An der Odenwaldschule erlitten hunderte Schüler*innen sexualisierte Gewalt. Wie dies möglich wurde und warum Heilsversprechen auch im säkularen Kontext gefährlich sind, erklärt Hildegund Keul.
„Man braucht nicht zu sterben, um ins Paradies zu kommen.“ Mit diesen verlockenden Worten wirbt der „Wohnpark Ober-Hambach“, eine frisch renovierte Wohn- und Ferienanlage bei Heppenheim, für unvergessliche Urlaubstage im Odenwald. Aber vielleicht kommen einem die romantischen Fachwerkhäuser und die idyllische Waldlandschaft unheimlich bekannt vor? Der angeblich traumhafte Park ist Nachfolger jener Odenwaldschule, an der 500 bis 900 Schüler*innen Opfer sexueller Gewalt wurden. Diese Wahrheit verschweigt die Homepage: Man braucht nicht zu sterben, um in die Hölle zu kommen.
Am 8. Juli 2010 sollte die Gründung der „Odenwaldschule Ober-Hambach (OSO)“ vor damals einhundert Jahren groß gefeiert werden. Die Feier verlief aber ganz anders, denn erneut hatten sich Opfer von sexuellem Missbrauch gemeldet. Die über Jahrzehnte unbehelligt betriebenen Verbrechen wurden öffentlich bekannt. Schon lange zuvor hatten etliche Schüler versucht, das Schweigen zu brechen. Selbst als die „Frankfurter Rundschau“ im November 1999 die Vorwürfe gegen Gerold Becker veröffentlichte, blieb die öffentliche Resonanz aus. Die Vertuschung funktionierte auf allen Ebenen. Erst das Bekanntwerden des Missbrauchs in der katholischen Kirche schuf eine Öffentlichkeit, die bereit war, das Unsägliche zu hören. Und erst 2019 wurde mit Publikation zweier wissenschaftlicher Studien[1] die Mindestzahl der Opfer (1965 bis 1998) von zuvor ‚mindestens 132‘ auf ‚bis 900‘ und damit drastisch erhöht.
Religiöse Deutungsmuster und Machtprozesse gaben der Gewaltsamkeit der Täter Raum.
Wie war eine solche Gewaltsamkeit möglich, die niemand sehen wollte, obwohl so viele Menschen auf diese Schule schauten? Die Frage ist auch theologisch aufschlussreich. Die Schule, die 2015 insolvent geschlossen wurde, war ein säkularer Ort. Aber es waren die religiösen Deutungsmuster und Machtprozesse, die der Gewaltsamkeit Tür und Tor öffneten. Im Zentrum standen: Becker, der Hohepriester der Reformpädagogik; „die Auserwählten“, die Becker bestimmte; und das große Heilsversprechen der Reformpädagogik, das blind machte für die Gewaltsamkeit in den eigenen Reihen.
Der Hohepriester der Reformpädagogik
Gerold Becker, ein pädokrimineller Intensivtäter, der die Odenwaldschule von 1972 bis 1985 leitete, hatte keinerlei pädagogische Qualifikation und damit keine Chance an einer staatlichen Schule. Aber er war Theologe, der die Klaviatur des Heiligen virtuos zu spielen verstand. Dies nutze er, um die Jugendlichen in seine Fallen der Gewalt zu locken und um das Netzwerk in Politik und Medien, Wissenschaft, Kultur und Kirche hinein zu stärken. Marion Gräfin Dönhoff, Chefredakteurin von „Die Zeit“, hielt ihre schützende Hand über ihn; Richard von Weizsäcker pflegte gute Beziehungen zur OSO; Becker war Gast auf Deutschen Evangelischen Kirchentagen, war sogar Mitglied in dessen Präsidium (1993-1997) sowie Mitglied der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung (1991–97).
Viele Hoffnungen richteten sich im 20. Jh. auf die Reformpädagogik, die eine ganz andere Erziehung von Kindern versprach, mehr auf Nähe und Kommunikation, Augenhöhe und Persönlichkeitsentwicklung, Kreativität und Freiheit setzte. Die Odenwaldschule galt als ihr „Leuchtturm“ und fand 1963 als „UNESCO-Projektschule für Menschenrechte und Demokratie“ höchste Anerkennung. Alle Hoffnungen der Reformpädagogik verkörperten sich wenige Jahr später im Schulleiter Becker. Kommunikationsstark und charmant überzeugte er Eltern, Schulverein, Förderer und staatliche Behörden davon, dass er als Schulleiter ein wahrer Glücksfall sei. Sogar die Schüler*innen konkurrierten um seine Gunst. Kritische Lehrkräfte wurden in die Kündigung gemobbt. Becker traute man hingegen alles zu, was die Schule brauchte, um sie zu einem Ort zukunftsweisender Schulerziehung, Jugendbildung und Eliteförderung zu machen.
