Oscar Romeros Weg als Hirte einer verfolgten Gemeinde zeugt von erstaunlichen Lernprozessen. Peter Bürger ist überzeugt: Sein Vorbild eröffnet der Weltkirche eine Perspektive der Befreiung aus jenem Klerikalismus, der die Lernunfähigkeit der Hierarchie noch immer zementiert.
Am 24. März 1980 wurde Oscar Romero ermordet. Sofort erfolgte seine Heiligsprechung durch Obdachlose am Bischofssitz, die Armen Lateinamerikas und eine universale Kirche von unten. Das Lebenszeugnis des salvadorianischen Bischofs erwies sich als Quelle von Ermutigung, Inspiration und Dankbarkeit auf dem ganzen Erdkreis. Gerade auch in den „reichen Ländern“ beriefen sich ab 1980 Initiativen und Netzwerke im Widerstand gegen die Religion des Neoliberalismus auf den neuen Heiligen. Dieses globale Geschehen einer „Kanonisation“ (Heiligsprechung) von unten ist einzigartig in der gesamten neueren Kirchengeschichte.
Die Kreise der Mächtigen innerhalb der Kirche blockierten anhaltend das amtliche Seligsprechungsverfahren.
2008, als der Name Oscar Romeros längst Eingang gefunden hatte in den Festkalender von Anglikanerinnen, Altkatholiken, Lutheranerinnen und Basisgemeinden, ließ der Vatikan noch immer verlauten, es bestünden gravierende Zweifel, ob ein Martyrium vorliegt. Die Kreise der Mächtigen innerhalb der Kirche, die Romero schon zu Lebzeiten verfolgt hatten, blockierten anhaltend das amtliche Seligsprechungsverfahren. Sie ließen sich hierfür immer wieder neue Gründe einfallen. Der Kontext: Jahrzehnte lang blieben bedeutsame Früchte des letzten Konzils, wie sie sich im lateinamerikanischen Aufbruch hin zu einer Kirche der Armen zeigten, in der Leitungsebene der Weltkirche ausgeblendet.
Drei Jahre später baten von Deutschland aus die Christliche Initiative Oscar Romero, die Ökumenische Initiative Kirche von unten, die Bewegung Wir sind Kirche und weitere Netzwerke um internationale Unterstützung für einen Ökumenischen Aufruf „Gedenkt der Heiligsprechung Oscar Romeros durch die Armen der Erde“. Dieser Text zum 1. Mai 2011 war ökumenisch angelegt und bezeugte die Verehrung Romeros auf der Grundlage der Seligpreisungen Jesu, die alle Christ*innen verbinden. Er enthielt keine Forderung an die Kirchenleitung oben, sondern rückte allein eine Anerkenntnis des Votums der Armen in den Mittelpunkt.
„Wenn du mit dem Namen Oscar Romeros anklopfst, dann öffnen sich überall Türen in der Welt…“
Die unglaubliche Unterstützung aus der ganzen Welt, die uns im Zeitraum von nur zwei Wochen erreichte, ist dokumentiert. Basischrist*innen, Ordensleute und mehrere Ländergruppen der internationalen Kirchenreform-Bewegung stellten insgesamt sieben Sprachversionen zur Verfügung. 394 Personen und 72 Initiativen oder Einrichtungen aus über 20 Ländern signierten den Aufruf. Zu den Unterzeichnenden gehörten u.a. die Bischöfe Luís Flávio Cappio OFM (Brasilien) und Jacques Gaillot (Frankreich) sowie die Theologen*innen Tissa Balasuriya aus Sri Lanka, Leonardo Boff, Eugen Drewermann, Friedhelm Hengsbach SJ, Franz Josef Hinkelammert, Hans Küng, Carlos Mesters, Dietmar Mieth, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Fulbert Steffensky, Jon Sobrino SJ und Paulo Suess.
Das Fazit dieser Initiative lautete: „Wenn du mit dem Namen Oscar Romeros anklopfst, dann öffnen sich überall Türen in der Welt, weil Menschen guten Willens sich mit seiner Hilfe einander erkennen.“
Romero ist nicht wegen irgendeiner vagen „Liebe zu den Armen“ ermordet worden.
Erst unter Papst Franziskus hat die Weltkirche in zwei Stufen (Seligsprechung 2015, Heiligsprechung 2018) die schon vor vier Jahrzehnten von unten erfolgte Kanonisation Romeros anerkannt. Die Choreographie der offiziellen Seligsprechungsfeierlichkeiten 2015 in San Salvador fiel leider extrem klerikal aus.
