wird, ist die von June (Desfred), eine der wenigen Menschen, die schwanger werden können und zur Dienstmagd versklavt wird. Tante Lydia, die in dem Gottesstaat als Aufseherin für die Dienstmägde fungiert, deutet die nahe Vergangenheit und erläutert den Dienstmägden ihre Rolle:
„Sie haben die Luft verpestet, mit Chemikalien und Strahlungen und mit Giften. Da ließ Gott sich eine besondere Plage einfallen: die Plage der Unfruchtbarkeit. Als die Geburtsraten fielen, machten sie es noch schlimmer mit Empfängnisverhütungsmitteln, Abtreibungspillen. […] Aber ihr seid die Auserwählten. Fruchtbarkeit ist ein Geschenk, das direkt von Gott kommt. Er ließ euch unversehrt für eine biblische Bestimmung, wie Leah Rachel gedient hat, werdet ihr den Anführern der Rechtgläubigen dienen und ihren unfruchtbaren Frauen. Ihr werdet für sie Kinder gebären (Staffel 1, Folge 1, 16:05 min).“
mehr als zwei Geschlechter.
Das Denken und Reden über Reproduktion ist sehr binär geprägt. So ist eine Erinnerung wichtig, dass nicht nur Frauen schwanger werden können und dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Des Weiteren ist eine intersektionale Perspektive wichtig – denn Schwangerschaft wird durch Rassismus, Ableismus oder Klassismus unterschiedlich bewertet.
Patriarchat als „Macht über“.
Wenn die hohe Relevanz der Serie anerkannt wird, können Christ*innen vieles aus ihr lernen und in einen Dekonstruktionsprozess gehen, indem sie die Warnungen der Dystopie ernst nehmen. Im Mittelpunkt der Serie steht die Machtfrage hinter der Forderung oder Einschränkung von sexueller und reproduktiver Freiheit. „The Handmaid’s Tale“ macht die Macht der männlichen Familienoberhäupter über ihre Fraue(n) und die Macht der Männer in der Gesamtgesellschaft deutlich. Das Patriarchat ist nicht ohne die „Macht über“ zu denken und die „Macht über“ nicht ohne das Patriarchat. Das patriarchale Konzept „Macht über“ ist mächtig – und die Dystopie nicht nur Fiktion, sondern auch Realität. Antifeministische und sexistische Einstellungen sind in westlichen Gesellschaften weit verbreitet – das ist ein Ergebnis der im November 2022 veröffentlichten Leipziger Autoritarismus-Studie.
Reproduktive Freiheit stellt wohl eines der größten Machtdiskurse unserer Zeit dar. Im Juni 2022 beschloss der Bundestag in Deutschland die Abschaffung des Informationsverbots für Abtreibungen (§219a). Gleichzeitig hat im Juni das Oberste US-Gericht das landesweit geltende Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt, womit es z.B. in Alabama zu einem generellen Verbot von Abtreibungen kam.
Reproduktive Freiheit als Mobilisierungsthema.
Die Diskurse sind unter anderem christlich motiviert. In der im November 2022 veröffentlichten neuen Ordnung des katholischen Arbeitsrechtes ist „Propagieren von Abtreibungen“ als kirchenfeindliches Verhalten und somit Kündigungsgrund benannt. Im Juli 2022 unterstützt Papst Franziskus das US-Urteil zum Abtreibungsrecht. Und tausende Menschen beteiligen sich beim Marsch für das Leben in Berlin. Studien zeigen, dass rechte Akteure die reproduktive Freiheit als wesentliches Mobilisierungsthema nutzen. Die Beschränkung weiblicher Selbstbestimmung dient als Querverbindung zwischen religiösen und rechten Kräften. „Daneben begünstigen auch eine traditionsbewusste Religiosität oder gar dogmatisch-fundamentalistische Haltungen frauenfeindliche bis antifeministische Haltungen. So scheint die zunehmende sexuelle und geschlechtliche Vielfalt vielen Gläubigen ein Dorn im Auge zu sein.“[1] Gleichzeitig sind auch gegensätzliche, feministische Positionen auf der Grundlage eines christlichen Selbstverständnisses zu beobachten.
Biblische Texte patriarchal vereinnahmt.
In der „The Handmaid’s Tale“ zeigt sich die Bibel als Legitimationsmittel für gewaltvolle Unterdrückung. Feministische Theolog*innen, wie Elisabeth Schüssler Fiorenza, fordern eine Exegese, die das Eingebundensein der Bibel und derer Auslegungen in patriarchale Zusammenhänge ernst nimmt. Die Bibel ist so nicht nur befreiend, sondern biblische Texte sind im Kontext patriarchaler Gesellschaften entstanden, in einer männerzentrierten Sprache verfasst und werden auch heute in patriarchalen Kontexten gelehrt. Biblizismus und Vereindeutigung werden zur patriarchalen Vereinnahmung biblischer Texte genutzt. Dies sind Merkmale einer fundamentalistischen Form von Religion und widerspricht der historisch-kritischen Exegese.
Das Recht auf
körperliche Selbstbestimmung.
