Wenn die katholische Kirche in der Missbrauchs-Problematik und den strukturellen Problemen, in denen sexualisierte Gewalt und geistlicher Missbrauch begünstigt werden, Veränderungen anstoßen will, braucht sie das Bewusstsein einer lernenden Organisation. Entschiedene Maßnahmen sind dazu unerlässlich, wie der Beitrag von Inge Tempelmann zeigt.
Diese komplexe Fragestellung ist eine, die sich Christ*innen aller Konfessionen zu stellen haben, wenn sie glaubwürdig und nachhaltig mit der christlichen Botschaft unterwegs sein wollen, nach dem Motto: ist uns das Anliegen Gottes – so gut wir es verstehen – bei dem, was wir lehren und tun noch wichtig? Ringen wir darum, es zu begreifen? Entsprechen die Gestaltung des kirchlichen Lebens, die Ausformung einer hierarchischen Ämterstruktur, die Formulierung und Etablierung eines sakramentalen Verständnisses und das Miteinander in unseren Kirchen dem Auftreten und Predigen Jesu, wie es von den Evangelisten und von Paulus beschrieben wird?
Macht ist zu disziplinieren
Zu diesen Fragen gäbe es vieles zu sagen. Als Nicht-Katholikin möchte ich weniger geistlichen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche konkret benennen, als vielmehr Impulse geben, anhand derer Insider selbst Bewertungen vornehmen können. Dies tue ich zum einen aufgrund meiner fachlichen Expertise, aber auch als Christin, der die Sache Gottes auf dieser Erde wichtig ist.
Ich werde einige wenige Definitionen vorstellen sowie das Thema der Gefahren von Hierarchie und Macht innerhalb der Kirche beleuchten. Angesichts dessen, dass Hierarchie bereits existiert, ergibt sich die Frage, wie ihre Macht sinnvoll genutzt und auch diszipliniert werden kann? Außerdem geht es um das Thema überhöhter spiritueller Autorität sowie um Verantwortung im Falle des Missbrauchs der Macht.
Versuche einer Definition
Eine genaue Definition des Begriffs „geistlicher Missbrauch“, auf die sich Fachleute geeinigt hätten, gibt es noch nicht. Dazu wird es noch manches an Forschung geben müssen.
Einige Gedanken zum Thema
- Geistlicher Missbrauch ist ein Schirmbegriff für verschiedene Formen emotionalen Missbrauchs oder des Machtmissbrauchs im Kontext des geistlichen, religiösen Lebens, vor allem in Formen der Begleitung, wie Beichte, Seelenführung oder geistliche Begleitung.
(Sr. Katharina Kluitmann) - Geistlicher Missbrauch beinhaltet Verletzung spiritueller Autonomie, die ein grundlegendes Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen darstellt.
(Doris Wagner) - Geistlicher Missbrauch ist Zwang, Nötigung und Kontrolle eines Individuums durch eine andere Person innerhalb eines spirituellen Kontextes. Die Zielperson erlebt ihn als tief emotionalen Angriff. Er kann folgende Aspekte beinhalten: Manipulation, Ausbeutung, erzwungene Rechenschaftspflicht, Zensur der Entscheidungsfindung, Vorschrift der Geheimhaltung und Verschwiegenheit, Leistungsdruck, Missbrauch der Schrift oder der Kanzel, um Verhalten zu kontrollieren, die Vorschrift des Gehorsams dem Missbrauchenden gegenüber, die Behauptung, dass der Missbrauchende eine göttliche, erhabene Position innehabe […]
(Lisa Oakley)
fromm getarnte Manipulation
Geistlicher Missbrauch beinhaltet die Einengung von Lebensraum und die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Gott jeder Person zugedacht hat. Dass Menschen sich in dieser grenzverletzenden Weise behandeln lassen, geschieht i. d. R. aufgrund fromm getarnter Manipulation, die sie nicht als solche erkennen. Diese verdeckte Beeinflussung wird z.B. ermöglicht durch christliche Lehren, Werte und Begriffe, die entstellt werden. Ausgenutzt werden in diesem Zusammenhang die Hilfsbedürftigkeit und besonders die Hingabebereitschaft Betroffener.
