Das Thema Gender polarisiert – in Gesellschaft und Kirche. Kerstin Schlögl-Fierl (Augsburg) mit einer Rezension zum Buch von Gerhard Marschütz (Wien): „Gender-Ideologie!? Eine katholische Kritik“, Würzburg 2023.
Selten hat ein Thema so sehr polarisiert wie dasjenige zu Gender. Die meisten denken hierbei an die sprachliche bzw. graphische Umsetzung der Abbildung einer Vielzahl von Geschlechtern, also Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt… Dass das Thema aber noch viel mehr Implikationen hat, wird im Buch des emeritierten Wiener Professors für Moraltheologie, Gerhard Marschütz, deutlich. Das ist auch das erste zu benennende große Verdienst dieses Buches, welches eine lange Vorgeschichte und Auseinandersetzung mit den Protagonist:innen in dieser Debatte hat. Der Startpunkt war ein Aufsatz von 2014 in der Herder Korrespondenz von Gerhard Marschütz über ein Buch von Gabriele Kuby, welche die Gender-Theorie grundlegend ablehnt.
Gender-Theorien als mögliches Analyseinstrument für die uns umgebende Wirklichkeit.
Mit den Gender-Theorien (und nicht mit der Gender-Ideologie!) in einer Vorlesung bei Studierenden der Theologie ‚anzukommen‘, heißt erst einmal viele Blockaden abzubauen und ruhig und sachlich analysieren zu müssen. Für diese konzeptionelle und begriffliche Arbeit, die Gender-Theorien als mögliches Analyseinstrument für die uns umgebende Wirklichkeit zu gewinnen, liefert das Buch von Marschütz hilfreiche Hinweise. Woher kommen die (katholischen) Vorbehalte dem Thema Gender gegenüber und welche theologischen Grundüberzeugungen werden damit wirklich ‚über den Haufen geworfen‘? Auf diese beiden Fragen gibt das Buch Antworten in insgesamt drei Kapiteln.
Die Kernaussage der katholischen Gender-Kritik wird lauten, dass mit Gender das Geschlecht ausschließlich als soziale Konstruktion begriffen werde.
Kapitel 1 zeigt die Sicht der katholischen Welt auf die Gender-Theorie, die es schon in dieser Einzahl gar nicht gibt. Er lässt Johannes Paul II., Benedikt XVI., Franziskus und Anti-Gender-Protagonist:innen akribisch zu Wort kommen. Oft wird die Gender-Theorie bzw. die unterschiedlichen Gender-Theorien durch die Protagonist:innen von vornherein als „Gender-Ideologie“ verstanden bzw. ‚diskreditiert‘, nicht als Lehre von Ideen gesehen, sondern als tendenziell totalitäre Weltanschauung abgetan. „Die Kernaussage der katholischen Gender-Kritik wird lauten, dass mit Gender das Geschlecht ausschließlich als soziale Konstruktion begriffen werde, also völlig losgelöst von der biologischen Zweigeschlechtlichkeit.“ (S. 17) Marschütz illustriert den Fortgang der lehramtlichen Auseinandersetzung, sich spiegelnd und reibend an den säkularen Ereignissen. Die Bezeichnung der Gender-Theorie als „ideologische Kolonialisierung“ durch Papst Franziskus kann als Schlusspunkt einer Reihe an Reibungen gesehen werden. Das Buch zeigt ebenso auf, wie die Einflussnahme der Kritiker:innen mit publizistischer Aktivität einhergeht.
Es wird mit Hilfe der Werke und Aussagen von Judith Butler auf katholische Kritik reagiert.
Der Verf. unterzieht in Kapitel 2 mit dem Titel „Gender-Ideologie?“ die Kritik einer kritischen Sichtung. Was an katholischen bzw. theologischen Grundeinsichten muss angesichts der neuen Gender-Theorien umgeworfen werden? Dazu wird Judith Butler, als bekannte Ideengeberin, gleich zweimal aus ihren eigenen Schriften heraus erklärt. Es wird also mit Hilfe ihrer Werke und Aussagen auf katholische Kritik reagiert. So schreibt Butler: „Wissen Sie, ich bin ja nicht verrückt. Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch wenn wir sagen, es gibt sie, müssen wir auch präzisieren, was sie sind, und dabei sind wir in kulturelle Deutungsmuster verstrickt.“ (zitiert nach Marschütz, S. 69.) Und das wäre allgemein festzuhalten: Wenn man medial (sei es sprachlich oder auch anders) auf die Biologie reagiert, müssen wir anerkennen, dass wir das in den vorhandenen Deutungsmustern tun, die wiederum – vorsichtig formuliert – Asymmetrien abbilden. Butler selbst hat auch schon auf die vereinseitigenden lehramtlichen Äußerungen der Katholischen Kirche reagiert. Sie fragt sich dabei irgendwann, ob sie falsch verstanden werden wolle. Dass die Frage zu Gender allgemein völlig beliebig sei, wird auch eindeutig von ihr selbst abgelehnt.
