Mit feinem Gespür für literarische und theologische Tonlagen ehrt Georg Langenhorst einen der großen Intellektuellen unter den gegenwärtigen Christ*innen des deutschen Sprachraums: Heinrich Detering. Da ist einer, der sich nicht auf die sichere Position des Beobachters und Kritikers zurückzieht, sondern sich auch selbst auszusetzen wagt – mit Bekenntnissen, theologisch wie literarisch.
Doch es gibt sie: Literaturwissenschaftler*innen, die gleichzeitig selbst literarisch tätig sind. Dirk von Petersdorff (*1966) etwa, als Germanist an der Friedrich-Schiller-Universität tätig, aber auch ein renommierter Lyriker. Der bekannteste der in Deutschland lebenden literarischen Doppelbegabungen ist aber wohl Heinrich Detering. Seit 2005 in Göttingen lehrend ist er mit so vielen Preisen, Ehrungen und würdevollen Ämtern überhäuft worden, dass die Aufzählung nur ermüden würde.
Heben wir zwei hervor: die im Jahr 2009 ausgesprochene Auszeichnung mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaften, die mit 2,5 Millionen Euro Preisgeld dotiert ist und Geisteswissenschaftler*innen nur höchst selten verliehen wird; das Amt als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, das er von 2011 bis 2017 versah.[1]
Ein Germanist mit theologischem Interesse
Mindestens drei Faktoren machen Detering über die rein literaturwissenschaftliche Welt hinaus interessant. Das ist zum einen die Breite seiner wissenschaftlichen Interessen. Mag man bei einem Germanisten Studien über Thomas Mann, Bertolt Brecht oder Hans Christian Andersen noch erwarten, so verweisen Bücher über Bob Dylan schon auf disziplinsprengende Neugier. Sie zeigt sich bei genauem Hinsehen vor allem in der Nähe zu Religion und Theologie. Da finden sich Bücher über „Theodizee und Erzählverfahren“ (1997), da geht es im Blick auf Nietzsche um den „Antichrist und den Gekreuzigten“ (2010), da rückt „Thomas Manns amerikanische Religion“ (2012) in den Fokus. Detering wird so zu einem wichtigen theologisch-literarischen Gesprächspartner aus Sicht der Literaturwissenschaft.
Die Bibel – ein Buch der „großen Menschheitsfragen“
Detering hat auch evangelische Theologie studiert. Die Bibel erklärt er ohne Scheu zu seinem Lieblingsbuch, weil „die großen Menschheitsfragen“ hier „auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet“ werden. Als Christ müsse man „ihre Widersprüche austragen, muss mit ihnen leben, muss in die Diskussion eintreten“[2], so Detering 2017 in einem Gespräch mit dem DOMRADIO Köln. Evangelisch aufgewachsen, entscheidet sich Detering zur Konversion zur Katholischen Kirche. Als „Konvertit ohne Eifer“[3] bezeichnet er sich selbst, fasziniert von der Bilderwelt der Kirche, der Poesie von Wort und Bild, dem Mysterium. 2016 wählte ihn das Zentralkomitee der deutschen Katholiken als eine von 45 so bestimmten Einzelpersönlichkeiten unter seine Mitglieder. Der Germanist, der sich als gläubiger Christ bekennt; der Konvertit, der sich wissenschaftlich auf theologische-literarischen Grenzpfade einlässt: das ist der zweite Aspekt, der Heinrich Detering auszeichnet.
Lyrik als Lebensbogen
Der dritte verlangt noch mehr Mut als das öffentliche konfessionelle Bekenntnis. Detering ist Lyriker. 1978, da ist er gerade achtzehn Jahre alt, erscheint ein erstes Bändchen, „Zeichensprache“, 2016 in Erweiterungen wieder publiziert. Dann folgen zwar Gelegenheitspublikationen einzelner Verse oder Zyklen, die folgenden Jahrzehnte gehören jedoch der Wissenschaft. So wird es manchen Akademikerinnen und Akademikern gehen: Die freie Kreativität der Jugendphase wird in die engen Rinnströme der prestigeträchtigen Professionalität gezwängt. Und im Rückblick mögen die jugendbedeutsamen Verse, Erzählungen, Bilder eher peinlich wirken.
