An den Landtagswahlen in Berlin und Brandenburg fokussieren sich wesentliche Fragen der Wahrnehmung gegenwärtiger politischer Kultur. Für Kerstin Menzel sind Geschlechterfragen das vernachlässigte Thema dieser Wahlauswertung.
Mich haben die Wahlergebnisse nur bedingt betroffen gemacht. Das war bei der Bundestagswahl 2017 anders, da bin ich noch über ganz ähnliche Anteile für die AfD erschrocken. Doch die Sorge um den Einfluss rechter Kräfte trage ich schon länger mit mir. Als ich 2006 Gemeindepraktikum in Dohna bei Pirna machte, kam der NPD-Abgeordnete des sächsischen Landtags Uwe Leichsenring bei einem Umfall ums Leben. Er stammte aus dem benachbarten Königstein in der sächsischen Schweiz und war dort ein geachteter Fahrlehrer. Am oberen Hang des Friedhofsgeländes standen wir mit dem damaligen Ortspfarrer und einigen wenigen Gemeindemitgliedern und beobachteten die von NPD-Funktionären geleitete Feier, die vor die Kapelle übertragen wurde, und die Inszenierung mit Fackelzug, die sich im Anschluss in Bewegung setzte. Ich fand den Tonfall und die Bilder gespenstisch. Unten war die Mehrheit des Ortes versammelt, auch Konfirmand*innen und Älteste. Königstein hat eine schwierige Vergangenheit, schon 80 Jahre vorher hatte die NSDAP hier breite Unterstützung. Wenn ich die Sprache der Neuen Rechten – und dazu gehören ja führende Landespolitiker*innen im Osten – höre, dann spüre ich denselben Schauer wie damals.
Ebenfalls seit vielen Jahren bekannt sind die Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung, die zu dem Ergebnis kommen, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit eben kein Ausdruck tatsächlicher Deprivation, sondern bis in die Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Es ist also zu einfach, nur über abgehängte Regionen zu diskutieren, auch wenn die Diskussion um gleichwertige Lebensverhältnisse ohne Zweifel notwendig ist.
Menschenfeindlichkeit bis in die Mitte der Gesellschaft
Die aktuellen Wahlergebnisse haben viele Ursachen, das wird immer deutlicher. Neben Ressentiments und Rassismus mit langer Tradition sowie Erfahrungen von Kränkung und Benachteiligung nach 1990 gibt es einen Aspekt, der mir in Umfragen und Diskussionen deutlich zu kurz kommt, der aber für die Kirchen besonders wichtig ist. In beiden Bundesländern ist die AfD in Regionen stark, in denen eine evangelikal geprägte Frömmigkeit beheimatet ist. Arnd Henze[1], Liane Bednarz[2], Sonja Strube und andere[3] haben in den letzten Monaten und Jahren immer wieder auf die Nähe bestimmter Positionen der Rechtspopulisten zu Haltungen im evangelikalen und konservativen Christentum verwiesen, besonders im Bereich von Geschlecht und Familie: Anti-Genderismus und Befürwortung klassischer Geschlechterrollen, Ablehnung von homosexuellen und queeren Identitäten oder vehemente Abtreibungskritik.
Anti-Genderismus und Befürwortung klassischer Geschlechterrollen
Es finden sich reichlich Stimmen von AfD-Befürworter*innen aus dem konservativ-christlichen Spektrum, die sagen, dass die AfD die einzige Partei sei, die ihre Haltungen noch repräsentiere. Geschlechterbezogene Fragen haben eine sehr hohe Stellung für sie, den status confessionis: Als die sächsische Landeskirche 2012 homosexuelle Beziehungen im Pfarrhaus zulassen wollte (mit der Möglichkeit von Ausnahmen aus Gewissensgründen), gründete sich eine „Bekenntnis-Initiative“, die die Landeskirche an den Rand der Spaltung brachte.