Wer Argumente finden möchte, um sich mit der Frage der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit und der Vereinbarkeit mit der Gender-Theorie bzw. den Gender-Theorien auseinanderzusetzen, wird in diesem Buch fündig. Ebenso liefert Marschütz für eine schöpfungstheologische Betrachtung der Geschlechterfrage und dem christlichen Menschenbild fruchtbare Denkanstöße. „Die identifizierte Unvereinbarkeit ist daher zuvorderst in interpretationsreichen Entscheidungen bezüglich biblischer Texte zu sehen, welche im kirchengeschichtlichen Verlauf mit einer essentialistisch-naturrechtlichen Denklogik verknüpft wurden, die wiederum interpretationsreiche Entscheidungen bezüglich der Natur beisteuerte.“ (S. 101)
Die Verwendung der Zuschreibung von Normalität spielt eine große Rolle.
Gründe für die Ablehnung der Gender-Theorien sind vielfältig und werden auch in dieser Vielfalt vorgestellt. Einer der Kristallisationspunkte ist die essentialistisch-naturrechtliche Geschlechteranthropologie. Hier befindet Marschütz, dass eine Naturalisierung zu beobachten ist, was die Transformierung meist kirchlicher Überzeugungen in Kategorien bedeutet, die sich durch Geschichtsenthobenheit wie auch Kulturneutralität auszeichnen. Dabei spielt die Verwendung der Zuschreibung von Normalität eine große Rolle. Etwas Natürliches, Biologisches, wird als normal bezeichnet. In diesem Normalisierungsprozess wird Zweigeschlechtlichkeit wie auch Heterosexualität als ‚normal‘ angesehen. Alles andere wird mit der Bezeichnung ‚unnormal‘ oder ‚anders‘ versehen. Solche Normalisierungsprozesse, die in diesem Fall einen normativen Charakter besitzen, sollten grundsätzlich problematisiert werden. Dies würde sich als Aufgabe aus diesem Buch von Marschütz heraus formulieren lassen.
Die langjährige Erfahrung in diesem Bereich lässt Marschütz an einen konstruktiven und sachlichen Dialog nicht mehr glauben.
Aber das Buch wird wahrscheinlich von jenen, welche die Gender-Theorien als „Gender-Ideologie“ ablehnen, nicht gelesen werden. Marschütz zeigt auf, dass oftmals die laute Kritik an einer „Gender-Ideologie“ den Boden der Wissenschaftlichkeit verlässt. Die langjährige Erfahrung in diesem Bereich lässt ihn an einen konstruktiven und sachlichen Dialog nicht mehr glauben. Zehn Jahre wahrhaftiger Kampf um die Vermittlung von den Gender-Theorien in den katholischen Bereich scheint damit zu Ende zu gehen.