Von der Deklaration der Menschenrechte ausgehend sind sexuelle und reproduktive Rechte in mehreren internationalen Abkommen, wie der Konvention zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung von Frauen oder der International Planned Parenthood Federeation Charta (IPPF) festgeschrieben. Trotzdem werden Menschenrechte, wie das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Menschen, die schwanger werden können, missachtet. In ihrem 2022 erschienen Buch „Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung“ schreibt die Theologin und Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp:
„Fast überall auf der Welt können Frauen nicht selbst darüber entscheiden, wann sie schwanger werden, ob sie schwanger bleiben und wie sie mit ihrer Schwangerschaft umgehen. Obwohl Schwangerschaften sich innerhalb des Körpers abspielen und damit dem Zugriff anderer eigentlich entzogen sind, lässt die über Jahrhunderte gefestigte symbolische Ordnung es als vollkommen normal erscheinen, wenn andere über den Körper schwangerer oder potenziell schwangerer Menschen entscheiden.“[2]
Die Serie „The Handmaid’s Tale“ kritisiert diese patriarchale Kontrolle und Macht über Körper von schwangeren Menschen durch den Staat, die Gesellschaft, Religionen und Männer.
Patriarchale Konstrukte
werden ins Wanken gebracht.
Patriarchat bedeutet, dass die Deutungshoheit über Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbrüche bei Menschen liegt, die nicht schwanger werden können. So ist die Vorstellung des aktiven männlichen Parts und passiven weiblichen Parts in der Reproduktion aus der aristotelischen Tradition bis heute präsent. Die patriarchalen Narrative der menschlichen Fortpflanzung gelten als >objektiv<, doch es sind Konstrukte. Diese Konstrukte werden durch die Serie „The Handmaid’s Tale“ ins Wanken gebracht. In der Serie wird immer wieder versucht die patriarchale Familienidylle aufrecht zu erhalten, was sich in der Unsichtbarkeit der gebärenden Person/Leihmutter zeigt. Hier wird Fundamentalismus als die Konstruktion eines absoluten Ideals als Gegenprogramm zur erlebten Realität erkennbar. Die Dienstmägde sind aus Sicht der Führungselite nur Mittel zum Zweck.
Macht als Teil von
Aushandlungsprozessen.
Feminist*innen fordern „das Selbstbestimmungsrecht von Schwangeren als freie Subjekte ethischen Urteilens zu stärken, also ihre Position als maßgebliche Entscheidungsinstanz zu bekräftigen. Es geht genau nicht darum, allgemeinverbindliche ethische Regeln für den Fall einer ungewollten Schwangerschaft aufzustellen und universalgültige Interpretationen für diese Situation zu finden. Sondern darum, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass es allgemeingültige Interpretationen in dieser Frage nicht geben kann.“[3] An Weihnachten und in der Serie geht es um Macht. Macht ist allgegenwärtig, alltäglich und komplex. Wie die Machtstrukturen wahrgenommen und definiert werden, ist nicht objektiv, sondern Teil von Aushandlungsprozessen. Viele bekannte Machtbegriffe kommen von weißen Männern. Macht wird – auch in Kirche – oft mit „Macht über“ assoziiert und diese Vorstellung ist die Grundlage patriarchaler Herrschaft.
Aus der Unterdrückungsgeschichte
wird eine Geschichte des Protestes.
„Don’t let the bastards grind you down.“ – diesen Satz findet die Dienstmagd June eingeritzt an der Wand ihres Zimmers. Es ist eine Kritik an der „Macht über“ und zugleich weist es auf andere Dimensionen von Macht hin. Die Serie „The Handmaid’s Tale“ ist nicht nur eine Unterdrückungsgeschichte, sondern auch eine Geschichte des Protestes, in der weiblich gelesene Menschen ihre Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit wiedergewinnen. Die erlebte „Macht mit“ hat positive Auswirkungen und führt aus der Resignation der „Macht über“ zu einem Gefühl der Hoffnung. Der Heteronomie wird die Autonomie entgegengestellt, mit der Menschen internalisierten Sexismus ablegen und die patriarchale Ethik der weiblichen Schuld verlernen. Feministische Bewegungen haben positive Alternativen zu dem Verständnis von Macht als „Macht über“ entwickelt: innere Macht, Macht zu und Macht mit. „These alternatives offer positive ways of expressing power that create the possibility of forming more equitable relationships and structures and transforming power over.”[4]
Die Weihnachtsgeschichte mit Gott als Kind in einer Krippe kann auch das aktuell vorherrschende Bild von Macht transformieren. Vielleicht wird in Kirche auch irgendwann das Denken und Sprechen über das (nicht) Schwanger werden können, Schwanger sein und Gebären transformiert. Das Ernstnehmen der Warnungen in der Serie „The Handmaid’s Tale“ kann ein erster Schritt sein.
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Anna-Lena Passior arbeitet als Referentin für Citypastoral im ka.punkt in Hannover und studiert berufsbegleitend im Master Transformationsstudien in Kassel.
Titelfoto: Aiden Frazier /unsplash.com
[1] Decker, O., Kalkstein, F., Pickel, G., Niendorf, J. & Höcker, C., Antifeminismus und Geschlechterdemokratie. In: Decker, O., Kiess, J., Heller, A. & Brähler, H. (Hg.). Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022, S. 259.
[2] Schrupp, Antje, Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung, 2022, S. 30.
[3] Schrupp, Antje, Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung, 2022, S. 44f.
[4] Just Associates, Making Change Happen: Power; Concepts for Revisioning Power for Justice, Equality and Peace, justassociates.org, 2006, S.6.