Der 1924 in Würzburg geborene jüdische Dichter Yehuda Amichai hätte in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert. Burkhard Hose erinnert und gibt einige Gedichte zu lesen.
Ich wurde 1924 geboren. Wäre ich eine Geige meines Alters,
so gehörte ich nicht zu den guten. Als Wein wäre ich sehr gut
oder völlig sauer. Als Hund wäre ich tot. Als Buch
finge ich an, teuer zu werden, oder ich wäre längst weggeworfen worden.
Als Wald wäre ich jung. Als Maschine würde ich belächelt.
Und als Mensch bin ich sehr müde…[1]
Yehuda Amichai war noch keine 60 Jahre alt, als er diese Zeilen schrieb. Sie stammen aus einem Gedicht, das den schlichten Titel „1924“ trägt und das wie so viele seiner Gedichte Gegensätze in sich vereint: Traurigkeit und Ironie, Alltägliches und Überzeitliches, Vergeblichkeit und Optimismus.
Mein Volk lebt
In wenigen Wochen wäre der große Nationaldichter Israels 100 Jahre alt geworden. Am 3. Mai 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren, emigrierte er als Zwölfjähriger mit seiner Familie ins britische Mandatsgebiet Palästina, ab 1937 hatte er seinen Lebensmittelpunkt in Jerusalem. Dort starb er am 22. September 2000. In Erinnerung bleibt er mit dem Namen, den er sich zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Unabhängigkeits- bzw. Befreiungskrieges 1947 gewählt hatte: Amichai (deutsch: „Mein Volk lebt“).
Der amerikanische Literaturwissenschaftler und Hebraist Robert Alter sagt über seinen Freund, dessen Werke in 40 Sprachen veröffentlicht wurden, er sei wahrscheinlich der am meisten übersetzte hebräische Dichter seit König David. Noch manch andere Superlative ließen sich anfügen. Neben zahlreichen Ehrungen erhielt Amichai 1982 die bedeutendste Auszeichnung des Staates Israel im kulturellen Bereich, den Israel-Preis. Heute gilt der nach dem Dichter benannte Amichai-Preis in Israel als die wichtigste Ehrung für hebräische Literatur. Mehrfach stand Amichai auf der Liste potentieller Kandidat*innen für den Literatur-Nobelpreis.
Stimme der Menschlichkeit
Bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Yitzhak Rabin zitierte der Preisträger in seiner Dankesrede die ersten Zeilen des Amichai-Gedichts Gott hat Erbarmen mit Kindergartenkindern[2]. Die moralische Autorität des Lyrikers reichte bis hinein in eine legendäre Urteilsbegründung des Obersten Gerichtshofes in Israel, in der die Richter Amichais Gedicht Der Ort, an dem wir recht haben[3] anführten, um gegenüber abstraktem Recht auch die Stimme der Menschlichkeit sprechen zu lassen.
Wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht den Nazis entkommen wäre? Diese Frage bewegte Amichai wie andere seiner Generation, die nicht in den Konzentrationslagern ermordet worden waren. Wie wäre es gewesen, wenn er Hana, seine 15 Jahre jüngere Frau, mit der er in zweiter Ehe bis zu seinem Tod verheiratet war, nicht in Israel, sondern in Auschwitz kennengelernt hätte? Die Traurigkeit und die Bürde, die alle Entkommenen und Überlebenden ihr Leben lang begleiteten, spricht bei Amichai aus so vielen Gedichten, auch aus diesem, das Hana gewidmet ist:
Beinahe ein Liebesgedicht
Wenn meine Eltern, und wenn deine Eltern
nicht nach Israel eingewandert wären
1936,
hätten wir uns getroffen 1944
– dort, auf der Rampe von Auschwitz.
Ich 20 Jahre alt.
Du 5 Jahre alt.
Wo ist Mame?
und Tate?
Wie heißt du?
Channahle.[4]
Irgendwie im Leben zurechtkommen
Amichai verwies immer wieder darauf, er habe seine Gedichte einfach gebraucht, um irgendwie im Leben zurechtzukommen. Und dies galt nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Shoah. Er selber verstand seine Gedichte deshalb eher als Lebenshilfe denn als bewusstes literarisches Schaffen – in einem Leben, das vor allem von vielen Kriegen und von der Liebe geprägt war. Häufig konnte man ihn bei Veranstaltungen oder in Interviews sagen hören, es sei mit einem guten Gedicht wie mit einem Gebet: Den einen helfe es, anderen helfe es eben nicht.
