Anlässlich der Synode in Rom geht Erich Garhammer der Frage nach der Reform der Kirche nach – und findet Anstöße bei Kardinal Martini und Wolfgang Beinert.
Kardinal Martini hat in einem Interview kurz vor seinem Tod am 8. August 2012 in aller Deutlichkeit ausgesprochen, wie er sich eine Reform der Kirche vorstellt und was ein künftiger Papst dazu beitragen könnte. Er war selbst ernsthafter Papstkandidat gewesen.
Seiner Meinung nach ist die Kirche in den Wohlstandsländern Europas und Amerikas müde geworden. „Unsere Kultur ist alt, unsere Kirchen sind groß, Häuser sind leer, die Organisation wuchert, unsere Riten und Gewänder sind prächtig. Doch drücken sie das aus, was wir heute sind? Dienen die Kulturgüter, die wir zu pflegen haben, der Verkündigung und den Menschen? Oder binden sie zu sehr unsere Kräfte, so dass wir uns nicht bewegen können, wenn eine Not uns bedrängt? Der Reichtum belastet uns. Wir stehen da wie der reiche Jüngling, der traurig wegging, als ihn Jesus zur Mitarbeit gewinnen wollte. Ich weiß, dass wir nicht leicht alles verlassen können. Doch wir könnten zumindest Menschen suchen, die frei und den Menschen nahe sind.“
Heilmittel der Kirche: Umkehr, Wort Gottes, Sakramente
Auf die Frage nach den Heilmitteln empfahl Kardinal Martini drei starke Medikamente.
Die Umkehr. Die Kirche − angefangen vom Papst und den Bischöfen − muss sich zu ihren Fehlern bekennen und einen radikalen Weg der Veränderung gehen. Die Skandale um den Missbrauch zwingen, Schritte der Umkehr zu setzen. Warum ist die Kirche in Fragen der Sexualität keine glaubwürdige Gesprächspartnerin mehr oder vielmehr eine Karikatur in den Medien?
Das Wort Gottes. Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken wieder die Bibel in die Hand. Wie finden Katholiken einen selbstbewussten Umgang mit dem Wort Gottes? Nur wer dieses Wort in sein Herz aufnimmt, wird bei der Reform der Kirche mitmachen und auch in persönlichen Fragen gute Entscheidungen treffen. Das Wort Gottes ist einfach und sucht als Partner das hörende Herz. Dazu braucht es nur Stille, Hören, Lernen, Fragen und Warten, bis mir das Wort Gottes „aufgeht“. Nicht der Klerus und nicht das Kirchenrecht können die Innerlichkeit des Menschen ersetzen.
Die Sakramente. Die Sakramente sind keine Instrumente zur Disziplinierung, sondern eine Hilfe für die Menschen an den Wendepunkten und in den Schwächen des Lebens. Bringt die Kirche die Sakramente zu den Menschen, die neue Kraft brauchen? Zu den vielen geschiedenen und wiederverheirateten Paaren, den Patchwork-Familien.
Kirche 200 Jahre zurückgeblieben
Auf die Frage, was ihn persönlich bewege, antwortete Martini: „Die Kirche ist zweihundert Jahre lang stehen geblieben. Warum bewegt sie sich nicht? Haben wir Angst? Angst statt Mut? Wo doch der Glaube das Fundament der Kirche ist.“ (https://www.pro-konzil.de/kardinal-martini-gestorben-letztes-interview-als-spirituelles-testament/ abgerufen am 26.09.2024)
Der Dogmatiker Wolfgang Beinert geht der Form der Reform auf den Grund
Warum ist die Kirche stehen geblieben? Und wie könnte eine Reform der Kirche ausschauen? Der Dogmatiker Wolfgang Beinert hat diese Frage nicht nur gestellt, sondern auch eine Antwort versucht. (Die Form der Reform. Anmerkungen zur Lage und Lehre der Kirche, Regensburg 2024)
Was ist Reform?
Der Heilige Geist lässt durch das Evangelium „die Kirche allezeit sich verjüngen, erneuert sie immerfort.“ (LG 4) Und weiter: „Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung.“ (LG 8,3). Das 2. Vatikanische Konzil hat in seiner Kirchenkonstitution die Erneuerung der Kirche als zentrale Aufgabe festgehalten. Diese Sätze stehen in diametralem Gegensatz zum Kirchenbild des 19. Jahrhunderts. Im Syllabus von 1864 wurde Fortschritt, Liberalismus und moderne Kultur als unversöhnbar mit der Kirche erachtet. Aus der lernoffenen Kirche war eine Wagenburg geworden. Die Papstdogmen von 1870 zementierten diesen Zustand. Beinert sieht in dieser Verweigerung gegenüber der modernen Kultur eine Suspendierung der Liebe zur Welt. Es ist eine unbiblische Haltung. Er übersetzt nämlich Mk 11,22 nicht mit „habt Glauben an Gott“, sondern „habt den Glauben Gottes“. Der Glaube Gottes ist die Liebe zu den Menschen und setzt unbedingtes Vertrauen voraus. Durch dieses Liebesdefizit ist es in der Kirche zu einem Empathiemangel gekommen, der sich auf vielen Ebenen zeigt.