mangelnde Integration menschenrechtlicher Diskurse
Bis jetzt ist in diesem Buch alles erwartbar, aber besonders bereichernd wird es mit dem Kapitel 3, den weiterführenden Perspektiven. Hier wird die Frage nach dem Anstand gestellt, die ich weiter unten noch ansprechen möchte, aber vor allem auch die theologischen Grundlinien gezogen, z.B. „Das Menschsein im Horizont der Selbstmitteilung G/ttes“, der Liebe, gedacht. In einer „Würdigung des wunderbar komplexen Lebens“ wird Ambiguitätstoleranz gefordert. In den Augen von Marschütz wurden die Grundanliegen des II. Vatikanischen Konzils nicht umgesetzt, so dass jetzt nicht adäquat den Zeitläuften begegnet werden kann. Als ein Beispiel dafür nennt der Verf. die mangelnde Integration menschenrechtlicher Diskurse. Angesichts einer katholischen Geschlechteranthropologie, die ungebrochen entlang eines essentialistisch-naturrechtlichen Denkformats aufgestellt und als G/ttes Plan und Daseinsordnung verstanden wird für das Psychische und Geistige des Menschen als Person, kommt bei Marschütz der Menschenrechtsexperte Heiner Bielefeldt zu Wort. Es sei der kritische Anspruch der Menschenrechte bei der Freiheit des Menschen anzusetzen. „In grundsätzlicher Hinsicht zeigt sich dieser Widerspruch darin, dass seitens des Heiligen Stuhls, in dessen Namen die katholische Kirche internationale Verträge schließt, bis heute keine Ratifizierung der UN-Menschenrechtskonvention erfolgt ist.“ (S. 223)
Mit dem Werk kann man aber die verschiedenen Positionen zum Thema Gender kennenlernen, verschiedene Protagonist:innen zuordnen und auch weiterdenken.
Insgesamt darf diesem Buch attestiert werden, dass es sehr umfassend und detailliert die letzten Jahre und Monate der Debatte um Gender-Theorien darstellt, die nicht selten als Ideologie diffamiert wird. Hier hat sich eine Debatte verhärtet, so dass es zu diversen Beschlüssen zum Umgang mit gendersensibler Sprache auch von staatlicher Seite gekommen ist. Bei einem Buch zu Gender-Theorien begleiten einen die Bedenken, zu sehr in die eine wie die andere Richtung abzugleiten, also völlige Ablehnung bis hin zu völliger Auflösung der Genderkategorie. Mit dem Werk kann man aber die verschiedenen Positionen zum Thema Gender kennenlernen, verschiedene Protagonist:innen zuordnen und auch weiterdenken. Marschütz arbeitet fast schon virtuos im Umgang mit lehramtlichen Papieren und diversen Pressemitteilungen. Er zeigt für Vorder- wie Hintergründiges der Kulissen analytische Schärfe.
Es wird die Frage aufgeworfen, ob Elemente gegenwärtiger kirchlicher Strukturen demütigend sind.
Nach der Lektüre des Buches habe ich weniger mit den Gender-Theorien ‚gehadert‘, sondern mit der von Marschütz aufgeworfenen Frage des Anstands. Avishai Margalits Frage der anständigen Gesellschaft stellt der Verf. als Hintergrundfolie dar. „In einer zivilisierten Gesellschaft demütigen die Menschen einander nicht, während es in einer anständigen Gesellschaft die Institutionen sind, die den Menschen nicht demütigen.“ (Avishai Margalit. Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 2012, 13) Unter Demütigungen werden von Margalit Verhaltensformen und Verhältnisse verstanden, die einem Menschen einen rationalen Grund liefern, sich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen. Damit ist Demütigung eine normative Kategorie. Spinnt man den von Marschütz eingebrachten Gedanken weiter, wird die Frage aufgeworfen, ob Elemente gegenwärtiger kirchlicher Strukturen demütigend sind oder wer sich jeweils durch sie gedemütigt fühlt. Dieser Gedankengang sei dem:r Leser:in anheimgestellt.
Am Rande sei bemerkt, die Gender Studies selbst haben sich weiterentwickelt. Vor allem die Überlagerung unterschiedlicher Deutungsmuster ist zu nennen (Stichwort Intersektionalität), Diversity- und Queer-Fragen beschäftigen bereits. Irgendwie fühlt man sich angesichts der und durch die dargestellten Grabenkämpfen schon sehr von anderen Diskussionen abgehängt, die zumindest die moraltheologische Debatte auch befruchten könnten. Die Gender-Theorien bleiben in meinen Augen ein Analyseinstrument, um bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und dominierende Deutungsmuster kritisch zu sichten. Nichts mehr und nichts weniger.
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Gerhard Marschütz, Gender-Ideologie?! Eine katholische Kritik, Echter: Würzburg 2023.
Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl ist seit 2015 Inhaberin des Lehrstuhls für Moraltheologie (Theologische Ethik) an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Bio-, Beziehungs- und KI-Ethik. Seit Mai 2016: Beraterin der Bischöflichen Unterkommission „Bioethik“ der Glaubenskommission (I); seit 2020: Mitglied im Deutschen Ethikrat. Seit 2024: korrespondierendes Mitglied in der Päpstlichen Akademie für das Leben