Ohnehin hielt Amichai Gebete für wichtiger als die Religionen, zu denen Amichai durchaus ein kritische Distanz pflegte. Gebete blieben, so meinte er, während die Götter kämen und gingen. So wie der Alltag der Menschen bleibt. Und gerade diese Haltung machte ihn zu einem Dichter, der nicht in abgehobenen Literaturzirkeln gelesen wurde, sondern mit dessen Worten sich in Israel bis heute Menschen durch alle Bevölkerungsschichten und in allen Generationen identifizieren.
Ein kleines Grabsteinfragment
Persönlich habe ich das immer wieder erlebt, als ich Assistent bei Karlheinz Müller, einem engen Freund Amichais und langjährigem Würzburger Professor für Biblische Einleitung und Biblische Hilfswissenschaften war. Müller hatte Kontakt zu Yehuda Amichai aufgenommen, nachdem 1987 in Würzburg beim Abriss eines Gewerbegebäudes aus dem Mauerwerk 1456 jüdische Grabsteine und Grabsteinfragmente hervorgetreten waren – die größte Hinterlassenschaft eines mittelalterlichen jüdischen Friedhofs weltweit. Für Müller begann eine Jahrzehnte dauernde Forschungsarbeit an den Steinen, über deren Inschriften nachgewiesen werden konnte, dass die Würzburger Gemeinde ein zentraler Ort jüdischer Gelehrsamkeit im mittelalterlichen Europa war[5].
Als sich Müller dieser Bedeutung bewusst wurde, schlug er eine symbolische Brücke zwischen der Weisheit der jüdischen Tradition des Mittelalters und dem großen jüdischen Dichter der Gegenwart, der in eben dieser Stadt geboren worden war und von dem Müller sagte, er sei für ihn „der Lehrer nach allen Lehrern“ geworden[6]. Er schenkte Amichai aus dem mittelalterlichen Fund ein kleines Grabsteinfragment. Auf ihm steht nur „Amen“ und es liegt noch heute auf einem Tisch in Jerusalem, der lange der Schreibtisch Yehuda Amichais war. Aus dieser unkonventionellen Geste entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die sich auch darin ausdrückte, dass Müller begann, Amichais Gedichte zu übersetzen.
Wie ein roter Faden
Seine Übersetzungen glich der Theologe in wöchentlichen Telefonaten, die sich zu einem verlässlichen Ritual entwickelten, mit dem Dichter ab. Meinen Lehrer bewegte dabei mehr als literarisches Interesse. Für ihn hielten die Gedichte, die mit vielen Anlehnungen an das biblische Hebräisch und an die Bilder der Bibel arbeiteten, all das bereit, was sich Müller eigentlich von der Religion erwartete und dort so selten fand: Sie halfen dabei, das Leben zu bewältigen und waren deshalb im besten Sinne nützlich. Und Amichai fing an, sich mit dem Amen-Stein zu beschäftigen, den ihm Müller überlassen hatte.
Ich erinnere mich noch genau an den Zeitpunkt, als mir Müller davon erzählte, Amichai habe ein Gedicht geschrieben, in dem dieser Stein vorkomme. Am Ende seines Lebens wurde der Stein aus Würzburg zu einem der vielleicht prägendsten Motive in den letzten Gedichten des großen Lyrikers. Ein Foto von dem Grabsteinfragment findet sich so auch auf dem Cover der letzten Gedichtsammlung, die zu Amichais Lebzeiten veröffentlicht wurde[7]. Der „Amen-Stein“ durchzieht in dieser Sammlung wie ein roter Faden die gesamte Abfolge der Gedichte, die immer wieder mit den Worten ansetzen „Auf meinem Tisch liegt ein Stein…“.
