Sabine Moßbrucker und Birgit Mattausch über eine kollaborative Praxis auf dem Weg zu einer machtsensibleren Theologie.
Ich verfolge Birgit Mattausch @frauauge schon ein Weilchen auf Instagram, weil ich bemerke, dass da sehr authentisch und vor allem immer wieder Content zur ForuMstudie geteilt wird bzw. dass hier jemand sich mit dem Thema Missbrauch in der Kirche tatsächlich versucht auseinander zu setzen.
Da taucht plötzlich eine Frage bei @frauauge in den Instagram-Stories auf, die mich nicht loslässt, ich denke nach. Sie fragt nach einer neuen Formulierung für eine Vergebungs-Bitte in einem Ritus für Beerdigungen. Hab ich noch nie gehört; aber sie fragt so offen und direkt nach dem Blick von und für Betroffene von sexualisierter Gewalt und Missbrauch, ich bin beeindruckt. Antworten tu ich nicht, mache ich nicht. Ist mir zu viel.
eine neue Formulierung für eine Vergebungs-Bitte in einem Ritus für Beerdigungen
Aufmerksam verfolge ich was @frauauge da postet, die Antworten, die sie bekommt. Es sind viele. Sehr viele. Bestimmt gut gemeinte, welche wie ‚bitte Gott darum, dass er Dir hilft zu vergeben‘ oder ‚leg es in Gottes Hände‘ oder ‚lass Gott Deine Wunden heilen‘ oder oder oder…
Es stört mich. Es stört mich, da stört mich was. Eine Antwort da in den Sticker einer Story zu tippen bekomme ich aber nicht hin. Meine Traumatherapeutin könnte das jetzt toll erklären wieso … aber: ich schreibe @frauauge an und bitte sie um ein Telefonat. Überrascht von mir selbst, überrascht von @frauauge, sie antwortet und sehr kurze Zeit später telefonieren wir. All meinen Mut und viel Kraft nehme ich zusammen und erkläre ihr:
Danke für diese tolle Frage, danke dafür laut zu fragen und die Bereitschaft, wirklich zuzuhören wirklich interessiert zu sein.
danke dafür laut zu fragen und die Bereitschaft, wirklich zuzuhören
Und ich erkläre ihr: Die Frage nach Vergebung ist für mich keine Frage. Ich will sie nicht gestellt bekommen – ich finde es unangemessen, vielleicht sogar übergriffig, jedenfalls eine Zumutung. Ich habe mit der Vergebung eines Täters nichts zu tun. Es stellt sich mir diese Frage nicht und es ist eine Zumutung, dass andere meinen, sie mir stellen zu müssen, dass andere meinen es würde mir besser gehen, wenn ich vergeben würde/könnte. Nein! Ihr wisst gar nicht, ob ich etwas zu vergeben habe. Nein! Es ist nicht meine Aufgabe, es ist nicht meine Aufgabe. Ich will auch keine gut gemeinten Ratschläge, was ich tun soll, was andere meinen, dass hilfreich wäre.
Ich habe mit der Vergebung eines Täters nichts zu tun.
Es strengt mich an – und gleichzeitig merke ich, wie achtsam und aufmerksam @frauauge zuhört und ich spüre vielleicht das erste Mal, da ist jemand dankbar um meine Sicht, meine Gedanken, ich habe das Gefühl, das war wichtig und wertvoll.
@frauauge fragt mich, ob sie das posten darf, ob sie unser Gespräch zusammenfassen darf, ob ich da drüber lesen kann, ob sie das veröffentlichen darf. Natürlich, sage ich. Deswegen spreche ich. Denn ich schaffe das nicht, ich kann das nicht in Worte fassen, auf keinen Story-Sticker antworten, oder so – aber ich kann sprechen. Meine Traumatherapeutin könnte das jetzt toll erklären … und ich bin einfach nur froh, dass da jemand meinen Worten Raum gibt, meine Worte in Worte fasst.