Die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen ist ein hohes Gut. Die Zölibatsverpflichtung allerdings als Voraussetzung für die Ordination führt angesichts des Priestermangels zu einem Eucharistiemangel und damit zum Entzug eines Essentials für den christlichen Glauben. Die Kirche verweigert den Glaubenden den Zugang zur Hochform der Liebe Christi.
Die restriktive Sexual- und Ehemoral ist Erbe der Theologie von Augustinus. Die menschliche Liebe ist aber nicht Minderung der Liebe Gottes, sondern ihre Realisierung.
Die übersteigerte Gehorsamsforderung ist Misstrauen gegen die Freiheitsfähigkeit der Menschen. 1832 wurde die Glaubensfreiheit als Irr- und Wahnsinn abgetan.
Das Ordinationsverbot für Frauen, das Johannes Paul II. 1994 in Ordinatio sacerdotalis festzuschreiben meinte, hat kaum tragfähige theologische Argumente beigebracht. Sie sind eher vorgeschoben: Jesus hat nur Männer ins 12er Kollegium berufen und nur der männliche Priester könne in persona Christi agere. Entscheidend ist wohl eher – so Beinert- die misogyne Tradition seit Aristoteles, in der die Frau als „verunglücktes Männlein“ bezeichnet wurde (mas ocasionatum).
Der Zentralismus in der Kirche ist ein falsch verstandener Papalismus: der Papst nämlich kann nur letztbindend definieren, was der Glaube der Gesamtkirche ist. Die Bezeugungsinstanzen des Glaubens sind polyphon: Hl. Schrift, Tradition, Lehramt, akademische Theologie und Glaubenssinn der Gläubigen. Jede Isolierung einer Instanz verengt den Glauben. Die Aufgabe des Papstes besteht nicht in der Vorgabe für den Rest der Kirche (determinatio fidei), sondern in der Bezeugung der Polyphonie des Glaubens (testificatio fidei). Das 19. Jahrhundert hat durch ein übersteigertes Sicherheitsdenken das „petrinische Syndrom“ verursacht. Die disziplinäre Überdehnung der päpstlichen Autorität hat zur Rezeptionsstörung auf Seiten der Gläubigen geführt. Bis 1870 galten oberinstanzliche Verlautbarungen als unmaßgeblich, wenn sie von den Rechtssubjekten abgelehnt wurden. Nun gelten sie als maßgeblich – trotz Ablehnung durch die Betroffenen.
Die Traditionsgebundenheit der Kirche zeigt sich als Fortschrittsbereitschaft um des Evangeliums willen.
Hat Beinert einen Lösungsvorschlag?
Ja, eine Kirche, die abrüstet und vom Klerikalismus Abschied nimmt. Er nennt sie die nackte Kirche. Jesus war in den entscheidenden Situationen seines Lebens nackt: bei der Geburt, der Beschneidung, der Taufe und am Kreuz. Die Kirche sollte dem nackten Jesus nachfolgen. Am besten hat es Bernhard von Clairvaux in seinem Schreiben an Papst Eugen ausgedrückt: „Wische die Schminke dieser flüchtigen Ehre und den Schimmer eines schlecht gefärbten Ruhmes weg und besinne dich nackten Geistes auf deine Nacktheit, denn nackt kamst du aus dem Schoß deiner Mutter hervor. Oder kamst du schon mit der Mitra zur Welt?“
Die Reformvorschläge von Beinert sind geprägt von einer tiefen Enttäuschung über die reale Situation der Kirche und zugleich von einer unverbrüchlichen Glaubenshoffnung. 1 Petr 3,15 übersetzt er so: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der Rechenschaft fordert über den rationalen Grund der Hoffnung, die euch erfüllt.“ Die Kirche fordert kindlichen Gehorsam, der Theologe will Gründe. Die Gläubigen ebenso. Das ist mit eine Ursache der Kirchenkrise.
Die scheinbar paradoxe Lösung lautet knapp und einfach: „Die Traditionsgebundenheit der Kirche zeigt sich als Fortschrittsbereitschaft um des Evangeliums willen.“ (170) Wer Tradition sagt, sollte Fortschritt wollen und wer Fortschritt sagt, sollte die Tradition kennen.
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Erich Garhammer, Prof. Dr., war Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg von 2000 bis 2017, Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ (2004-2021) und Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.
Aktuelle Veröffentlichung: Erich Garhammer, Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird Joseph Ratzinger/Benedikt XVI, Würzburg 2023.
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