Gerold Becker hatt an der Odenwaldschule eine quasi-göttliche Position inne.
Dass er immer mehr Macht (Finanzen, Personal, Lehrpläne u. v. m.) in seinen Händen konzentrierte, war im System akzeptiert. Die Erwachsenen brachten ihm unbedingtes Vertrauen, überschwängliche Bewunderung und grenzenlose Verehrung entgegen. Die Keupp-Studie spricht von einer „allenthalben anzutreffenden Vergötterung“ (298) und greift damit zu Recht auf religiöses Vokabular zurück. Wenn jemand in der Haltung agiert, dass alles, was er sagt und tut, gut sei, und dies von seinem sozialen Umfeld anerkannt wird, so erlangt er eine quasi-göttliche Position. Becker war der Hohepriester, der seine Auftritte perfekt rituell zu inszenieren verstand. In seinen Vorträgen, Publikationen und Schulevents zelebrierte er die hohen Ideale der Reformpädagogik.
Die Gewaltsamkeit des Täters wurde möglich, weil die Reformpädagogik und ihre Vertreter als etwas Heiliges galten. Wenn man etwas als heilig verehrt, will man es unter allen Umständen schützen. Hier zeigt sich eine Parallele zur Vertuschung in der katholischen Kirche: man will die Institution schützen, die das Heilige verkörpert, und ist bereit, Opfer dafür zu bringen. Selbst viele Eltern glaubten mehr den Vertretern der Institution als ihren eigenen Kindern. Man hätte das Heilige opfern müssen statt der Kinder. Aber das Gegenteil geschah.
Die Auserwählten. Schreckliche Ambivalenz heiliger Erfahrungen
Aus Sicht der Schüler*innen erschienen Becker und sein Tätersystem unverwundbar. Dies machte eine Aufdeckung der Verbrechen im Schulbetrieb unmöglich. Einen Unverwundbaren können Schüler*innen kaum attackieren, ohne selbst größten Schaden zu erleiden. Die Odenwaldschule ist damit ein Lehrstück für die Utopie der Unverwundbarkeit, die zu ihrer Aufrechterhaltung Gewalt erfordert. Die diversen Vertreter*innen des Systems wehrten alle Angriffe ab und wollten den Hohepriester unangreifbar halten, um den Abstieg der Schule zu verhindern – und um weiterhin selbst an die Heilsversprechen der Schule glauben zu können. Becker wirkte an dieser Dynamik mit. Um unverwundbar zu bleiben, musste er immer vulneranter werden. Er missbrauchte und vergewaltigte die Jugendlichen und bezeichnete sie ihren Eltern gegenüber als Lügner, wenn sie einen Missbrauch anzeigten. Das Bestreben, unverwundbar zu bleiben, erzeugte eine Spirale der Gewalt.
Die Odenwaldschule besuchen zu dürfen galt als Akt der Erwählung.
In dieser Spirale waren die betroffenen Schüler*innen auf perfide Weise gefangen. An die OSO zu kommen galt als Akt der Erwählung. Die Schüler*innen entwickelten ein elitäres Bewusstsein mit der Überzeugung, den Überblick des „urbi et orbi“ (Originalton eines Schülers) zu haben. Die Stadt und der Weltkreis lagen ihnen zu Füßen. Der gesellschaftliche Distinktionsgewinn steigerte sich, wenn Becker ohne Auswahlverfahren, d. h. unter Verletzung der Schulregeln, einen besonders vulnerablen Jugendlichen persönlich aufnahm. Sehr treffend trägt der Fernsehfilm von Christoph Röhl (2014) den Titel „Die Auserwählten“, auch die Keupp-Studie verwendet diesen religiösen Begriff, statt säkular von Ausgewählten zu sprechen.