Anders bei Detering. 2004 erscheint im Wallstein-Verlag (Göttingen) der Band „Schwebstoffe“, publiziert von einem inzwischen renommierten Ordinarius. Vier weitere schmale Bände werden im gleichen Verlag folgen: „Wrist“ (2009), „Old Glory“ (2012), „Wundertiere“ (2015), „Untertauchen“ (2019). Der erfolgreiche Germanist wagt die Publikation eigener Gedichte, verletzlich, ungeschützt, offen. Schauen wir auf seine lyrische Welt.
Wer von dem Literaturprofessor schwierige, komplizierte, theorieüberladene Texte erwartet oder befürchtet, wird überrascht: Leicht kommen die Texte daher, zart, spielerisch, einladend. Da werden verschiedene lyrische Formen ausprobiert, da finden sich neben freien Mustern auch klassische Elemente wie Strophen und Reime, da geht es nicht um Botschaften, sondern um poetische Mediationen alltäglicher Erfahrungen und Gedanken. Immer wieder geht es um Naturbeobachtungen, um Betrachtungen zu besuchten Orten, um das Aufgreifen von Gedanken von gestaltenden, dichtenden und denkenden Menschen anderer Zeiten und Kulturen.
Karfreitag verdichtet
Genau hier dringen auch religiöse Elemente in die Bild- und Gedankenwelt der Verse. Nein, Religion ist in Deterings Werk nicht das Hauptthema. Aber ein Anregungsstrom neben anderen. Immer wieder finden sich poetisch entfaltete theologische Gedanken, vor allem biblisch inspirierte Assoziationen. Schauen wir auf ein besonderes eindrückliches Beispiel[4]:
Nach Golgatha
Als wir dann zurückkehrten in die Stadt,
hatte keiner etwas von einem Erdbeben bemerkt.
Es hatte leicht zu nieseln begonnen, die Steine
waren schlüpfrig, es war kein Vergnügen.
Seit drei etwa hatte es sich zugezogen vom Meer her, das
war die Dunkelheit, von der manche sprachen, später,
das war alles.
Wir hatten keine Gestalt gesehen
die uns gefallen hätte, nur ein zähes
Schauspiel, zu roh wie fast immer
und ermüdend.
So gingen die meisten schweigend.
Wir dachten an die Kinder, an das Abendessen,
an den Abend nach dem Essen, an die Nacht danach.
Sechs Tage lang haben wir auf diesen Abend gewartet,
wie jede Woche, wie jede
Woche. Nun ist er da, der Tag hat
sich geneigt, es war ein langer Tag,
wie fast immer. Auch draußen
wird jetzt Ruhe sein.
Morgen ist arbeitsfrei.
Übermorgen dann alles wie gehabt.
„Wie fast immer“: gleich zweifach verweist diese Angabe auf den Grundduktus des lakonisch berichtenden Textes. Eine nicht näher charakterisierte Gruppe von Menschen – unklar ob heutige oder damalige – ist auf dem Heimweg in ihre Stadt. Wie so oft. Nach sechs Tagen Arbeit und Alltagsroutine hatten sie sich zur Beiwohnung eines Spektakels aufgemacht. Nur aus dem über den Titel des Gedichts erschließbaren Kontext ahnen wir Lesende, dass sie sich aufmachen, um Hinrichtungen beizuwohnen, in diesem Fall der Hinrichtung Jesu. Diese konkreten Hinweise spart dieser Text aber aus.
Kreuzigung: „ein zähes Schauspiel“
Das Beiwohnen einer öffentlichen Hinrichtung: Wie man aus der Historie weiß, war dies ein von vielen Menschen als ‚Vergnügen‘ betrachteter Zeitvertreib. Doch dieses Mal – wie so oft – erfüllten sich die Erwartungen nicht. Ein „zähes Schauspiel“ wurde ihnen geboten, „zu roh“, zu „ermüdend“. Die Hoffnung auf „eine Gestalt, die uns gefallen hätte“, wurde wieder einmal enttäuscht. Entsprechend gedrückt ist die Stimmung. Müßig zu spekulieren, wie eine „Gestalt“ ausgesehen haben müsste, die den Erwartungen der Schaulustigen entsprochen hätte…
Der Sprecher des Textes nimmt zwei Perspektiven gleichzeitig ein. Einerseits ist er ganz einer der sich müde nach Hause Schleppenden, völlig auf das Kommende konzentriert, die Begegnung mit den Kindern, das Abendessen. Vor allem: Auf die Perspektive der Ruhe des kommenden, arbeitsfreien Tages, des erneut ungenannt bleibenden Sabbat. Danach geht die Mühle des Alltags weiter. Wie fast immer. „Wie jede Woche, wie jede Woche“ – die Wiederholung unterstreicht den Verdruss. Ein Lebensgefühl wird beschworen, in dem die Routine zu Resignation führt. Ein Lebensgefühl, in dem sich auch heutige Menschen gespiegelt fühlen mögen. Wenn dann auch noch die erhofften Höhepunkte der Unterhaltung ausbleiben, bleibt nur trottendes Vor-Sich-Hingehen.