Sich mit den Dingen verbinden
Amichai konnte hinter dem Stein mehr und anderes sehen als nur ein Bruchstück aus einem vor Jahrhunderten verloren gegangenen Friedhof. Er hatte die Gabe, sich selbst von den Dingen, die er sah, berühren zu lassen und sich gleichsam mit ihnen zu verbinden. Der Stein und er selbst wurden im Gedicht Teil eines großen Ganzen, einer Ordnung hinter den Dingen. Amichai ließ so aus einem kleinen Fragment eines jüdischen Grabsteins zwischen den Zeilen etwas Optimistisches erwachsen, das auch anderen dabei half, die Zeitumstände und das eigene Leben zu bewältigen – bis hinein in höchste politische Kreise. Bei seinem Staatsbesuch in Deutschland 2022 zitierte der israelische Staatspräsident Herzog zu Beginn seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag aus einem dieser Gedichte, die sich dem „Amen-Stein“ auf Amichais Tisch widmen, folgende Zeilen:
Auf meinem Tisch liegt ein Stein, darauf steht ‚Amen‘,
dreieckiges Bruchstück von einem jüdischen Friedhof,
vor etwa tausend Jahren zerstört in der Stadt, in der ich geboren wurde.
Ein einziges Wort, ‚Amen‘, tief in den Stein eingemeißelt,
‚Amen‘, hart und endgültig, Stein des Zeugnisses über alles,
was je gewesen und nie mehr sein wird,
‚Amen‘, weich und melodisch wie bei einem Gebet.
Amen und Amen. Möge es so sein.[8]
Wie eine Brücke
In Amichais Zeilen entdeckt auch Herzog so etwas wie eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen dem Land, in dem Amichai geboren wurde und aus dem er knapp dem Tod entkommen ist und Israel, dem Land, das ihm zur Heimat geworden ist.
Auf meinem Tisch liegt ein Stein… Diese Worte, die fast zu einem Gebet geworden sind, prägen auch den Titel der Festschrift, die im Mai im Rahmen einer international geprägten Festwoche aus Anlass des 100. Geburtstages Yehuda Amichais in Würzburg vorgestellt wird. In der Stadt, in der er geboren wurde…
Burkhard Hose ist Hochschulpfarrer in der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg und katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken e.V.
Festschrift zum 100. Geburtstag
[1]Aus: 1924, Yehuda Amichai, Stunde der Gnade [hebr. Sch’at hachessed], Jerusalem/Tel Aviv 1982, S 69. Das Gedicht in der deutschen Übersetzung von Karlheinz Müller stammt aus der Festschrift, die ab dem 13. Mai 2024 im Buchhandel erhältlich ist: Burkhard Hose, Daniel Osthoff, Yona-Dvir Shalem (Hrsg.), Auf meinem Tisch liegt ein Stein…[On my desk there is a stone…], Würzburg 2024, S. 321.
[2]https://www.nobelprize.org/prizes/peace/1994/rabin/lecture/ Erstmals wurde das Gedicht veröffentlicht in: Yehuda Amichai, Jetzt und in den anderen Tagen [hebr. Achshav Uve-Yamim HaAharim], Jerusalem 1955. In deutscher Übersetzung von Karlheinz Müller ebenfalls in: Hose, Osthoff, Shalem (Hrsg.), S. 293.
[3]Das Gedicht findet sich in deutscher Übersetzung in: Jehuda Amichai, Zeit. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer, Frankfurt am Main 1998.
[4]Hose, Osthoff, Shalem (Hrsg.), S. 329.
[5]Die 25 Jahre andauernden Forschungsarbeiten mündeten in einer mehrbändigen Edition: Karlheinz Müller, Schim’on Schwarzfuchs, Avraham Reiner (Hrsg.), Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147 – 1346), Willkomm-Verlag Stegaurach 2012, Reihe IX (Darstellungen aus der fränkischen Geschichte), 3 Bände.
[6]Karlheinz Müller, Der profane Prophet, in: Leonhard-Frank-Gesellschaft Würzburg, Ein kleines Geburtstagspräsent aus Würzburg. Festgabe für Jehuda Amichai zum 75. Geburtstag, Würzburg 1999, S. 52.
[7]Yehuda Amichai, Offen, Verschlossen, Offen [hebr. Patuach Sagur Patuach], Tel Aviv 1998.
[8]https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw36-besuch-herzog-rede-908976
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