Anastasia Vigilanz geht dem bis heute nicht gesehenen Geistlichen Missbrauch (GM) an Kindern anhand ihrer eigenen Erfahrungen in einem kleinen Dorf nach.
Rückblick in die 60er und 70er Jahre:
Ich liebte das Dorfleben als Kind – die Menschen, die Tiere, Kinderscharen, Matschrutschen, große Feiern voller Leben, Ballspiele auf der Straße. Dorfsozialisation im besten Sinne! Ich war ein aufgewecktes Kind und zuversichtlich gespannt auf das, was vor mir lag.
Es gab einen Bruch!
Wir hatten einen Kirchenfürsten als Pfarrer, den Kirchenfürsten! Wir spürten: Wir waren so geehrt, ihn zu haben! Alle beneideten uns! Mit sicherer, fester Hand führte er seine Herde! Er war das mächtige, wissende, richtungsweisende Oberhaupt aller Männer, die Verzückung aller Frauen und Mädchen. Er war der Architekt, Instrukteur, Vormund aller Kinder und Heranwachsenden. Er formte sie. Und ich war seine Auserwählte! Er strahlte Charisma aus. Ein Faszinosum. Das Allerheiligste in seiner Hand schmolz, verschmolz. Der goldene Sternen-Strahlenkranz der Monstranz umgab ihn.
Kinderbeichte?
Einüben von unentwegt
argwöhnischer Sünden-Selbstbeobachtung
Begegnung auf der Straße: Schnell Blick zum Boden. In die Knie. Bekreuzigen: „Gelobt sei Jesus Christus!“ Das gehörte sich so und war für uns stimmig. Spätestens mit der Vorbereitung zur Erstkommunion drängte er tief ins Leben. Im Beichtstuhl durchschaute er alles! Er hatte sein Dorf im Blick und im Griff! Er urteilte, verurteilte, strafte. Das mirakulöse Gottestribunal mit eschatologischer Tragweite. Selbstredend obligat. Selbstredend jede Woche. Selbstredend bei ihm.
Im Beichtunterricht stellte er klar, welche Sünden ein achtjähriges Mädchen in die Hölle bringen. Der Pfad vorbei an der Hölle war in der Tat gefährlich schmal! Jeden Samstag wurden neue Sünden vorgestellt, und ich konnte sicher sein, dass ich zu den Schlechten gehörte, auf die jede dieser Sünden zutraf. Ich hatte genascht, Böses gedacht, den Eltern widersprochen, gelogen, mich gezankt. Die Aufzählung, unendlich lang. Jede Woche wurde die auswendig zu lernende Liste noch länger und Selbstanklage samt Gewissensnot größer. Ein Einüben von unentwegt argwöhnischer Sünden-Selbstbeobachtung.
Verstoß gegen die Sonntagspflicht
als Todsünde
Meine Schlechtigkeit – bodenlos! Und von der Tendenz bedrohlich wachsend! Ich konnte ihm, dem mächtigen Gottesmann, nicht genug danken, dass er mich immer wieder rettete. Dann gab es aber noch die gefürchteten Todsünden, auf die nicht einmal er Zugriff hatte. Selbstverständlich gehörte ein Verstoß gegen die Sonntagspflicht dazu. Uns Kindern war klar: Das ist schlimmer als Mord. Für Todsünden gibt es keine Absolution!
Im Kircheninneren herrscht der Heilige Geist: Ehr-Furcht. Man geht gebeugt, lautlos. Man flüstert, wenn überhaupt. Keine falsche Bewegung! Man atmet nicht. Kniebeuge, gesenktes Haupt. Gottes-Dienst. Angespannte Stille. Erlaubt ist ausschließlich der Blick zum Altar. Zum Kelch. Zu ihm. Sieh! Geopfert! Nur für dich! Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!