In der Tat ist die Erwählung ein Akt in der ambivalenten Welt des Heiligen. Der Hohepriester erwählt, und er zeigt den Auserwählten, dass sie in seinen wissenden Augen etwas Besonderes sind. So verlaufen Erwählungen in Religionsgemeinschaften, aber auch in säkularen Kontexten. Dass diese Erfahrung des Heiligen die Auserwählten beflügelte, steigerte ihre Opferbereitschaft. Das prekäre Verhältnis von Auserwählung und Opferbereitschaft verstrickte die Jugendlichen so in den Missbrauch, dass der „Mythos der Einvernehmlichkeit“ greifen konnte. Für die überwältigende Erfahrung des Erwähltseins nahm man sogar Gewalt in Kauf, die nicht als das wahrgenommen wurde, was sie war. Für die Erwählung konnte man ‚ruhig ein bisschen leiden‘. Der Akt des Missbrauchs war die ‚Krönung‘ der Erwählung, denn er geschah in größtmöglicher Nähe als intime Erfahrung.
An diesem Punkt schlägt das Heilige besonders hart zu. Der französische Religionstheoretiker Georges Bataille definiert Religion als „Suche nach der verlorenen Intimität des Lebens“[2]. Diese Intimität strebte Becker als Missbrauchstäter an, indem er seine Opfer ebenfalls in diese Intimität hineinzog. Er wollte den eigenen Orgasmus, indem er den Orgasmus seiner Opfer herbeiführte. Das Erwähltsein hielt die Victims in der Gewaltspirale gefangen, weil es die Bereitschaft zum Sacrifice erhöhte und dadurch die Victimisierung verstärkte.
Die Betroffenen waren in einer Spirale aus Erwählung und sexualisierter Gewalt gefangen.
Der Missbrauch war eine Verbotsüberschreitung, die für den Täter die Erotik steigerte. Indem er die Grenzen der Jugendlichen durchbrach, wurden sie in die verlockende und gefährliche, beglückende und schmerzliche, verheißungsvolle und zugleich angstbesetzte Welt der Erotik hineingerissen. In dieser Welt, die zur Welt des Heiligen gehört, waren sie dem Täter ausgeliefert und erlitten die intime Kommunikation der Gewalt. Das Entsetzliche der Verbrechen in der Odenwaldschule ist, dass hier junge Menschen auserwählt waren, um geopfert zu werden. Dass sich der Missbrauch in der Welt des Heiligen abspielt, erzeugt das Abgründige und Monströse des Missbrauchs.
Das große Heilsversprechen
Im Mittelpunkt der Odenwaldschule samt ihren gesellschaftlichen Netzwerken stand ein großes Heilsversprechen. Der „Leuchtturm der Reformpädagogik“ gab vor, dass an diesem Ort alles wieder gerichtet und alles geheilt werden kann. Ob die Kinder sozial verwundet und von Jugendämtern überwiesen wurden; ob sie aus zerbrochenen Familien kamen oder schmerzliches Scheitern im Regelschulbetrieb erfahren hatten; ob ihre Eltern keine Zeit für sie hatten (oder sich nicht nahmen); ob sie aus finanziell armen Familien stammten; welche Verwundung auch immer sie vor ihrer Zeit an der Schule hatten, allen galt das Versprechen, dass diese Schule das alles wieder hinkriegt. Die Schüler*innen galten daher als „Sonnenkinder“ auf dem Weg in glanzvolle Karrieren.
Als Theologe vermochte es Becker in besonderer Weise, auf die Heilshoffnungen mit Heilsversprechen zu antworten. Heute kann man sich nur wundern, wie so viele Menschen der Utopie anhingen, die den Eltern und Unterstützern der Schule das Blaue vom Himmel versprach. Heilserwartungen wurden funktionalisiert, um ein bestens funktionierendes System pädokrimineller Gewalt zu etablieren. Becker reihte ein utopisches Heilsversprechen an das andere, als sei die Schule ein Paradies auf Erden. Da ist es wieder, das Paradies, die Utopie. Heil verkünden, aber Unheil bringen – hierin hatte die Odenwaldschule dasselbe Problem wie die katholische Kirche.
Als drei (von vielen) Konsequenzen zeigen sich:
- Vorsicht bei Hohepriestern, die im System unverwundbar gehalten werden; sie erzeugen Vulneranz.
- Erwählungen haben ihre gefährlichen Seiten, weil sie von allen Seiten die Opferbereitschaft erhöhen.
- Wer Heil verkündet, braucht einen besonders scharfen Blick für das Unheil, und zwar in den eigenen Reihen.
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Der Beitrag wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041. Siehe auch www.vulnerabilitätsdiskurs.de.
[1] Keupp, Heiner u. a.: Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt. Eine sozialpsychologische Perspektive. Wiesbaden: Springer 2019; Brachmann, Jens: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019.
[2] Bataille, Georges: Theorie der Religion. München: Matthes & Seitz, 1997, 50.
Dr. Hildegund Keul ist apl. Professorin für Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg und leitet das Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041.
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