ich kann auf keinen Story-Sticker antworten – aber ich kann sprechen
Die im Januar veröffentlichte ForuMstudie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche hat auch große Anfragen an entscheidende Inhalte der evangelischen Theologie und die damit verbundene Praxis gestellt: „Betroffene berichteten, dass Aspekte von Schuld, Sünde und Vergebung sexualisierte Gewalt begünstigt hätten.“ (S.522) „Vergebung (wurde) teilweise als einzige Lösung für den Umgang mit sexualisierter Gewalt betrachtet und so eine Auseinandersetzung mit Beschuldigten, Aufklärung oder Aufarbeitung sexualisierter Gewalt umgangen.“ (S.525)
ForuM-Studie: „Vergebung (wurde) teilweise als einzige Lösung für den Umgang mit sexualisierter Gewalt betrachtet […].“
ForuM beschreibt dezidiert einen „Schuld-Vergebungs-Komplex“ (S.758ff): Betroffene werden zur Vergebung aufgefordert, zu Mediationen mit den Täter*innen eingeladen, es findet eine subtile Schuldumkehr statt.
Wenn nun also, wie ForuM zeigt, dieses Verständnis der Themen Schuld und Vergebung sexualisierte Gewalt ermöglicht und zerstörerische Machtverhältnisse stabilisiert, dann muss es aufgearbeitet und transformiert werden. So verstehe ich jedenfalls den Auftrag an die Kirche (neben anderen, die ForuM nennt).
Diese Transformation zu bedenken ist nicht nur Aufgabe der theologischen Fakultäten und kirchlichen Akademien (das natürlich auch) – sondern auch eine der alltäglichen auch liturgischen Praxis. Vielleicht kann von hier sogar eine besondere Kraft ausgehen.
Diese Transformation zu bedenken ist auch eine Aufgabe der alltäglichen liturgischen Praxis.
Die Lektüre der Studien und der Kontakt mit Betroffenen, das Bewusstsein, dass in jedem unserer Gottesdienste, Andachten, Kasualien mindestens 10% der Anwesenden Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben – all das hat Auswirkungen auf die liturgische Praxis. Viele geprägte Sätze fühlen sich falsch an, bleiben im Hals stecken, weil sie Betroffene ausschließen.
Einer dieser Sätze ist aus dem „Abschied“ bei Beerdigungen: „Wem er etwas schuldig geblieben ist, der vergebe ihm – wie wir alle nur aus der Vergebung Gottes leben können.“ Ein Satz, der in bestimmten Zusammenhängen für bestimmte Menschen hilfreich und heilsam sein kann – für viele Betroffene von (sexualisierter) Gewalt aber toxisch und re-traumatisierend.
Meine Arbeit als Referentin für experimentelle Homiletik besteht unter anderem genau darin: Worte und Sätze zu finden, die verständlich, klärend, heilsam sind, die die christliche Tradition aufnehmen und kontextualisieren. Hier war ich nun ratlos. Mein eigenes Schreiben und Denken brachte mich nicht weiter. Deshalb gab ich die Frage an meine Instagram-Followschaft (5500 Follower*innen, viele davon haupt- und ehrenamtlich in der Kirche tätig). Was dann passierte, hat Sabine Moßbrucker oben beschrieben.
gottesdienstliche Orte für Betroffene von sexualisierter Gewalt sicherer machen
Wir sind seither im Kontakt und planen verschiedenes, von dem wir hoffen, dass es auf einfache, alltägliche Weise hilft, gottesdienstliche Orte für Betroffene von sexualisierter Gewalt sicherer zu machen.
Mit unserem Text hier können wir keine „neue Theologie der Vergebung“ bieten – das wollen wir auch gar nicht. Vielmehr wollen wir den Blick lenken auf das Doing, den Prozess:
Eine macht- und gewaltsensible Theologie und Praxis kann nur im Dialog mit Betroffenen entstehen. Wenn nicht mehr die Täter*innen im Fokus unserer Theologie stehen sollen, wenn die von Marginalisierungen Betroffenen nicht weiter exkludiert und pater-maternalistisch als reine Objekte von Fürsorge wahrgenommen werden sollen – dann braucht es Kollaborationen verschiedenster Art. Feministische, antirassisistische, antiableistische, antiklassistische Diskurse haben hier vieles schon erarbeitet. Max Czolleks Überlegungen zum „Versöhnungstheater“ in der Bundesrepublik nach der Shoa können hilfreich sein und kontextualisiert werden. Für die im weiteren Sinne gottesdienstliche Praxis stellen Autor*innen wie Carola Moosbach und die Verantwortlichen von www.gottes-suche.de Sprache und Texte bereit.