Das gewählte Motto „Märtyrer der Liebe“ (statt: Märtyrer der Gerechtigkeit) gab den basiskirchlichen Gemeinschaften Anlass zum Widerspruch. Jon Sobrino, ehedem einer der theologischen Berater des neuen Heiligen, stellte klar: Oscar Romero ist nicht wegen irgendeiner vagen „Liebe zu den Armen“ ermordet worden, sondern weil er der Konfrontation mit jenen nicht aus dem Weg gegangen ist, die die Armen arm machen, unterdrücken und töten.
Ringen um Deutungshoheit: das Votum der Armen oder eine Kirche von oben als Ausgangspunkt?
Im Ringen um Deutungshoheit ist es bedeutsam, ob wir das Votum der Armen zum Ausgangspunkt nehmen oder die Interpretationen einer Kirche von oben, die Geruhsamkeit über alles schätzt und nichts Neues unter der Sonne zu sehen begehrt. Der Blick von unten führt nämlich unweigerlich auch zu Anfragen an die bestehenden Kirchenstrukturen, die sich aus dem Weg des Heiligen ergeben.
In der Alten Kirche war die Mitwirkung des „Gottesvolkes“ bei der Wahl eines neuen Bischofs gemäß Kirchenordnung zwingend.Erst ein zentralistischer Apparat kam später auf die unchristliche Idee, den Gläubigen von oben herab Hirten aufzudrängen, die sie gar nicht annehmen wollen. Als Oscar Romero neuer Erzbischof von San Salvador wurde, durften sich weder „Volk“ noch Klerus an seiner Erwählung beteiligen. Vielmehr hatte der Nuntius ihn nach Befragung der weltlichen Eliten empfohlen, woraufhin seine Ernennung durch die römische Kirchenzentrale erfolgte.
Die Armen erwählen Romero zu ihrem Bischof.
Und Romero erkannte seinerseits das Lehramt der Armen an.
Wer nun aber die Zeugnisse der Jahre 1977-1980 aufmerksam studiert, macht eine erstaunliche Entdeckung: Die Armen in El Salvador holen ihr Votum nach. Sie erwählen – durchaus auch bistumsübergreifend – Oscar Romero zu ihrem Bischof und beauftragen ihn, ihre Stimme zu werden. Romero hat diese maßgebliche Wahl angenommen. Nicht der von oben über die Köpfe der Gläubigen hinweg ernannte, sondern der von unten erwählte und beauftragte Erzbischof wurde zum Zeugen der ganzen Kirche und ist nach seinem Tod von den Armen auch heiliggesprochen geworden.
Bischof Romero erkannte nun seinerseits aber auch das Lehramt der Armen an, die den Heiligen Geist als ihren Vater (pater pauperum) anrufen dürfen: „Wir können nicht autoritär reden, sondern wir müssen zum dialogischen Nachdenken im Licht des Evangeliums einladen.“ „Ich dachte immer, dass ich das Evangelium kenne, aber jetzt [als Zuhörer beim Bibelgespräch der Kleinbauern] lerne ich, es mit anderen Augen zu lesen.“
Die Menschen lieben und segnen ihn, machen ihn stark.
Die Geschichte von Bischof Romero und die Geschichte von Gottes Leuten in El Salvador können nur zusammen gelesen werden, als eine untrennbar verbundene Geschichte. Die dogmatische Konstruktion einer klerikalen Hierarchie von oben, die die Kirche so oft gelähmt hat, suggeriert eine besondere „Amtsgnade“ von Bischöfen, die unabhängig sein soll von den Charismen in der Gemeinde der Freundinnen und Freunde Jesu, unabhängig sogar von der Bestellung zum Dienst in einem konkreten – leibhaftigen – Sozialgefüge der Ortskirche.
Oscar Romeros Wirken als Leiter des Erzbistums San Salvador zeugt dagegen vom „Geheimnis des geliebten Hirten“: Die Menschen lieben und segnen ihn, machen ihn stark. All jene fruchtbaren Energien, die der Klerikalismus so oft in der Kirche erstickt, können frei fließen. Trotz seines belastenden Amtes ist Romero ausgeglichener und zufriedener als früher. Die Gefahren und Christenmorde nehmen zu, doch der ehedem ängstliche Seelsorger wird nicht mehr von Angst blockiert.
