Gender ist ein schillender Begriff – die einen verbinden damit eine Agenda, die anderen ein Horrorszenario. Weshalb die Diskussionen auch 2017 weitergehen (müssen) und inwiefern sich Kirche(n) für eine offene Gesellschaft einsetzen, erläutert Theresa Pieper.
Jahresrückblicke zu umgehen, erweist sich ja als geradezu unmöglich. Jedes Jahr aufs Neue halten uns die Medien den Spiegel vor und präsentieren ihre Auswahl dessen, was Folgegenerationen im Geschichtsunterricht behandeln sollten. Nachdem ich schon im vorletzten Jahr den Eindruck gewonnen hatte, es ginge nicht mehr schlimmer, wurde mir zum letzten Jahreswechsel – zunächst – das Gegenteil bewiesen. Dort wurde das Jahr 2016 in den düstersten Tönen abgebildet. Das Zeit-magazin der letzten Dezemberwoche 2016 hatte sie weiß auf schwarz auf ihrem Front-Cover, ihre Auswahl an Katastrophen: von Donald Trump bis Erdoğan, von Aleppo bis Berlin, von Leonard Cohen bis David Bowie und Prince. Der Brexit durfte natürlich auch nicht fehlen.[1]
Lassen wir die bedauernswerten Todesfälle von Kunstschaffenden, die Generationen mit ihren Lebenswerken geprägt haben, einmal beiseite und blicken auf die ihnen vorangegangenen Namen von Menschen und Orten. Hinter ihnen verbergen sich politische Haltungen und Wertevorstellungen, die – so die Befürchtung – unsere Welt zu einer exklusiven und exkludierenden Welt machen werden. Zu einer Welt, in der es mehr Grenzen geben und Vielfalt keinen Platz haben soll. Es kommt gewiss nicht von ungefähr, dass das Cover entfernt an eine Traueranzeige erinnert.
2016 wurde Gender in schwarz-weiß gemalt.
Welche Rolle der Gender-Frage bei diesen Entwicklungen zukommt, wird an mindestens zwei der genannten Beispiele besonders deutlich veranschaulicht: Statt des Namens des frisch vereidigten Präsidenten der USA hätte das Zeit-Magazin etwa auch das Verbot der Homo-Ehe titeln können. Statt des türkischen Präsidenten könnte dort auch die Verurteilung von Abtreibung und Empfängnisverhütung stehen. Doch auch in Europa im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen war es 2016 für den Gender-Diskurs ein Jahr, aus dem vor allem reaktionäre und populistische Bewegungen und Gruppierungen gestärkt hervorgegangen sind. Unter den Schlagworten Gender-Ideologie, Gender-Wahnsinn und Genderismus summierten sich die breit gefächerten Vorwürfe gegenüber dem Anliegen von Gender und Gender Mainstreaming. Auf theoretischer Ebene sprachen sie dem Forschungsfeld Gender Studies jede Form der Wissenschaftlichkeit ab und wünschten sich nichts sehnlicher, als dass diese Studiengänge möglichst schnell den Weg alles Irdischen gehen mögen. Auch auf praktischer Ebene wurde dem sogenannten Genderismus vieles zur Last gelegt. Er sei dafür verantwortlich, dass Jungen in Schule und Studium hinter Mädchen zurückblieben, dass die genderbezogene Quotenregelung in Stellenbesetzungsverfahren Frauen grundsätzlich – und unberücksichtigt ihrer Qualifikationen – gegenüber den Männern bevorzuge. Des Weiteren käme die Berücksichtigung alternativer Lebens- und Geschlechterformen in Bildungsplänen der Frühsexualisierung und sexuellen Umerziehung von Kindern gleich. Als suggeriert logische Quintessenz wurde ein Bedrohungsszenario entworfen, in dem die heteronormative Familie als sogenannte Keimzelle der Gesellschaft durch andere Familienmodelle sukzessive zurückgedrängt würde.
