Nicht nur die Bischöfe scheinen handlungsunfähig – auch die sogenannten Laien. Scheitert daran die Reform der katholischen Kirche? Von Peter Barzel
Stellen wir immer noch die falschen Fragen? Weil wir uns nicht aus dem Unten befreien können? Weil wir uns noch nicht ans Eingemachte wagen – an die Diskussion der katholischen Glaubenslehre, der Glaubensinhalte?
„Endlich!“, dachte ich, als die Frauen in der katholischen Kirche mit Maria 2.0 aufstanden. Endlich stehen die auf, die diese Kirche im Alltag tragen, die treuesten der Treuen. Die Dienenden und Machtlosen. Inzwischen gehen auch diese – wenn sie sich denn trauen. Zu stark scheint die biografische Prägung in einer Volkskirche, die lange Halt gab und Heimat war – allen Unbilden zum Trotz.
Nicht reformierbar.
Gegen ihre Hoffnung auf Reformen und Erneuerung der Kirche stellen Theologen und Kirchenrechtler wie Norbert Lüdecke ihre Analysen und Thesen, dass diese Kirche am Ende sei, nicht reformierbar, der synodale Weg nur ein Täuschungsmanöver zur Vertröstung. Ferdinand Kerstiens, katholischer Priester und u.a. Mitglied im reformerischen Freckenhorster Kreis, widerspricht den Thesen Lüdeckes. Die kirchenrechtliche Betrachtung greife zu kurz. Der Widerstand von unten in den vergangenen Jahrzehnten habe die gelebte Wirklichkeit in der Kirche schon verändert.
Ja, eine rein kirchenrechtliche Betrachtung greift auch mir zu kurz. Doch auch ohne kirchenrechtliche Betrachtung führen mich meine Beobachtungen zum gleichen Ergebnis wie Lüdecke. Diese Krise der Kirche geht viel tiefer. Ich bin Jahrgang 1957 und hatte das Glück eines kritischen, aber gläubigen Elternhauses und der Begegnung mit positiv prägenden, frei denkenden Menschen auch in der katholischen Welt. Ich kann Kerstiens biografisch begründete Sicht von Lüdeckes Buch „Die Täuschung“ nachvollziehen, aber ich teile sie – nicht mehr. Es spricht daraus das Prinzip Hoffnung, dass die da oben genug verändern, damit sich für alle etwas bessert.
Rheinischer Katholizismus – reformerisch oder unglaubwürdig?
Ich bin aktiv mit Maria 2.0 unterwegs und einer der Initiator*innen des Offenen Briefes von Gemeindemitgliedern zu Pfingsten 2021 in Düsseldorf-Gerresheim, die sich gegen die Firmung in unserer Gemeinde St. Margareta durch Kardinal Woelki gewandt haben. Bei einem Interview zu unserem Offenen Brief hat mich die Bemerkung einer älteren Journalistin, die für das britische Wochenmagazin The Tablet berichtete, sehr nachdenklich gemacht: Sie beschrieb, wie Kerstiens auch, dass wir uns an viele Regeln der römisch-katholischen Kirche in unserem Leben nicht gehalten, sie einfach ignoriert haben. (Beichte, Unfehlbarkeit, Pille etc.) Bei uns umschreibt man diese Haltung humorvoll als „rheinischen Katholizismus“.
Kerstiens meint, diese Haltung habe zu Änderungen der Kirchenoberen und in der Kirche geführt. Das kann man so sehen. Ich denke, dass auch das zu kurz greift, zu sehr Binnensicht ist, zu sehr im Unten bleibt – und für die Jugend unglaubwürdig ist. Die Journalistin erzählte von den kritischen Fragen ihrer Enkel, wie man denn in einer Kirche bleiben könne, an deren Regeln man sich nicht halte. Ich denke, das ist der Grund, warum die Jugend weg ist aus der Kirche – was nicht heißt, dass sie nicht offen für den christlichen Glauben wäre. Schaut man in den Videokonferenzen von Maria 2.0 und bei den Protesten in die Gesichter, sind das wir Alten. Junge Katholik*innen sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen. Früher waren in kirchlichen Reformbewegungen vor allem die jungen Menschen – als wir noch jung oder jünger waren.
Biografische Prägung – im Oben wie im Unten.
Diese Kirche ist eine Institution der Macht. Und nur deshalb braucht man ein Kirchenrecht. Wir leben aktuell noch mit den Überresten einer Kirche, die erst mit der Erhebung des christlichen Glaubens zur Staatsreligion auf eine einheitliche Wahrheit angewiesen war und dann über Jahrhunderte weltliche Macht ausgeübt hat. Das erste Vatikanische Konzil diente der Rettung dieser Macht gegen die Kraft der Aufklärung – u.a. mit dem Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes. Mit den Mitteln geistlichen Missbrauchs wird das System erhalten. In diesem Denken und Gefüge sind wir biografisch geprägt. Daran arbeiten wir uns heute noch ab – auch in uns selbst.