Hierarchie und Macht
Die Evangelien berichten, dass Christus selbst zu seinen Lebzeiten auf der Erde immer wieder Stellung nahm zu für ihn fragwürdigen Ambitionen, die er im Leben seiner Mitstreiter*innen vorfand, sowie zu bestimmten Bedeutungs- und Macht-Allüren, die ihm zwischendurch begegneten.
Jesus hebt Machtgefälle auf
In Mt. 20, 20ff diskutieren die Jünger darüber, wer wohl die Ehrenplätze in Gottes Reich bekäme. Jesus – sichtbar irritiert – sah die Notwendigkeit einer Grundsatzerklärung zu dieser Frage, die sich leicht auf ähnliche Haltungen übertragen lässt: „Ihr wisst, wie die Großen und Mächtigen dieser Welt ihre Völker unterdrücken. Wer die Macht hat, nutzt sie rücksichtslos aus. Aber so darf es bei euch nicht sein. Im Gegenteil: wer groß sein will, der soll den anderen dienen, und wer der erste sein will, soll sich unterordnen.“ Jesus spricht sich hier gegen ein Machtgefälle von Beherrschen und Beherrscht-Werden aus.
problematische Hierarchiestrukturen
Ken Blue, der in den 1990er Jahren als einer der ersten seine Gedanken zum Thema des geistlichen Missbrauchs veröffentlichte, beschreibt seine Erkenntnisse mit folgenden Worten:
„Die Apostelgeschichte und die Briefe des Neuen Testamentes zeigen, dass sich die frühe Kirche noch an die auf Gleichheit gerichteten Ideale ihres Gründers hielt. Die Leiter lebten mitten unter dem Volk und zeichneten sich durch ihre Dienstbereitschaft aus. Erst im Lauf der Zeit bildeten sich in der Kirche wieder hierarchische Strukturen, gegen die sich Jesus so deutlich ausgesprochen hatte.“[1]
für Gott und die Menschen
in Dienst genommen
Er beschreibt weiter, dass mit Pfingsten alles anders wurde. Viele Textstellen im NT machen deutlich, dass das Dienstverhältnis nicht länger hierarchisch, sondern charismatisch war, d.h. gabenorientiert. Alle Gaben waren als Funktionen im Dienst Gott und Menschen gegenüber gedacht mit dem Ziel, glaubende Menschen in persönliche Reife und Mündigkeit hineinzuführen (Eph. 4,13-14), statt als Positionen der Macht.
Hierarchien, die Machtmissbrauch begünstigen
Diese Änderung von Hierarchie, die im Alten Testament noch zur Normalität gehört, zu einem Priestertum der Menschen, die an Christus glauben, könnte durch viele Textstellen belegt werden. Ich sehe es als Not der Kirche(n) und Gemeinden, dass diese Tatsache nur bedingt verstanden und umgesetzt wurde. Durch Hierarchie und die damit verbundene Macht wurden die neutestamentlichen Absichten erschwert, und Menschen können leichter missbraucht werden, auch wenn bei Missbrauch über Strukturen hinaus sicher noch andere Gründe eine Rolle spielen.
Guter Einsatz der Macht und ihre Disziplinierung
Dass Menschen sich im Laufe der Kirchengeschichte an dieser Stelle anders entschieden und Strukturen schufen, die genau das mit sich brachten, was Christus als unguten Weg einordnete, ist eine Sache, mit der sich Christ*innen auseinanderzusetzen haben, vor allem wenn aus dem geschaffenen Machtgefälle ein Missbrauch von Macht in den unterschiedlichsten Formen entstehen konnte. Dieser ist zweifellos seit Jahrhunderten bis heute sichtbar und sicher einer der Gründe auch für die aktuelle Relevanzkrise der Kirche. Ob es nun im 16. Jahrhundert die Ablasspredigten waren, die die Menschen knechteten und ihnen ein falsches Evangelium vermittelten, oder heute im kleineren Rahmen bestimmter geistlicher Gemeinschaften die Forderung einer Hörigkeit, die die Selbstaufgabe mit dem Verzicht auf jedes Persönlichkeitsrecht als frommes Ideal formuliert, all das irritiert Menschen zutiefst und untergräbt Vertrauen.
