Das Kreuz gehört zu den wirkmächtigen Symbolen der Religion. Es ist und bleibt politisch – und politisch instrumentalisierbar, meint Sebastian Pittl, und erinnert an die „gekreuzigten Völker“.
Das Kreuz wird eher selten zum Gegenstand allgemeiner öffentlicher Debatten. Wenn doch, dann zuletzt meist in einer identitären Form, in der das Kreuz – in einer Verkehrung der Ereignisse von Golgotha – vor allem Selbstbehauptung und Abgrenzung markiert. Der sogenannte bayerische Kreuzerlass ist hierfür nur ein Beispiel. 1 Weit drastischer zeigt sich dieses Muster in Polen oder Ungarn.
Die identitäre Vereinnahmung des Kreuzes verweist auf eine religiös-politische Ambiguität, die der Geschichte dieses Zeichens von Anfang an eingeschrieben ist. Die Entscheidung des Christentums, das Instrument einer politisch verordneten Hinrichtung in sein symbolisches Zentrum zu stellen, wirft selbst die Frage nach dem Zueinander von religiösen und politischen Dimensionen dieses Zeichens auf.
Das Kreuz, Instrument einer politisch verordneten Hinrichtung, wirft die Frage nach dem Zueinander von Religion und Politik auf.
Im Folgenden seien drei Kreuze in den Blick genommen, in deren Zusammenstellung sich die ambivalente Geschichte politischer Bezugnahmen auf das Kreuz deutlich zum Ausdruck bringt: das Kreuz im spanischen „Valle de los Caídos“ – dem wichtigsten Denkmal des franquistischen Spaniens, das „gekreuzigte Volk“ in den Predigten Óscar Romeros und ein Kreuz des Künstlers Wolfgang Becksteiner in der Grazer Leechkirche. Die ersten Beispiele beziehen das Kreuz auf ein – jeweils sehr unterschiedlich gefasstes – „Volk“. Das letzte spricht in besonderer Weise von Ambivalenz.
1. „Valle de los Caídos“: Passion für Volk, Kirche und Spanien
Das größte Kreuz Europas kann als eindrucksvolles Mahnmal gegen jede Form seiner identitären oder nationalistischen Vereinnahmung gelten. Als 152 Meter hohes und 46 Meter breites Betonmonument thront es über einer ebenso monumentalen, von Kriegsgefangenen in den Fels gehauenen Basilika im spanischen „Valle de los Caídos“ („Tal der Gefallenen“).
Die Basilika, die am 1. April 1959 vom Erzbischof Toledos eingeweiht wurde, diente ursprünglich als Grabes- und Gedächtnisstätte für die dem Franco-Lager entstammenden Opfer des spanischen Bürgerkriegs (1936–1939). Auf Drängen der Kirche wurden in den folgenden Jahrzehnten auch zehntausende katholische Opfer der republikanischen Seite hier bestattet und die Basilika schließlich zu einer Gedenkstätte für die Opfer ganz Spaniens erklärt. Direkt im Presbyterium der Kirche liegen Franco und der Gründer der faschistischen Falange-Partei Primo de Rivera bestattet.
Das grösste Kreuz Europas
Francos Rede anlässlich der Einweihung der Basilika gibt Einblick in die Einbindung des Kreuzes in einen katholisch-nationalistischen Mythos. Das monumentale Bauwerk wird dabei in vier Dimensionen ausgedeutet. In einer ersten Hinsicht ist es ein Zeichen des Dankes für die „göttliche Vorsehung“, die die franquistischen Truppen in ihrem „Kreuzzug“ gegen die „atheistischen Kommunisten“ zu rechter Zeit mit Waffen versorgt und die größten Siege ausgerechnet an kirchlichen Hochfesten erringen lässt. Zweitens firmiert es als ein Zeichen des Gedenkens an die Leiden und Opfer, bis hin zum Martyrium, all jener Katholik*innen und Soldaten, die als leuchtende Beispiele von „Heldenhaftigkeit und Heiligkeit“ im Krieg ihr Leben lassen mussten. In einer dritten Hinsicht erscheint das Kreuz als Friedens- und Versöhnungszeichen, als Symbol eines Sieges, der „nicht für eine bestimmte Gruppierung oder Klasse, sondern für die ganze Nation“ errungen wurde, damit in Zukunft nie wieder spanisches Blut unter Landsleuten vergossen werde.