Bischöfe sind selbst Opfer und zugleich Täter dieses geistlichen Missbrauchs. Sie sind in diesem System „der heiligen Mutter Kirche“, dem sie dienen, und dessen Erhaltung über allem steht, so sehr gefangen, dass sie nicht mal zurücktreten können – selbst bei gutem Willen. Gehorsam vor Gewissen. Sie sind als Person nicht selbstverantwortlich handlungsfähig. Sonst wären Woelki, Heße und Marx doch längst zurückgetreten – egal, was der Papst dazu sagt. Marx macht ja weiter, obwohl er angibt, jetzt verstanden zu haben. Marx glaubt aber wohl, mit der Macht des erzbischöflichen Stuhls mehr verändern zu können. Und das ist das Problem. Er klebt an der Macht. Selbstüberschätzung statt Demut. Mit dem Evangelium hat das nichts zu tun. Dienen sieht anders aus. Anderen die Füße zu waschen, geht kaum von oben herab. Jesus stellt der Macht die Ohnmacht gegenüber und die Kraft der Liebe.
Doch nicht nur die Bischöfe sind handlungsunfähig, auch die „Laien“, selbst die allermeisten derer, die sich reformfreudig kritisch äußern. Denn auch die protestierenden Laien bleiben im Unten der kirchlichen Hierarchie stecken und erwarten immer noch, dass die da oben alles in Ordnung bringen. Wo bleibt der Aufstand der Gläubigen, z.B. der Mitglieder im Erzbistum Köln vor der Rückkehr von Woelki? Und auch ein Professor Lüdecke bleibt in der Analyse stecken. Wo bleiben die konkreten Vorschläge und Modelle für eine geschwisterliche Kirche? Zum konkreten Handeln fehlt auch die konkrete Perspektive.
Wer soll diese Kirche reformieren?
Die Dimension des Glaubens, der Glaubenslehre wird nahezu völlig ausgeblendet. Diese Glaubenslehre der Institution Kirche, die durchtränkt ist von Machtmechanismen, die Abhängigkeiten mit der Aussicht auf das persönliche Seelenheil schafft und die Menschen klein hält, anstatt sie zu stärken, muss erst einmal gereinigt werden. Diese Kirchenkrise ist eine Krise der kirchlichen Glaubenslehre und damit ihrer Glaubwürdigkeit und geht deshalb viel tiefer. Darüber müssen wir sprechen, uns austauschen. Ohne Denkverbote. Ohne die zu erwartenden Widerstände immer gleich zu antizipieren. Vielleicht sogar ohne Theolog*innen, die oft mehr verwirren als unterstützen. Deren Sprache sich zu oft in wissenschaftlichem Diskurs verliert und zwischen dem, was man sagen darf und was lieber (noch) nicht.
Mich hat diese Krise nicht nur angestrengt, sondern auch bereichert. Hätte ich mich sonst mit meinem christlichen Glauben so intensiv beschäftigt? Hätte ich sonst entdeckt, dass die Botschaft des Evangeliums so nah am Leben und oft so einfach ist? Aber auch so weit weg von der offiziellen katholischen Glaubenslehre. Da liegt für mich der Schlüssel.
Bleiben oder gehen? – Darum geht es nicht.
Die Reaktionen auf diese Frage zeigen die ganze Handlungsunfähigkeit der Kirchenmitglieder wie unter einem Brennglas. Angst, das Instrument der Mächtigen, beherrscht die Diskussion. Ist es nicht die – nicht unberechtigte – Angst, bei einem Austritt aus der Institution sogar bei den in der Institution verbliebenen eigenen Freund*innen und Weggefährt*innen nicht mehr ganz dazu zu gehören? Nicht mehr zu deren Glaubensgemeinschaft dazu zu gehören? Vielleicht sich gar als Schmarotzer oder Nutznießer kirchlicher Angebote zu fühlen, ohne seinen Obulus zu leisten?
Wo steht geschrieben, dass man zu Jesu Nachfolge einer Institution angehören muss? Wo steht geschrieben, dass man eine Zugangsberechtigung zur Teilnahme am Abendmahl braucht? Wo steht geschrieben, dass der Weg in den Himmel nur über die Mitgliedschaft in der römisch-katholischen Kirche möglich ist? Und Vorsicht Ironie: In die unteren Etagen des Himmels auch durch die evangelische oder alt-katholische Kirche? Lasst uns das gegenseitig fragen und ehrlich antworten. Ihr und wir, die (noch) bleiben: Wie fühlt sich das an, wenn Freund*innen und Weggefährt*innen aus der Institution austreten? Ändert sich da etwas? Wenn ja, was? Ihr und wir, die ausgetreten sind: Wie fühlt sich das an? Ändert sich da etwas? Wenn ja, was? Hält uns der Taufschein zusammen oder der Glaube?
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Text: Peter Barzel, Ingenieur, Technischer Autor, Fachjournalist, Mitglied und ehemaliger Leiter im katholischen Akademiker-Verband ND (früher Bund Neudeutschland), Mitinitiator des Offenen Briefs an Kardinal Woelki (Düsseldorf, Pfingsten 2021)
Bild: Lisa Kötter, Schweigen war gestern, München 2021 (Ausschnitt aus dem Cover).