Führungskonzepte von gestern
Der Gemeindeberater und Bestsellerautor Christian A. Schwarz formuliert in seiner diesjährigen Veröffentlichung, in der er nach umfangreichen, sorgfältigen Recherchen die Relevanzkrise des Christentums beleuchtet: „Die meisten Gemeinden versuchen, den Herausforderungen von heute mit Führungskonzepten von gestern zu begegnen. Es wird weithin übersehen, dass Skandale mit geistlichem, emotionalem und körperlichem Missbrauch ihre tiefste Wurzel in einem Klima haben, das die Freiheit der Menschen beschneidet, ihre persönliche Verantwortung aushöhlt und die eigene Mündigkeit untergräbt.“[2]
Die Gottesfrage einbinden
Angesichts bestehender Strukturen und anderer Aspekte, die Probleme mit sich bringen, sehe ich eine Not-wendigkeit darin, Gott selbst in das Ringen um gute Lösungen einzubeziehen. Es geht also um mehr als menschliches Beraten und Fachsimpeln. In Ps. 25,14 wird uns versprochen, dass der Herr die ins Vertrauen zieht, die ihn fürchten. Daraus lese ich, dass er gemeinsam mit denen, die ihm vertrauen, Leben auf dieser Erde gestalten will. Dies ernst zu nehmen, beinhaltete m. E. eine Demut, der Gnade verheißen ist (1. Petr. 5,5).
Und: es wird darum gehen müssen, aktuell bestehende Macht zu disziplinieren.
Wenn Macht aus den Fugen gerät
Wenn Machtmissbrauch Einzug hält in kirchlichen Organisationen, ist Macht nicht mehr dazu da, wozu sie gegeben ist, nämlich um zu schützen, zu bewahren, zu erhalten, zu ermöglichen, zu fördern und andere zu bevollmächtigen. Stattdessen wird sie benutzt, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen – Bedürfnisse nach Kontrolle, Bedeutung, Ansehen, Nähe, Selbstwert, Sicherheit oder anderem Gewinn. Die Ausübung von Macht gerät damit aus den Fugen und braucht dringend eine Begrenzung und Disziplinierung auf verschiedenen Ebenen:
- Auf der Ebene der Haltung ist zu fragen: wem soll das dienen, was ich tue?
- Auf der Ebene der Rolle: was darf ich, was nicht?
- Auf der Ebene der Ethik: welche Grenzen setze ich mir?
- Auf der Ebene der Kontrolle: wem erlaube ich, mich zu überprüfen?[3]
Geistliche Autorität mit Gott verwechselt
Wenn geistliche Autorität überhöht und sie von Glaubenden letztlich an die Stelle Gottes gestellt wird, und wenn aus dieser Überhöhung heraus Menschen beherrscht und Übergriffe als selbstverständliches Recht verstanden werden, braucht es eine Kehrtwende im Blick auf das 1. Gebot (neben Gott keine anderen Götter und Idole zu verehren und auch selbst nicht dazu zu mutieren).
Verantwortung im Falle des Missbrauchs von Macht – Not-wendige Konsequenzen
Missbräuchliches Handeln im Leben eines Menschen in geistlicher Verantwortung disqualifiziert ihn von seiner Leitungsaufgabe. Geistliche Leitung, die Menschen geistlich und/oder sexuell missbraucht hat, kann nicht einfach weiter machen, selbst wenn sie die Tat einsieht und ein paar Dinge nachjustiert hat. Sie wird sich für ihre Tat zu verantworten haben (was immer das bedeutet) und Therapie und kompetente fachliche Begleitung benötigen, um in der Tiefe Veränderung zu erleben. Diese Schritte müssen sicher gestellt sein. Und auch dann stellt sich die Frage, ob es nach Jahren ernsthafter Aufarbeitung sinnvoll und glaubwürdig ist, wieder in einer andere Menschen anleitenden Funktion tätig zu sein. Abgesehen davon, sich nicht wieder selbst in Gefahr bringen zu wollen, könnte es ein Akt der Glaubwürdigkeit sein, stattdessen andere Aufgaben zu übernehmen.
