Kolumne für die kommenden Tage 33
Ich war infiziert. Positiv getestet. Sofort rückt mein Gegenüber von mir ab. Ob ich wohl tatsächlich nicht mehr ansteckend wäre? Da gäbe es ja diese Studie, sicher ist es nicht, ob man immun sei. Bin ich jetzt im falschen Film? „Fasst nichts an!“ Wird die erste Reaktion des „netten“ Nachbarn auf unsere Info an alle Hausbewohner*innen nun zum Dauerzustand? Kein Bedauern, kein Mitgefühl – „habt ihr Handschuhe und Desinfektionsmittel?“ Nein, er war die Ausnahme. Viele riefen an und haben gefragt, ob wir etwas brauchen, haben für uns eingekauft, liebe Nachrichten, Blumen und Bilder geschickt.
Nach zehn Tagen Kopfschmerzen, Schnupfen, trockenem Husten, Schüttelfrost die Vollendung der Isolation: Geruchs- und Geschmacksverlust. Zugleich der Wendepunkt – wir dürfen uns testen und dazu auch die Wohnung ver- lassen. Bis auch kein Duft mehr zu uns durchdrang, waren wir leichte Fälle, soundso schon in Quarantäne, weil wir mit Infizierten am Tisch gesessen waren, eines Tests in der Situation des Mangels und der Überlastung nicht würdig. Das Testergebnis bekamen wir dann prompt in nicht einmal 24 Stunden: positiv. Die Nachricht hat mich fast in einen Glücksrausch versetzt. Auch von den Mitarbeiter*innen des Gesundheitsamt wurden wir beglückwünscht: Sie gehören zu den Glücklichen, Sie sind dann immun.
Zunächst bedeutete das Testergebnis allerdings weitere 14 Tage Quarantäne. Keinen Schritt vor die Tür, Dauerinformation über Fernseher, Radio und Internet über die Welt draußen, Verschärfung der Ausgangsbeschränkungen, Bilder von Leichentransporten und völlig erschöpftem Klinikpersonal, Berichte über die weitere Verbreitung und den Anstieg der Infizierten und der Toten, Dokumentationen über die katastrophalen Konsequenzen der Schutzmaßnahmen für die Menschen in Indien und Afrika, über den Preiskrieg für Beatmungsgeräte und Schutzmaterial, menschrechtsverachtende Notstandsgesetze. Das Gefühl tiefer Scham über die Aufnahme 12 minderjähriger Flüchtlinge durch Luxemburg, 47 durch Deutschland.
Und irgendwann drehen sich nur noch alle Bilder und Berichte im Kopf, lassen nicht mehr schlafen, produzieren Fragen ohne Antworten. Ich habe es fast überstanden, ich bin immun, was kann ich tun, wo werde ich gebraucht, wie kann ich mich als Genesene ausweisen, warum werden die Zahlen der Gesundeten nicht von denen der Infizierten abgezogen, warum kann ich mein Blut nicht für die Gewinnung von Antikörpern spenden, warum nimmt uns keiner wahr, warum kann ich genesen nicht zu den Isolierten ins Pflegeheim?
Dann der erste Einkauf in plexiglasgeschützter Welt ohne Hefe, der erste Spaziergang in verkehrsfreier Stille. Da sind gar keine Kondensstreifen am Himmel. Dafür zeigt und erzählt gerade jede/r, wie er/sie zuhause lebt und evtl. arbeitet. Zuviel kollektive Intimität. Viele scheinen sich zu langweilen. Das suggeriert jedenfalls die Frage, wie man mit der Langeweile umgehe, im kollektiven Krisen-Tagebuch einer großen Tageszeitung. Nach einer Panikattacke, als Schul- und Ladenschließungen angekündigt wurden und sich mein prall gefüllter Terminkalender durch Veranstaltungsabsagen entleerte, erinnere ich mich an einen kurzen Gedankenblitz, wäre gar doch mal ein anderes Arbeiten möglich, work-life-balance mit Zeit zum Neudenken?
Zunächst die Krankheit und dann das Aufarbeiten des Liegengebliebenen, das Zurecht- und Zurückfinden im Corona-Alltag und in das „normale Leben“ haben den Gedankenblitz nicht zur Realisierung kommen lassen. Nicht ein Buch gelesen, noch nicht mal die Tageszeitung geschafft, geschweige denn alle feinschwarz-Texte und ein zunehmendes Gefühl: Alles ist zu viel, zu viel und vor allem im wahrsten Sinne des Wortes Unfassbares drängt sich mir auf, über mich hinweg, auf mich ein. Manchmal eine Ahnung, nichts muss sein, vor allem nicht wie immer oder weil es immer so war. Und in all der Bedrängnis gleitet mir die Zeit durch die Finger, entgleiten mir Bewusstsein und Energie für das, was wichtig ist, also wirklich wichtig ist. Was ist das nochmal? Was macht Leben aus? Wertvoll? Glücklich? Gut?
Genesen und doch nicht, noch nicht hoffentlich.
Birgit Hoyer, Leiterin des Bereichs Bildung im Erzbistum Berlin, Honorarprofessorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen/ Frankfurt a.M., Mitglied der feinschwarz.net Redaktion.
Bild: Birgit Hoyer