Dass protestantische Kirchen keine Kirchen im eigentlichen Sinn seien, brüskiert nicht nur evangelische, es verwirrt auch katholische ChristInnen. Bruno Hünerfeld entdeckt hier eine unzulässige Engführung im Denken über die Kirche, die seitens der Glaubenskongregation unter Joseph Ratzinger vorgenommen wurde.
Geht Kirche auch evangelisch? Wenn man katholisch ist, müsste man daran Zweifel haben. Hat nicht die Glaubenskongregation unter Joseph Ratzinger im Jahre 2000 genau dies festgestellt: Evangelische sind „nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“? Das saß damals und sitzt immer noch. Das Schreiben Dominus Iesus, in dem jene Sätze unter der Nr. 17 über Kirche und nicht-Kirche fielen, verletzte viele und schlug Wunden bei ProtestantInnen und KatholikInnen. Viele katholischen Würdenträger wie Walter Kasper oder Karl Lehmann versuchten, die Scherben wieder zusammenzukehren. Doch man hatte den Eindruck: in der Herzkammer des Katholizismus beim Papst und bei seinen lehramtlichen Verteidigern in der Glaubenskongregation wird entscheidend anders gedacht.
Evangelische sind „nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“? Das saß damals und sitzt immer noch.
Doch die Vorgänge um jene Textpassage in Dominus Iesus müssen gerade auch KatholikInnen aufhorchen lassen. Die Glaubenskongregation hat eine klare Aufgabe, festgelegt u.a. in der Konstitution „Pastor Bonus“: Sie ist Hüterin des Glaubensgutes und fördert seine Verbreitung, sie ist aber nicht Trendsetterin für neue theologische Entwicklungen. In Dominus Iesus entdecken wir dagegen eher die theologische Interpretationen von Joseph Ratzinger als die Wiedergabe bereits festgelegter Glaubenslehren.
Dominus Iesus: eher theologische Interpretationen von Joseph Ratzinger als Wiedergabe festgelegter Glaubenslehre
Die Frage nach dem Kirchesein war lehramtlich immer offen
Blicken wir dazu kurz in die vergangenen Jahrzehnte. Die päpstlichen Lehrschreiben vor dem Konzil waren nie besonders nett zu den ProtestantInnen, und wenn es sich ergab, endeten sie mit einem Aufruf ins „Vaterhaus zurückzukehren.“ Rückkehrökumene nennt man das. Das hinderte aber Pius XI. in seiner Antiökumene-Enzyklika „Mortalium animos“ (1928) nicht daran, im Blick auf die ProtestantInnen von „Ecclesiae“ – Kirchen – zu sprechen. Nun müssen wir Pius XI. keine Begriffsschärfe unterstellen, aber es zeigt: die Frage war offen.
Pius XI. sprach bei Protestanten von „Kirchen“.
Im II. Vatikanischen Konzil wurde über die Bezeichnung der ProtestantInnen heftig gerungen. Man entschied sich damals ausdrücklich, die Frage offen zu halten und wählte für das Dekret über die Ökumene Unitatis redintegratio deshalb den Ausdruck „Kirchen und kirchliche Gemeinschaften“. Beides war möglich. Hier stellt sich so die erste Anfrage an die Glaubenskongregation: Als Hüterin des Lehramts hätte sie diese Offenheit eher schützen müssen, anstatt sie in eine theologische Schulrichtung hin entscheiden zu wollen.
Die Glaubenskongregation hätte als Hüterin des Lehramts die Offenheit eher schützen müssen, anstatt sie in eine theologische Schulrichtung zu entscheiden.
In Dominus Iesus entdecken wir vor allem Ratzingers eigene Theologie
Ratzinger ist ein Vertreter der Eucharistischen Ekklesiologie. Er will das Wesen der Kirche von der Eucharistie her bestimmen. Eine entscheidende Prägung erfuhr er hierbei auch durch Henri de Lubacs epochemachendes Werk „Corpus mysticum“, welches den wesentlichen Zusammenhang von Eucharistie und Kirche darstellt. Ratzinger denkt diese Verbindung von Eucharistie und Kirchenbegriff radikal zu Ende. In vielen seiner Aussagen wird dies deutlich: Der Anfangspunkt der Kirche geschieht nicht im Pfingstfest, sondern im Abendsmahlssaal am Gründonnerstag. Der Begriff „Volk Gottes“ muss eucharistisch verstanden werden, indem man sagt: „Volk Gottes vom Leib Christi her“. Die in der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils groß gewordene Communio-Ekklesiologie ist für Ratzinger schlicht mit der Eucharistischen Ekklesiologie identisch.
Ratzinger: Zentralität der Eucharistie im Blick auf die Kirche
Doch Eucharistie kann nur dort gefeiert werden, wo es nach katholischer Vorstellung geweihte Priester gibt. Kirche ist deshalb für Ratzinger dort vorhanden, wo beides da ist: das volle Eucharistieverständnis und die Hierarchie, also Bischöfe, die Priester weihen können. Da er bei den ProtestantInnen weder das eine noch das andere sehen kann, seien dies keine „Kirchen“. Und genauso begründet er es dann auch in Dominus Iesus.