Ein Imperium der Heiligen Instanz
Ich fühle mich nicht wohl im Gotteshaus, im Beisein des Heiligen Gottesvertreters, bei der Durchführung seines Heiligen Gottesdienstes. Ich habe mit unerträglichen Gefühlen von Bedrohung zu kämpfen. Ich verstehe sie nicht. Sie lassen sich trotz größter Mühe nicht abstellen! Über viele Jahre werden die Tage nur nach ihrem Abstand zum nächsten Sonntag gewertet. Der Abstand, der täglich kleiner und bedrohlicher wird. Hilft Flucht? Flucht ist Todsünde! Es bleibt nur – Aushalten! 60 Minuten! Selbst die Uhr traut sich nicht vorzurücken. Irgendwann erwische ich einen Platz am Gang. Flucht! Ich entwische dem Imperium der Heiligen Instanz.
Das Leben fühlte sich seltsam an. Ich würde nie wieder zurückkehren. Jedoch: Er hatte mich fest im Blick. Er konnte sehr zornig werden, wenn Gottes Wille missachtet wurde. Ich war überzeugt: Er tat Gottes Werk, mich zurück zu zwingen. Er hatte die Familie angesprochen, „ob sie mich nicht in Griff kriegen“. Sie „taten ihr Bestes“. Alle taten Gottes Werk. Über viele Jahre. Zu Recht! Der schwarze Krake schießt blitzschnell die Fangarme aus – in jeden Winkel. Er verfolgt mich bis in die Träume. Greift mich! Spinnenschnell! Schweißgebadet wache ich auf.
Alles ist vergiftet
Das gehetzte Herz, das elende Kirchen-Gefahr-Gefühl hat auch die Schule erobert. Ich kann nicht mehr entspannen, nie richtig schlafen. Die Schlaflosigkeit erschöpft den Tag. Ich bin zunehmend krank, nie richtig gesund. Fahlbleich und dürr. Jeder Infekt trifft mich. Zusammenbruch im Schulbus.
Reduzierte Auszüge aus meinen Aufzeichnungen. Die schlimmsten Parts entstanden nachts, aus allnächtlichen Alpträumen aufgeschreckt. Teils sind meine Notizen pathetisch-skurril und mit Zeitsprüngen. Ich habe es so gelassen. Auf eine Weise trifft es die Sache gerade im Skurrilen am besten. So habe ich es erlebt. Es schmerzt! Nach wie vor. Sehr.
Ich war ein dürstendes Kind, man reichte mir vergiftetes Wasser. Ich war ein Kind! Unbefangen. Suchend. Offen. Schutzlos ausgeliefert. In Not. Allein. Selbst als gestandene Frau empfinde ich oft sogar in eigentlich neutralen Situationen Scham. Schuld. Angst. Und jenes elende Gefühl. Fest implantiert und generalisiert. Ein „behindertes Leben“, determiniert von dem über mehr als 15 Jahre andauernden „Impact“. Diagnose: Schwere komplexe kPTBS (komplexe Posttraumatische Belastungsstörung durch wiederholte, langandauernde Trauma-Exposition).
Es ist schwer, zu um Sachlichkeit und Fairness bemühter Distanz zu gelangen!
Durch äußere Anlässe wird mir seit 2022 ein tiefer greifendes Herangehen möglich. Die nahezu rastlose Arbeit daran ermöglicht es mir zunehmend, einen Schritt zurück zu treten, nicht ausschließlich „gefangen“ zu sein und vieles stimmiger zu verstehen. Manches wird evident. Die Auseinandersetzung – ein ständiges Abgleichen von Innenleben, Metaebene und Inputs. Es begleiten mich mein allzeit offener Mann, mein Psychotherapeut und ein Pastoralpsychologe der katholischen Kirche.