Diese Kritik kommt aus dem Spektrum populistischer Parteien, konservativer Flügel etablierter Parteien und den unterschiedlichsten religiösen Kreisen. Dort werden theologische Ansätze zur geschlechtlichen Vielfalt in Ekklesiologie und Eschatologie mit schöpfungstheologischen Argumentationsmustern ebenso harsch zurückgewiesen, wie die gleichberechtigte Trauung homosexueller Paare. Der Bibeltext – so die gängige Argumentation – spreche doch eindeutig von zwei Geschlechtern und diesen sei die Ehe vor Gott exklusiv vorbehalten. Alternative Formen von Geschlecht werden bestenfalls als bedauerliche Einzelfälle anerkannt, denen aber nicht der Raum zugestanden werden dürfe, der einer Gleichwertigkeit mit dem gottgewollten dualistischen Beziehungssystem von Mann und Frau mit ihren jeweiligen Eigenschaften und Aufgaben nahekäme. Diese Befürchtungen wurden im Oktober des vergangenen Jahres noch einmal von höchster Stelle untermauert: Bei einem Besuch in Georgien verurteilte Papst Franziskus nicht nur die Gender Theorie als Teil eines „weltweiten Kriegs zur Zerstörung der Ehe“, sondern erklärte weiterhin in einem Zeitungsinterview, „französische Schulbücher würden eine „hinterlistige Indoktrinierung mit der Gendertheorie“ betreiben.“[2] Ganz ähnliche Vorwürfe werden auch in Deutschland erhoben: In Baden-Württemberg tobte seit 2014 der Streit um einen neuen Bildungsplan. Dieser sah die Beschäftigung mit der Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt und verschiedener Lebensmodelle, neben der klassischen Ehe, in allen Fachbereichen vor. Laute Proteste hatten jedoch zur Folge, dass die Akzeptanz sexueller Vielfalt in dem, im März 2016 verabschiedeten, Bildungsplan nicht mehr explizit vorkommt, sondern in der allgemeinen Leitperspektive „Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ aufgegangen ist.
Diffamierungen des Gender-Begriffs gemeinsam mit dem Gutmenschentum und der Political Correctness haben es sich in den vergangenen Jahren durch diverse Publikationen auf den Bestseller-Listen bequem gemacht. Dort folgte Birgit Kelles „Gender Gaga“[3] unmittelbar auf Gabriele Kubys „Gender: Eine neue Ideologie zerstört die Familie“[4]. Im Jahr 2016 zierten diese Positionen nicht mehr nur Bestseller- sondern auch Wahllisten. Mit dem Einzug der Alternative für Deutschland in zehn Landesparlamente sind sie demokratisch bestätigt worden.
Angesichts der Vielfalt und Wirkmacht, die die Anti-Gender-Kräfte entfaltet haben, fällt es schwer, für das Jahr 2017 nicht schwarz zu malen. Was sind die Folgen dieser Entwicklung? Wird unter dem Denkmantel des vermeintlichen Schutzes von Kindern, Ehe und Familie die Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt zunehmend wieder unsichtbar? Wird Gleichstellungsarbeit als ad absurdum eingestuft und abgeschafft? Ist das Anliegen von Gender und Gender Mainstreaming passé?
Diese Fragen will ich guten Gewissens mit „Nein“ beantworten. Ein solches Bild für 2017 zu zeichnen, scheint mir dem gegenwärtigen Gender-Diskurs nicht gerecht zu werden, denn so dominant der Anti-Gender-Diskurs auch wirken mag, ist er doch nur die eine Seite der Medaille. Drehen wir sie um, präsentiert sich uns – auch in religiösen und kirchlichen Kontexten – eine ganz andere Vielfalt.
Gebremst wird nicht überall.
Drei evangelische Landeskirchen haben im Jahr 2016 weitreichende Beschlüsse in Bezug auf die Trauordnung gefasst. Sie haben darin gleichgeschlechtliche Paare anderen Paaren vollständig gleichgestellt und die getrennten Traubücher abgeschafft. Die badische Landessynode ging sogar noch einen Schritt weiter, in dem sie das Leid, das lesbischen und schwulen Paaren angetan wurde, bedauert und einen Aufarbeitungsprozess angestoßen hat.
Augen auf statt Augen zu!