Rang des status confessionis
Annabelle Chapman hat die vernachlässigte Gender-Dimension des gegenwärtigen Nationalismus jüngst in einem preisgekrönten Essay beleuchtet. In Polen und Ungarn, in Russland, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten verbinde sich der Nationalismus mit „militarisierten Männlichkeitsidealen“, in denen die Aufgabe des Schutzes vor (echten oder heraufbeschworenen) Bedrohungen im Zentrum steht, z.B. in der Aufforderung, „unsere Frauen“ (!) vor gewaltbereiten Flüchtlingen zu schützen. Auf der anderen Seite wird für Frauen das Leitbild der Mutter propagiert – zu besichtigen beispielsweise auf den Plakaten der AfD mit dem Slogan „Neue Deutsche – machen wir selber“. Chapman stellt heraus, dass es in dieser Rhetorik keine persönliche Entscheidung mehr sei, Kinder zu bekommen, sondern „die Erfüllung einer nationalen Pflicht, die von Frauen erwartet wird“.[4]
Militarisierte Männlichkeit und Mutterschaft als nationale Pflicht
Auch für den Soziologen Steffen Mau sind die Erfolge der AfD unter anderem durch Männlichkeitsideale erklärbar: basierend auf einem durch Abwanderung und Geburtenknick nach 1989 begründeten Männerüberschuss in der ostdeutschen Gesellschaft. „Wenn viele Männer um wenige Frauen konkurrieren, kann aggressives, körperbetontes Auftreten ein Mittel sein, um sich zu behaupten. Sie setzen auf klassische Männlichkeit: Kraft, Stärke, Durchsetzungsvermögen.“ (Berliner Zeitung)
Männlichkeits- und Weiblichkeitsideale, Vorstellungen von Ehe und Familie – in diesem Bereich fällt es der AfD leicht, an Positionen von konservativen Christ*innen anzuschließen. Ich will damit keinesfalls sagen, dass diese alle so wählen würden. Aber die AfD nutzt diese Nähe bewusst, um gegen bestimmte amtskirchliche Positionen anzugehen. So beginnt das Kirchenpapier der thüringischen AfD-Fraktion[5] die Ausführung zum „heutigen Pakt der Kirchen mit dem Zeitgeist und den Mächtigen“ mit der bekannten biblizistischen Kritik an der „Homo-Ehe“ (15-17) sowie der ebenfalls verbreiteten Fehldarstellung von Gender Mainstreaming (17f.) und einer massiven Kritik an gleichstellungspolitischen Maßnahmen, dem Gender-Zentrum, geschlechtergerechter Sprache und der „Bibel in der gerechter Sprache“, die mal eben mit der „Verdeutschung“ der Bibel durch den NS-Reichsbischof Müller gleichgesetzt wird (20f.). Erst danach geht es um „Massenmigration als angebliche Forderung des Liebesgebots“ (22ff.) und „Klimarettung als Religionsersatz“ (25ff.) etc.
Geschlechterfrage gezielt von der AfD genutzt
Ich habe keine Schwierigkeit damit, dass jemand für sich selbst eine Stärke betonende Männlichkeit als passend oder Mutterschaft als Erfüllung eines Frauenlebens erlebt. Das Problem entsteht für mich dort, wo es zur politischen Forderung für die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit erhoben wird. Die Freiheit von Menschen, die geschlechtliche Zugehörigkeit, Rollenzuschreibungen, Begehren und Familie anders leben können als das konservative Bild es normiert, beschränkt doch nicht die Freiheit eben dieser konservativ denkenden Menschen! Und selbst wenn man diese geschlechter- und familienpolitischen Haltungen für die eigene Wahlentscheidung in Anschlag bringt, sollte man sich fragen, wem man damit den Steigbügel hält. Die Auseinandersetzung darüber hat in den Räumen der Kirche hoffentlich erst begonnen.
Geschlechterfragen auf die Tagesordnung
Mir geht noch nach, was Robert Habeck am Wahlabend gesagt hat: es gilt, auch die kleinen Pflanzen einer neuen demokratischen Diskussionskultur wahrzunehmen, die Bemühungen um eine offene und kritische Diskussion, wo sich rechte Meinungen als unhinterfragbarer Mainstream etablieren. Dafür wurden im Wahlkampf auch in Kirchen neue Formen erprobt. Die Frage nach Geschlechterrollen und Familienidealen gehört definitiv auf die Tagesordnung.
[1] Arnd Henze, Kann Kirche Demokratie? Wir Protestanten im Stresstest, Freiburg 2019.
[2] Liane Bednarz, Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, München 2018. Vgl. auch dieses Interview.
[3] Strube, Sonja Angelika (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Herder: Freiburg i. B. 2015.
[4] Annabelle Chapman, Die Renaaissance des Patriarchats, in: Der Tagesspiegel, 8.9.2019, S.5 sowie online.
[5] Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit diesem Papier durch die Ev.Akademie zu Berlin.
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Autorin: Dr. Kerstin Menzel ist evangelische Pfarrerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Praktische Theologie an der Humboldt Universität zu Berlin; Mitglied der Redaktion feinschwarz.net.