Was ist Geistlicher Missbrauch? (GM)
Sexueller Missbrauch ist trotz Unwägbarkeiten vergleichsweise klar definiert und zu Recht im höchsten Maße geächtet. Im kirchlichen Rahmen müht man sich – mehr oder weniger – um Aufklärung, Sanktion und Prävention. Meist weiß auch der Täter um seine Schuld. GM hingegen ist eine schwer zu definierende, schwer einzugrenzende Gewalttat, eine übergriffige Manipulation. Zum Thema GM bei Erwachsenen, insbesondere in abgegrenzten religiösen Gemeinschaften, gibt es seit einigen Jahren Literatur (u.a. Doris Wagner) und Ansätze, sich der Problematik zu nähern (z. B. AK im Rahmen der DBK / Forschungsteam Uni Münster).
Meines Wissens gibt es bislang keine maßgebliche Instanz, die sich mit dem Wesen des GM bei Kindern auseinander setzt, ebenso wenig wie im Bereich Gemeindepastoral. GM an Kindern scheint auf den ersten Blick wenig von Belang. Selten werden die vernichtende Wucht und das nachhaltig toxische Potential verstanden. Von Aufarbeitung, Sanktion, Prävention sind Theologie und Kirche weit entfernt!
In der Psychologie existiert eine Faustformel, nach der es drei Risikofaktoren zur Depressions-Entwicklung gibt: Weiblich – dörflich – katholisch. Ob diese Gesetzmäßigkeit möglicherweise die Facette GM an Kindern und Jugendlichen impliziert? Dann wäre die Anzahl der Betroffenen und somit der Missstand eminent!
Mystische Inszenierungen
Fragmente aus meiner um Durchdringen bemühten Arbeit seien hier eigens benannt:
Kinder leben in einer magisch-mystischen Welt! Die katholische Kirche beherrscht die magisch-mystische Sprache in Perfektion, sie agiert mit einer „Macht der mystischen Inszenierung“!
Imposante Stätte. Verschlossener Tabernakel mit gehüteter Monstranz – weihevolle Exposition in transzendenten Momenten. Gold-Gefäße. Kerzenschein. Kostbare Bilder, Statuen, Verzierungen. Prächtig bestickte Gewänder. Erlauchte Zeremonien. Geheimnisvoll lateinische Formeln. Der innere Rückhall sich wiederholender Glaubenssätze. Stakkato-Segmente. Dramaturgie. Großvolumige Akustik. Eingängiger Sprechgesang. Feierliches Liedgut. Im Körper vibrierende Orgeltöne. Exotischer Weihrauch mit entrückender Sphäre. Atem von Jahrtausenden. Weltweit.
Eine Direktfahrkarte mitten ins Herz! Diese mystisch ergreifende Seins-Welt führt dazu, dass gerade die katholische Kirche besonders gut bei den dafür offenen Kindern andocken und diese somit „ver-haften“ kann. Ein scharfes Schwert, das besonders tief ins Innere zu dringen vermag. Viel tiefer als eine Ansprache über Kognitionen und Verstand es je vermöchte. Das muss nicht per se schlecht sein. Ganz im Gegenteil! Aber es birgt die Gefahr, sich in den falschen Händen zu einer hochbrisanten Macht zu entwickeln.
Solange „Mystische Inszenierung“ Ausdruck der Verehrung der „Frohen Botschaft“ ist, halte ich den liturgischen Einsatz für begründet. Das Problem beginnt mit der Instrumentalisierung zum Zwecke der Eigen-Inszenierung, um sich selbst als etwas Göttliches, Glorioses, Elysisches zu erleben, beziehungsweise um Indoktrination und Manipulation ausüben zu können. Das Problem liegt dort, wo Seelen geschädigt werden.
Narzissten haben leichtes Spiel
Ich wage die These: Narzissten haben mit dieser Ausstattung und der „Lizenz zum Invadieren“ ein leichtes Spiel, von der Kinderseele Besitz zu ergreifen. Welch passende Steilvorlagen bietet speziell die katholische Kirche für den Glanz von narzisstisch veranlagten Menschen mit der Verwendung von Mystik, Glaubenssätzen, Deutungshoheit und göttlicher Absegnung! Ein Setting, das Narzisst:innen anzieht und in die Lage versetzt, ein ganzes Imperium königlich zu bespielen.