Allerdings hat sich das Lehramt in seiner Geschichte nie auf ein eucharistisches Kirchenverständnis festgelegt. Ratzinger weiß das und darüber hinaus ist seine eigene Zusammenführung von Eucharistie und Kirchenbegriff unter lehramtlichen Gesichtspunkten keineswegs zwingend. Denn eine Eucharistische Ekklesiologie muss ProtestantInnen nicht vom Kirchenbegriff ausschließen. Das Konzil entdeckt auch im Blick auf das Abendmahl viele wertvolle „Elemente“ bei den Protestanten, dass es diese Frage einem „Dialog“ anempfiehlt (Dekret über die Ökumene Nr. 22) – einen Dialog, der warum auch immer von der Glaubenskongregation als geklärt angesehen wird.
Wertschätzender Blick auf das evangelische Abendmahl
Die eigentlichen lehramtlichen Parameter für den Kirchenbegriff sind „Glaube“ und „Taufe“
Dabei bietet das Lehramt in seinen Äußerungen ganz andere Parameter. Schauen wir zum Beispiel auf den Zweck der Kirche: Wozu ist die Kirche da? Banal gesagt, dass die Menschen das Heil erlangen. Im Blick auf dieses Heil war immer elementar für das Lehramt: „Glaube“ und „Taufe“ (Markus 16,16). Kirche verkündet den Glauben und tauft die Menschen, um sie in die Gemeinschaft mit Gott hineinzuführen.
Ähnliches zeigt sich in der Frage der Mitgliedschaft zur Kirche. Wer gehört eigentlich zur Kirche? Von Robert Bellarmin bis zu Pius XII. war klar: „Glaube“ und „Taufe“ sind wesentlich für die Mitgliedschaft in der Kirche. Die Verbundenheit mit dem Papst übrigens war für den Kirchenbegriff nie entscheidend, da Orthodoxe trotz ihres Schismas immer als „Kirchen“ bezeichnet wurden.
Glaube und Taufe
Wenn aber im Blick auf diese ekklesiologischen Grundfragen „Glaube“ und „Taufe“ immer die entscheidenden Parameter sind, müsste dann nicht eine Theologie, die das Lehramt ernst nimmt und den Kirchenbegriff bestimmen möchte, nicht auch von „Glaube“ und „Taufe“ ausgehen? Pius XII. nennt das Sakrament der Taufe deshalb auch das „gebärende“ Sakrament, während die anderen Sakramente „ernährende“ sind. Dann wären Gemeinschaften, wo ein „Grundkonsens im Glauben“ festgestellt worden ist – und dies ist ja in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) erfolgt – und die Taufe gefeiert wird, als Kirchen anzuerkennen.
Und selbst wenn man das Eucharistie- und Amtsverständnis zur Klärung des Kirchenbegriffs hinzuziehen möchte, wie es Dominus Iesus tut, müsste man in der Hermeneutik des II. Vatikanischen Konzil nicht von einem „Fehlen“ von Eucharistie und Amt bei den ProtestantInnen sprechen, sondern von graduellen Unterschieden. Und auch dann müsste man von „Kirchen“ sprechen, wenn sie auch dann „unvollendete Teilkirchen“ (Yves Congar) oder „Kirchen im Werden“ bzw. „Kirchen im Anfang“ (Walter Kasper) sind.
Kirchen
Unter Papst Johannes Paul II. durfte man sich in dieser Interpretation bestärkt sehen. In seiner Ökumene-Enzyklika Ut unum sint (1995) sieht er bei den ProtestantInnen nicht nur „Elemente“, sondern die Kirche Jesu Christi selbst als Subjekt dieser Gemeinschaften. Sie hat dort eine wirksame Gegenwart (Nr. 11). Inhaltsgleich, wenn auch mit anderer lateinischer Wortwahl, wird im Bischofsdekret Christus Dominus des II. Vatikanischen Konzils die Diözese als Teilkirche beschrieben, weil eben auch in ihr die eine Kirche wirkt und gegenwärtig ist (Nr. 11).
Verletzend für ProtestantInnen – problematisch auch für KatholikInnen
Die Erklärung Dominus Iesus aus dem Jahre 2000 hat nicht nur viele ProtestantInnen verletzt, sie ist auch aus binnenkatholischer Sicht ein problematisches Dokument. Die Glaubenskongregation schafft es weder, die vorgegebene lehramtliche Weite in dieser Frage zu halten noch die lehramtlichen Vorgaben, vor allem wie sie sich aus den Parametern „Taufe“ und „Glaube“ ergeben, ans Licht zu heben. Nach Ut unum sint ist die Kirche Jesu Christi bei den ProtestantInnen wie in katholischen Teilkirchen wirksam gegenwärtig. Eine dem katholischen Lehramt treue Interpretation könnte, ja müsste längst zur Anerkennung der ProtestantInnen als Kirchen gelangt sein.
—
Dr. Bruno Hünerfeld ist geistlicher Mentor in der Studienbegleitung von Theologiestudierenden an der Universität Freiburg i. Br. und Priester in der Katholischen Hochschulgemeinde.
Bild: chuttersnap / Unsplash
Buchhinweis: Bruno Hünerfeld: Ecclesiae et Communitates ecclesiales. Eine Analyse des ekklesiologischen Status von Protestanten und ihren Gemeinschaften in den lehramtlichen Dokumenten der Pontifikate von Pius IX. (1846-1878) bis Benedikt XVI. (2005-2013), Berlin 2016.