Zielgerichtet handeln kann nur, wer die Ansatzpunkte benennen kann. Auf Anti-Gender-Diskurse angemessen reagieren kann nur, wer neben der Quellen- und Argumentationsmuster- auch Ursachenforschung betreibt. Der Rat der Evangelische Kirche in Deutschland hatte deshalb im Jahr 2014 beschlossen, eine Initiative der Synode aufzunehmen, und eine eigenständige Untersuchung zum Zusammenhang von Kirchenmitgliedschaft und politischer Kultur durchzuführen. Die auf qualitativen Interviews beruhende Studie suchte nach Zusammenhängen zwischen Kirchenmitgliedschaft und Glaube einerseits und den Haltungen gegenüber Judentum, Islam und Homosexualität andererseits. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse zeigen, „dass vielen Menschen Informationen und persönliche Erfahrungen fehlen, wenn es um Juden, Muslime oder Homosexuelle geht. Eine Schlussfolgerung des Rates der EKD lautet deshalb: ‚Möglichst viele Menschen mitzunehmen, erfordert Bildung und Dialog.‘“[5]
Weil die Gleichstellungsbeauftragten der Landeskirchen hier als wichtige Mediator*innen fungieren, sind sie heute mehr denn je gefragt, in kirchlichen Strukturen die aus der Studie gewonnenen Erkenntnisse auch umzusetzen.
Dafür braucht es – nicht nur in der kirchlichen Gleichstellungsarbeit – dreierlei: neue Bündnisse, eine neue Sprache und, daraus resultierend, ein neues Image. Die bislang veröffentlichten Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass der direkte Austausch mit etwa muslimischen und jüdischen Theolog*innen und Religionspädagog*innen einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, in der Gender-Frage auf einem festen Wissensfundament zu stehen und dieses auf direktem Wege in die Gemeinden weiterzuleiten. Wie jüngste Umfragen gezeigt haben, wird nicht das unbedingt konkrete Anliegen von Gender und Gender Mainstreaming abgelehnt, sondern der Widerstand richtet sich gegen den abstrakten Begriff– nicht zuletzt, weil er in den Anti-Gender-Diskursen eine neue inhaltliche Aufladung erfährt. Transparent und konkret zu werden, dazu rät auch das „Evangelische Zentrum Frauen und Männer“ in einem Flyer, in welchem mitunter Handlungsstrategien im Umgang mit aggressiver Stimmungsmache gegen Gender vorgestellt werden.
Auf die Botschaft, dass Handeln notwendig ist, haben wir auch im Jahr 2017 nicht lange warten müssen. Nur einen Tag nach der Vereidigung des neuen amerikanischen Präsidenten sind in den USA und weltweit hunderttausende Menschen aller Geschlechter auf die Straßen gegangen, um ihren Protest gegen frauenfeindliche, anti-rassistische und anti-muslimische Politiken zum Ausdruck zu bringen. In diesem Zusammenhang lässt sich für 2017 schon jetzt vielleicht eher pink als schwarz malen.
Am Gender-Begriff zeigt sich das deutsche Demokratieverständnis.
Der Begriff Gender und alle ihm anverwandten Themen werden auch in Zukunft bestenfalls der Anlass zu kontroversen Diskussionen sein. Hier hat sich gezeigt, dass es nach wie vor zwei Seiten gibt, die es sichtbar zu machen gilt. Anhand des Begriffes Gender wird künftig noch weitaus mehr verhandelt werden, als die Frage, wie Menschen zu ihrer geschlechtlichen Identität kommen und welcher Wert dieser zugeschrieben wird. Die pluralistische Gesellschaft der Bundesrepublik wird ihr Demokratieverständnis an ihrem gesamtgesellschaftlichen Umgang mit diesem Themenkomplex messen lassen müssen. Dieser Aushandlungsprozess wird auch für das Ergebnis der Bundestagswahl im September nicht unerheblich sein. An ihm wird sich zeigen, wie offen unsere Gesellschaft sein will. Und bis dahin wirken beide Seiten – progressiv wie regressiv – an der Diskussion um Gender mit.
[1] Vgl. Zeitmagazin Nr.1, 29.12.2016.
[2] http://www.sueddeutsche.de/panorama/papst-franziskus-papst-franziskus-verurteilt-gendertheorie-1.3188498 (15.01.2017).
[3] Vgl. Birgit Kelle, GenderGaga: Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will., Asslar 2015.
[4] Vgl. Gabriele Kuby, Gender: Eine neue Ideologie zerstört die Familie, Kissleg 2014.
[5] https://www.evangelisch.de/inhalte/140035/07-11-2016/studie-offener-dialog-gemeinden-foerdert-toleranz (21.01.2016)
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Theresa Pieper, M.A., ist Gleichstellungsbeauftragte der Bremischen Evangelischen Kirche und Doktorandin der Religionswissenschaft an der Universität Hamburg.
Bild: BirgitH / pixelio.de