Symbol für katholischen Nationalismus
Zuletzt ermahnt das Kreuz zu Wachsamkeit. Der Satan habe, so Franco, nicht aufgehört, das katholische Spanien zu bekämpfen. Das „großzügig vergossene“ Blut der Soldaten und Märtyrer*innen verpflichte dazu, ihr Erbe auch in der Zukunft zu verteidigen.
Francos Spanien war die langlebigste Variante eines autoritären katholischen Nationalismus, wie er in der Zwischen- und Weltkriegszeit auch in Österreich, der Slowakei und Kroatien existiert hatte. Erst in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils distanzierte sich die Kirche eindeutig von diesem politischen Modell.
2. Das „gekreuzigte Volk“ Óscar Romeros
Óscar Romeros Rede vom „gekreuzigten Volk“ stellt die genaue Umkehrung dieser nationalistischen Volks-„Theologie“ dar. Das Modell einer „katholischen“ Diktatur war im 20. Jahrhundert auch in vielen lateinamerikanischen Ländern anschlussfähig. Ideologisch wirkte es bis in die Militärregime, die sich ab den 60er-Jahren in zahlreichen Ländern des Kontinents etablierten.
Zum offenen Bruch der Kirche mit diesen Regimen, die oft von sich selbst als christlich verstehenden Oligarchen gesteuert wurden, kam es auf der Zweiten und Dritten Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (1968) und Puebla (1979). Eindeutig formulierten die Bischöfe, dass sie das Antlitz des leidenden Christus nicht in einem nationalen, „christlichen“ Volk erkannten, sondern in den zahlreichen Opfern der oligarchischen Herrschaft: verarmten Kindern und Jugendlichen, Indios und Afroamerikaner*innen, Campesinos, Arbeiter*innen und Arbeitslosen. Óscar Romero, der 1980 ermordete Erzbischof von El Salvador, wurde zur wichtigsten symbolischen Figur dieser „Kirche der Armen“.
Óscar Romeros Rede vom „gekreuzigten Volk“ stellt die genaue Umkehrung dieser nationalistischen Volks-„Theologie“ dar.
Mit Blick auf die brutale Unterdrückung der Bevölkerung El Salvador durch das Militär prägte Romero 1977 den Begriff des „gekreuzigten Volkes“. Besonders verdichtet findet sich das Motiv in seiner Predigt in der Kleinstadt Aguilares. Als Reaktion auf mehrere Landbesetzungen hatte das Militär den Ort im Frühjahr 1977 einen Monat lang von der Außenwelt abgeriegelt. Zahlreiche Menschen wurden gefoltert und ermordet, die Kirche geschändet. Romero reiste in den Ort, um den verängstigten Menschen Mut zuzusprechen. In einer Predigt wandte er sich folgendermaßen an die versammelte Gemeinde: „Ihr seid das Bild des durchbohrten Göttlichen, […] der von dem ans Kreuz geschlagenen und von der Lanze durchbohrten Christus verkörpert wird. Er ist das Bild aller Völker, die – wie hier die Bevölkerung von Aguilares – durchbohrt und beleidigt werden.“
Das „gekreuzigte Volk“ war für Romero jedoch nicht einfach nur „Opfer“. Er erkannte in ihm auch eine besondere evangelisatorische Kraft. Mehrmals bezog sich Romero auf das „Volk“ als seinen Propheten. Es war für ihn Quelle seiner Inspiration und Ermutigung.
„Gekreuzigtes Volk“: evangelisatorische und prophetische Kraft
Romeros Theologie des gekreuzigten Volkes stieß freilich nicht nur bei der Oligarchie, sondern auch innerhalb der Kirche auf Widerstand. Seine Pastoral wurde als illegitime Politisierung des Glaubens und als Kommunismus im klerikalen Gewand gebrandmarkt.2
Angesichts der Wiederkehr faschistoid-nationalistischer Politik, die Lateinamerika gegenwärtig in Form des – mit Unterstützung zahlreicher evangelikaler Gruppierungen gewählten – brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro erlebt, lohnt es, die Bruchlinien zwischen Romeros Theologie des „gekreuzigten Volks“ und einer völkisch-nationalistischen Kreuzes-„Theologie“ näher in den Blick zu nehmen.
Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass das „gekreuzigte Volk“ Romeros als pluraler wie universaler geschichtlicher Leib des leidenden Christus alle Grenzen ethnischer, kultureller oder religiöser Art transzendiert. Gerade dadurch ist es aber weder durch Kirche noch durch Politik unmittelbar vereinnahmbar.