Romero geht offen auf die Menschen zu, bittet überall um Hilfe und fordert dazu auf, ihm seine Schwächen und Fehler mitzuteilen.
Oscar Romero, lange ein verschlossener, misstrauischer, skrupulöser und keineswegs lebensfroher Kleriker, wirkt als Bischof der Hauptstadt ganz anders auf seine Mitmenschen: Er geht offen auf sie zu, bittet überall um Hilfe und fordert dazu auf, ihm seine Schwächen und Fehler mitzuteilen. Dieser hochrangige Kirchenmann, der sich selbst als Sünder bezeichnet, kann zuhören, ist fähig, sich helfen zu lassen, und fragt unentwegt andere um Rat.
Ein soziales und prozesshaftes Verständnis von „Amtsgnade“, in dem auch Widersprüche, Verwundungen und Heilungserfahrungen von Amtsträgern zur Sprache kommen, ist nun allerdings mit dem statischen Machtkomplex der Priesterselbstanbetung schier unvereinbar. Hieraus erklären sich Panik und Dramatik beim hierarchischen Blick auf die Wandlungen, Brüche und Diskontinuitäten in Romeros Biographie.
Ein Bischof bekehrt sich und verdankt dies den „niedrigsten Gliedern“ der Kirche. Klerikal undenkbar!
Schon zu Lebzeiten hatten Denunzianten der Kurie gemeldet, der Erzbischof selbst spreche gar von einer „Bekehrung“. Das aber darf es gar nicht geben, dass ein Bischof, der doch dank heiliger Weihe die höchsten Gnadengaben besitzt, sich bekehrt und dies womöglich den „niedrigsten Gliedern“ der Kirche verdankt. In solcher Betrachtungsweise geht es – bis zur Stunde – einzig darum, die bestehenden Machtverhältnisse in der Kirche abzusichern und Veränderungen unmöglich zu machen.
Die Kirche der Reichen – als historische und soziologische Realität – geht mit einer klerikalen Ideologie einher. Sie postuliert eine besondere Klasse exklusiver „Wahrheitsbesitzer“. Durch ihre sakralen Herrschaftsansprüche produziert sie unentwegt Mangel (bis hin zum faktischen Verschwinden der Sakramente aus dem Leben von vielen Millionen Christinnen und Christen).
Die Kirche der Armen: ein Raum, in dem alle gemeinschaftlich die Schönheit ihrer miteinander geteilten Bedürftigkeit entdecken dürfen.
Im geistlichen Sinn ist die Kirche der Armen hingegen ein Raum, in dem alle gemeinschaftlich die Schönheit ihrer miteinander geteilten Bedürftigkeit entdecken dürfen. Hier werden Bischöfe und andere Diener des Gottesvolkes sich nie als „Geber aller guten Gaben“ oder Verwalter von Mangel verstehen. Stattdessen werden sie unentwegt ins Staunen geraten über die zahllosen Reichtümer in der Gemeinde Jesu, die sie noch nicht kannten. Im Zentrum steht dann nicht mehr ein zum Fetisch gemachter und von der Theologen-Polizei kontrollierter Komplex der Dogmen-Formeln. Denn die gemeinschaftliche Erkundung unserer menschlichen Bedürftigkeit ist ein Schlüssel, der unser Gehör öffnet für das eine „Wort des Lebens“.
Papst Franziskus ermutigt uns im 3. Jahrtausend zur subversiven „Freude am Evangelium“. Wenn die Kirchenreformer*innen in den reichen Ländern diese Visionen endlich aufnehmen, finden sie vielleicht auch ihrerseits noch rechtzeitig in Rom Gehör.
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Peter Bürger ist Theologe, examinierter Krankenpfleger und freier Publizist. Er gehörte zu den Initiator*innen des „Ökumenischen Aufrufs San Romero“ 2011.
Bild: flickr.com, CCO 1.0.
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Zwei Neuerscheinungen zum Thema:
Peter Bürger: Oscar Romero, die synodale Kirche und Abgründe des Klerikalismus. Zum 40. Todestag des Lebenszeugen aus El Salvador. Norderstedt: BoD 2020. (ISBN: 9783750493773): https://www.bod.de/buchshop/oscar-romero-die:-synodale-kirche-und-abgruende-des-klerikalismus-peter-buerger-9783750493773
Oscar Romero und die Kirche der Armen. Sonderband der edition pace. Internetfassung, 13.03.2020: https://friedenstheologie-institut.jimdofree.com/publikationen/oscar-romero-und-die-kirche-der-armen/