Es liegt nahe, auf das „konservative“ Umfeld der damaligen Zeit zu verweisen. Ich halte die Problematik nicht für eine Frage von „altmodisch versus modern“. Empathie-defizitäre Menschen gab es zu jeder Zeit. Die Gefährdung durch den Einsatz von schädigenden Narzisst:innen in der Kinderseelsorge mit der „Lizenz zum Invadieren“ ist auch heute keineswegs gebannt.
Kein Zufall, dass in dieser Aussage die Nähe zum sexuellen Missbrauch mitschwingt. Es ist ein perfides Eindringen in die ungeschützte Kinderseele.
Neurophysiologische Erkenntnisse
Neurophysiologische Erkenntnisse stützen diesen Eindruck: Traumatisierungen im Kindesalter werden in die Persönlichkeitsstruktur eingewoben – eine dauerhafte Schädigung des Grundvertrauens in das Leben und dessen Sinn, in die Welt, die Menschen und in sich selbst. Jede Form von frühem Missbrauch manifestiert sich morphologisch im Gehirn als visualisierbare „bleibende Narben“. [1]
Quintessenz
„GM an Kindern“ unterscheidet sich substantiell vom bislang „registrierten“ GM, der mit „GM an Erwachsenen“ assoziiert ist. „GM an Kindern“ kann nicht unter diese Form des GM subsumiert werden – es handelt sich um ein klar von diesem abgrenzbares Problemfeld.
Narzisstische Pfarrer stellen im Bereich Seelsorge einen besonderen Risikofaktor dar!
Beim Auftreten von folgenden Voraussetzungen scheinen narzisstisch „durchgefärbte“ Pfarrer ihre verheerende Wirkmacht entfalten zu können:
- Ein Instrumentarium stellt speziell die katholische Kirche mit ihrem Repertoire an mystischen Inszenierungen.
- Geschlossene Sozialstrukturen, beispielsweise die eines kleinen Dorfes, begünstigen die Entstehung eines „Imperiums“ und hindern Korrektive von außen.
- Kinder sind eine hochvulnerable Gruppe. Die Suggestibilität bei Kindern ist besonders hoch. Gefühlsoffene und spirituell suchende Kinder sind vornehmlich gefährdet.
Kinderseelen müssen vor den toxisch-manipulativen Einflüssen narzisstisch veranlagter Menschen und geistlichem Missbrauch geschützt werden! Nahezu grenzenloses Vertrauen in Priester beziehungsweise das Tolerieren seitens der „Vorgesetzen“ scheint mir jedoch immer noch gängige Praxis. Was mir passiert ist, es ist nicht rückgängig zu machen. Der Schaden ist groß, mein Leben gezeichnet und schwer. Mögen meine Erfahrungen nun der katholischen Kirche ein kleines Stück helfen, ihr Haus zu einem sichereren Ort für Kinder zu machen.
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Autorin: Der Name A. Vigilanz ist ein Pseudonym. Die Autorin ist der Redaktion bekannt.
[1] Streek-Fischer: Trauma und Entwicklung, Schattauer, 2018.
Krüger, Grunert, Ludwig: Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, Springer 2022.
Pausch, Matten: Trauma und Traumafolgestörung, Springer 2018.
Schwarze & Mobascher: Misshandlung im Kindesalter: Bleibende „Narben“ im Gehirn, Springer 2012.
Foto: Sebastian Pandelache / unplash.com
Die im Foto dargestellte Ortschaft ist rein zufällig gewählt und enthält keinerlei inhaltliche Bezüge zu den im Text geschilderten Themen und den beteiligten Personen.