„Gekreuzigtes Volk“: über ethnische, kulturelle oder religiöse Grenzziehungen hinaus
Die Kirche ist für Romero zwar in besonderer Weise auf das gekreuzigte Volk verwiesen. Sie kann sich mit diesem jedoch nicht restlos zur Deckung bringen. Dem gekreuzigten Volk eignet in dieser Hinsicht, wie es der Jesuit Ignacio Ellacuría formulierte, ein „ekklesiologischer Vorbehalt“. Genauso entzieht sich das „gekreuzigte Volk“ einer politischen Instrumentalisierung. Auf Grund des eschatologischen Charakters seiner Realität lässt es sich niemals vollständig mit einer bestimmten geschichtlichen Gruppierung in eins setzen: „Das gekreuzigte Volk überschreitet jede geschichtliche Konkretisierung, die es sich mit Blick auf seine geschichtliche Erlösung selbst geben kann“, und ist folglich notwendig „von einer gewissen Unbestimmtheit“3.
Für Ellacuría gibt es keine Kreuzestheologie, die frei von Ambivalenzen wäre.
Diese Differenz zwischen geschichtlicher Leibhaftigkeit und bleibender Entzogenheit erzeugt eine Spannung, die einerseits die Dringlichkeit kirchlichen wie politischen Engagements zu Gunsten der Marginalisierten begründet, dieses aber andererseits offen hält für Kritik an ihren eigenen Exklusionsmechanismen. Für Ellacuría gibt es keine Kreuzestheologie, die frei von Ambivalenzen wäre. Notwendig ist daher ihre konsequente „Vergeschichtlichung“, d. h. die kritische Rückbindung der theologischen Rede vom Kreuz an die geschichtlichen Praktiken, die sie jeweils generiert oder delegitimiert – wobei ein entscheidendes Kriterium in den Auswirkungen auf die am meisten marginalisierten Bevölkerungsgruppen liegt.
3. Ambivalente Kreuze – die Grazer Leechkirche
Das dritte Kreuz, das hier in den Blick gerückt werden soll, bringt die Ambivalenzen unterschiedlicher Bezugnahmen auf das Kreuz in besonderer Weise zum Ausdruck. Es befindet sich in der Grazer Leechkirche, einer ehemaligen Kirche des Deutschen Ordens. Am Antependium des Hochaltars ist das markante schwarze Balkenkreuz des Ordens angebracht, das später die Vorlage für das „Eiserne Kreuz“ lieferte, wie es im Nationalsozialismus als militärische Auszeichnung verliehen wurde.
Kreuz gegen Kreuz
Als der Künstler Karl Prantl in den 1990er Jahren den neuen Volksaltar der Kirche gestaltete, hätte er das Kreuz auf Grund dieser Konnotationen am Liebsten entfernt.
Ein nun von Wolfgang Becksteiner an auffälliger Stelle an der Westwand der Kirche angebrachtes Kreuz setzt sich auf andere Weise ins Verhältnis zu dieser Vereinnahmung. Die aus einem Linienspiel von Metallstäben zusammengesetzte Skulptur verschwimmt im Scheinwerferlicht in ein In- und Nebeneinander von Linien, in dem sich nur mehr schwer unterscheiden lässt, wo die Skulptur endet und ihr Schatten beginnt. Nach Alois Kölbl lässt sich das Kreuz als Reaktion auf die nationalsozialistischen und andere Vereinnahmungsversuche lesen.4 Man kann es auch als Hinweis darauf verstehen, dass sich die spezifisch politische Dimension des christlichen Kreuzes nur in Auseinandersetzung mit diesem Schatten zum Ausdruck bringen lässt.
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Sebastian Pittl, Dr. theol., ist Akademischer Rat für das Fach Dogmatik an der Universität Tübingen.
- Vgl. hierfür Annette Langner-Pitschmann, Von Golgotha zur Wiesn. Der bayerische Kreuzerlass und die Ambiguität des Sozialen Imaginären in: Salzburger Theologische Zeitschrift 1/2019 (in Vorbereitung). ↩
- Vgl. Martin Maier, Óscar Romero. Prophet einer Kirche der Armen, Freiburg 2015. ↩
- Ignacio Ellacuría, Das gekreuzigte Volk, in: ders./Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis, Bd. 2, Luzern 1996, 848. ↩
- Alois Kölbl, Denken + Glauben 191 (1/2019), 11. ↩