Eine macht- und gewaltsensible Theologie und Praxis kann nur im Dialog mit Betroffenen entstehen.
Weil diese Theologie und Praxis ihrem Wesen nach immer dialogisch sein muss, wird sie auch immer kontextuell sein. Die Erfahrungen und Bedürfnisse betroffener Personen sind höchst unterschiedlich – auch innerhalb der Gruppe derer, für die kirchliche Angebote überhaupt lebensrelevant sind. Um konkret gottesdienstliche Räume machtsensibler gemeinsam zu gestalten, braucht es deshalb zuerst einmal ein Signal: Ich als für Gottesdienst verantwortliche Person möchte lernen und brauche dafür die Expertise von Betroffenen. Die kann eingeholt werden über Lektüre (etwa Andreas Stahl et al (Hrsg): Entstellter Himmel, Herder 2024), aber vielleicht ja eben auch durch ganz konkrete Kontakte vor Ort und/oder über Social Media. Dass es dabei immer bei den Betroffenen liegt, wie und unter welchen Umständen sie hier Bildungs- und theologische Arbeit leisten wollen, ist hoffentlich klar.
Dabei liegt immer bei den Betroffenen, wie und unter welchen Umständen sie hier Bildungs- und theologische Arbeit leisten wollen.
Und zuletzt hat kollaborativ-dialogisch Theologie zu betreiben und zu transformieren eine wichtige Voraussetzung: Verletzbarkeit. Sabine Moßbrucker macht sich verletzbar, indem sie ihre Erfahrungen und Gedanken mit mir teilt. Ich mache mich verletzbar, indem ich mir Liebgewordenes in Frage stellen lasse und die Kontrolle über scheinbar unverrückbare theologische Richtigkeiten und Wichtigkeiten aus der Hand gebe und es riskiere, auf Fehler in meinem Denken und Tun hingewiesen zu werden.
Ich mache mich verletzbar, indem ich mir Liebgewordenes in Frage stellen lasse.
In dieser Art produktiver Begegnungen lösen sich u.U. auch bisher feste Zuschreibungen auf: Sabine Moßbrucker ist ebenso Liturgieentwicklerin wie ich. Ich habe, wenn auch in weniger gewaltvoller Weise als sie, ebenfalls Erfahrungen mit Übergriffen und der Aufforderung, zu vergeben.
Ein Work in progress. To be continued.
Ein mir ganz wertvoller Kontakt ist daraus entstanden. Zu erleben, dass meine Perspektive gefragt ist, dass mein Erlebtes eine Rolle spielt und hier und jetzt etwas verändert, dass ist wahnsinnig kostbar für mich, das gab es so noch nicht. Und das ist vielleicht das Wichtigste für mich, wenn ich nochmal etwas laut sagen dürfte:
Fragt laut, hört zu, macht was draus, konkret, ganz konkret bei euch. Nichts muss perfekt sein. Schweigt bitte nicht aus Angst, es könnte etwas falsch sein. Es macht so viel aus zu sehen, zu erleben, dass es nicht egal ist, was ich erlebt habe, dass es einen Unterschied macht und etwas verändert.
Schweigt bitte nicht aus Angst, es könnte etwas falsch sein.
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Sabine Moßbrucker ist Lehrerin für geflüchtete Kinder und Jugendliche und Ehrenamtskoordinatorin für die Pfarrei Hl. Dreifaltigkeit Konstanz.
Birgit Mattausch ist Pastorin und Autorin. Sie arbeitet als Referentin für experimentelle Homiletik in der Landeskirche Hannovers und ist Teil des Teams des Literaturhauses St.Jakobi Hildesheim.
Auf den Instagram-Accounts der beiden Autor:innen kann der Dialog zum Thema Vergebung nachverfolgt werden.
Bild: Sabine Moßbrucker