Nichts Ungewöhnliches. Nichts ändert sich.
In einer zweiten Perspektive blickt der Sprecher jedoch aus größerer Distanz auf das Geschehen zurück. Nun weiß er, dass sie von einem ganz besonderen Ereignis zurückkehrten. Der Tod Jesu sei begleitet gewesen von jener ungewöhnlichen dreistündigen Dunkelheit, von einem Erdbeben, so spielt er in die erste Versgruppe ein. Um diese Angaben aus eigener Sicht gleich zu relativieren: Vom vermeintlichen Erdbeben haben sie nichts gespürt, es kann also nur Einbildung oder freie Erfindung gewesen sein. Und für die Dunkelheit gab es ganz natürliche Erklärungen. Alles kein Wunder. Nichts Ungewöhnliches. Alles wie fast immer.
Detering bleibt in der fiktiven Perspektive der Zeitzeugen, die freilich nichts anderes bezeugen können als wieder einmal eine Kreuzigung wie so viele andere davor und danach. Quälend, langwierig, für die Zuschauer ermüdend. Nichts war anders als sonst. Nichts ändert sich. Alle erzählerischen Versuche der biblischen Berichte, aus dieser Kreuzigung eine besondere zu machen, werden zurückgewiesen. Eine Kreuzigung von 7.000 in Jerusalem in den elf Jahren der Statthalterschaft des Pontius Pilatus. Im Schnitt an die zwei Kreuzigungen täglich. Nicht mehr, nicht weniger.
Und doch ist alles anders.
Dieses Gedicht funktioniert als Kontrasttext. Vorausgesetzt wird: Die Lesenden wissen, dass diese Kreuzigung eben nicht war wie alle anderen. Dass der hier qualvoll zu Tode Gemarterte mit seinem Leben und in seiner Botschaft eine Orientierung für Milliarden Menschen in den folgenden Jahrtausenden gesetzt hatte. Dass man von ihm erzählen wird, er sei nicht im Tod geblieben, sondern von Gott auferweckt worden zu ewigem Leben. Leser*innenwissen und präsentierte Textwelt geraten in eine Spannung, die nur sie selbst auflösen können.
Vergleichbare Gedichte finden sich bei Detering immer wieder. Im neuen Band „Untertauchen“ wird man so Hagar begegnen, Esther, dem barmherzigen Samariter, Isaak und Lazarus. Diese Texte sind noch viel zu unbekannt. Wer sich für das Spannungsgefüge von Bibel und zeitgenössischer Literatur[5] interessiert, findet hier unerwartete Lesefrüchte.
Geburtstag
Heinrich Detering, führender Literaturwissenschaftler, unaufdringlicher Vertreter des Laienkatholizismus, feinfühliger Poet wird am 01.11.2019 60 Jahre alt. Mit Spannung bleibt zu erwarten, wohin ihn seine außerordentliche, grenzensprengende Kreativität weiter führen wird.
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[1]Weiteres ist nachzulesen auf seiner Homepage www.heinrichdetering.de.
[2]„Ich bin ein Konvertit ohne Eifer“. Domradio 01.12.2017.
[3] Ebd.
[4]Heinrich Detering: Wrist. Gedichte (Wallstein Verlag: Göttingen 2009), 71.
[5]Vgl. die Anthologie: Georg Langenhorst (Hg.): Und er spricht mit leisen Deuteworten… 164 Gedichte zu biblischen Themen, Motiven und Figuren (Verlag Katholisches Bibelwerk: Stuttgart 2019). Drei Texte von Detering sind hier aufgenommen.
Autor: Georg Langenhorst (geb. 1962), Prof. für Didaktik des Katholischen Religionsunterrichts/Religionspädagogik an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Augsburg, zahlreiche Veröffentlichungen zum Verhältnis von Theologie und Literatur, soeben erschien: Kinderbibel. Die beste Geschichte aller Zeiten (Verlag katholisches Bibelwerk: Stuttgart 2019)
Foto Heinrich Detering: ©Jens Gerdes/DA (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung)
Titelfoto: Alii Sinisalu / unsplash.com