Missbrauch kann beim Umgang mit
biblischen Texten beginnen
Institutioneller Machtmissbrauch braucht mehr als ein paar Krisengespräche. Not-wendig ist eine umfassende Aufklärung, die die Sammlung von Daten und Fakten beinhaltet. Eine sozialpsychologische Bearbeitung der Strukturen, des Klimas und der Kommunikationswege in einer Organisation. Es werden Bedingungen erforscht, die Täter*innen und Helfer*innen die Tatbegehung ermöglichen, die Tatvertuschung begünstigen und die Betroffene missachten. Im Kontext des religiösen Missbrauchs braucht es außerdem auf theologischer Ebene eine Untersuchung, denn diese Form von Übergriffen bedient sich i. d. R. fehlinterpretierter biblischer Textstellen, die den Missbrauch ermöglichen und stützen.
Eine Aufklärung hat ein mehrfaches Ziel:
- Das Leid Betroffener zu würdigen.
- Die Strukturen, die Dynamiken, das Klima eines einst missbräuchlichen Systems gesunden zu lassen.
- Täter*innen und Mittäter*innen (Mitwisser*innen) in ihrem destruktiven Unterwegs-Sein zur Verantwortung zu ziehen (Chance zur Entwicklung und Veränderung).
- Präventiv Schutzkonzepte zu entwickeln.
- Das eigentliche Anliegen der christlichen Botschaft von der pseudo-christlichen Lehre, die den Missbrauch ermöglichte, abzugrenzen (Orientierung).
Denn nur so verstehen Menschen den Unterschied zwischen einem Glauben, der als Ressource Leben und Freiheit bringen kann, und einem religiösen Verständnis, das Menschen knechtet und letztlich von einer lebendigen Gottesbeziehung entfremdet.
„Es gibt noch viel zu tun. So viel Böses zu bekämpfen, so viel Heilung zu erreichen, so viele Verletzte zu lieben. Entscheiden wir uns immer wieder dafür, ungeachtet der Kosten das Richtige zu tun […] Die Dunkelheit ist da und wir können sie nicht ignorieren. Aber was wir tun können, ist, uns von ihr zum Licht weisen zu lassen.“[4]
___
Autorin: Inge Tempelmann lebt im Sauerland und ist in den Bereichen Supervision, Coaching und psychologischer Beratung freiberuflich tätig. Die Begleitung von Menschen, die geistlich missbräuchliche Grenzverletzungen im frommen Gewand erfahren haben, sowie unterschiedliche Projekte zu dieser Thematik sind neben anderen Themen ein Schwerpunkt ihrer Arbeit. Als Referentin ist sie im In- und Ausland unterwegs und ist Autorin des Buches „Geistlicher Missbrauch – Auswege aus frommer Gewalt. Ein Handbuch für Betroffene und Berater“.
www.tempelmann-consulting.eu
Tagung zum Thema am 12. & 13. November 2020:
https://www.katholische-akademie-dresden.de
Foto: Taylor Smith / unsplash.com
[1] Ken Blue (1997) Geistlichen Mißbrauch heilen. Brunnen-Verlag Basel, S. 159ff
[2] Christian A. Schwarz (2020) Gott ist unkaputtbar, 12 Antworten auf die Relevanzkrise des Christentums, S. 29
[3] Vgl. Dietmar Nowottka (2009) Vortrag zum Thema: Zum Machtbegriff aus soziologischer Perspektive
[4] Rachel Denhollanders (erscheint in 01/2021) Wie ich das Schweigen brach, S. 462