Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Boris Previšić interpretiert den poetischen «Gesang der Kreaturen» des Franziskus von Assisi im Kontext der Sorge um «die kritische Zone», die verletzliche Oberfläche unserer Erde.1
I
Im Jahr 1218 stossen wir auf das erste Schriftstück italienischer Literatur, dessen Autorschaft belegt ist. Bekannt ist das Gedicht unter dem Titel «Cantico di frate sole», «Sonnengesang». Auch nennt man das Gedicht «Cantico delle creature»: «Gesang der Kreaturen». Es entstand nicht in den Alpen, sondern auf dem Apennin. Ohrenfällig seine rhythmisierte und klangvolle Prosa.
Der umbrische Dialekt ist zwar noch durchsetzt von Latinismen; doch er klingt schon sehr italienisch. Sie kennen das Gedicht, in dem sich mantramässig die Formel «Laudato si’, mi’ Signore» wiederholt: «Gepriesen seist du, mein Herr».
Die kritische Zone ist die verletzliche Oberfläche unserer Erde.
Der Titel «Sonnengesang» oder «Gesang der Kreaturen» bildet nicht das ab, wovon das Gedicht handelt. Hören wir das Gedicht als Gesang, lesen wir es als streng durchkomponierte Form, geht es um viel mehr: Es geht um den «Gesang der kritischen Zone». Und «die kritische Zone» ist die verletzliche Oberfläche unserer Erde, über- und unterspült von Wasser, vereist von Gletschern, durchdrungen von Wurzelwerk, überwachsen von Vegetation, umhüllt von einer zarten Atmosphäre, aber auch dem Wind und der Sonne ausgesetzt.
II
Das Gedicht selbst konzentriert sich streng formal auf diese «kritische Zone». Im Zentrum des ganzen Gesangs die Achse, um die sich alles dreht: der eigentliche «Gesang der kritischen Zone» in einer kurzen und in drei langen Perioden, 3 / 2 / 3 / 3 zugeordnet den vier antiken Elementen Wind, Wasser, Feuer und Erde.
eine christlich religiöse Tradition
Natürlich lässt sich die Dreiheit der drei Strophen einer christlich religiösen Tradition zuordnen. Die ersten elf Verse, die erste Strophe im Aufgesang, stehen über dieser kritischen Zone. Entscheidend dafür ist aber nicht Gott Vater, sondern «frate sole», «der Bruder Sonne», und «sora Luna e le stelle», «Schwester Mond und Sterne». Es ist das All, das Universum, durch welches unser Planet Erde in seiner Belebtheit der feinen kritischen Zone mutterseelenallein rast.
Ist die Menschwerdung Gottes Symbol für die kritische Zone?
Die Zuordnung der Zentralstrophe und des Abgesangs gestaltet sich schwieriger: Ist der «Bruder Wind», «il frate Vento», Zeichen für den heiligen Geist? Aber was machen die anderen drei Elemente hier? Steht Gottes Liebe zu Beginn des Abgesangs als Hinweis auf den Sohn Gottes? Oder gerade umgekehrt: Ist die Menschwerdung Gottes nicht vielmehr Symbol für die kritische Zone?
III
Wir können nur eine Vermutung anstellen: Die Trennung zwischen Körper und Geist steht in der christlichen Tradition der Aufteilung zwischen Leib Christi und heiligem Geist. Diese Aufteilung unterwandert Franziskus systematisch. Wir wissen heute, dass wir die immensen planetaren Probleme erst im Zusammengehen von technischen und ‘natürlichen’ Prozessen und in der Abwägung von Verhältnismässigkeiten verschiedener Energieformen lösen können.
Es geht um Zyklen und Stofflüsse, Grössenverhältnisse und Abmischungen.
Die Wechselwirkungen mit und innerhalb der kritischen Zone sind höchst komplex. Das haben die systemischen Naturwissenschaften erst die letzten vierzig Jahre richtig aufgearbeitet. So geht es um Zyklen und Stoffflüsse, um Grössenverhältnisse und Abmischungen, wenn die belebte kritische Zone unserer Erde mit Biosphäre und Hydrosphäre, Atmosphäre und Pedosphäre ins Zentrum des Gedichts rückt.
im Hin und Her zwischen den Polen des grammatischen Genus
Der Wechsel und das ständige Austarieren der Prozesse in der kritischen Zone finden ihre Entsprechung im Hin und Her zwischen den Polen des grammatischen Genus, zwischen «er» und «sie»: im Aufgesang zwischen «frate Sole» und «sora Luna», im Abgesang zwischen «Tuo amore» und «nostra Morte corporale», unserem leiblichen Tod. Und in der Zentralstrophe der kritischen Zone intensiviert sich das Hin und Her: zwischen «frate Vento» und «sor’ Acqua», «frate Focu» und «sora nostra matre Terra»; «Bruder Wind» und «Schwester Wasser», «Bruder Feuer» und «unserer Schwester Mutter Erde». So lautet die Zentralstrophe unseres Cantico della zona critica:
Laudato si’, mi’ Signore, per frate Vento
Et per aere et nubilo et sereno et onne tempo,
per lo quale a le Tue creature dài sustentamento.
Gelobt sei, mein Herr, durch Bruder Wind
Und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter,
wodurch du deinen Geschöpfen Unterstützung gibst.
Laudato si’, mi’ Signore, per sor’ Acqua,
la quale è multo utile et humile et pretiosa et casta.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
die sehr nützlich ist und demütig und kostbar und keusch.
Laudato si’, mi’ Signore, per frate focu,
per lo quale enn’allumini la nocte,
ed ello è bello et iocundo et robustoso et forte.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch den du die Nacht erhellst
und der schön und fröhlich ist und kraftvoll und stark.
Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra matre terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti flori et herba.
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester Mutter Erde,
die uns unterstützt und lenkt
und vielfältig Früchte hervorbringt mit bunten Blumen und Kraut.
Die kulturhistorische Ausstaffierung mit den vier antiken Elementen und der christlichen Dreiheit, ja, selbst die sprachliche Prägung und Ausgestaltung bilden lediglich das Gerüst, um sich der kritischen Zone in ihrer Dynamik und Selbststabilisierung anzunähern. Und diese kritische Zone hebeln wir gegenwärtig in ihren komplexen Wechselbeziehungen aus. Das ist einmalig – nicht nur in der Menschheitsgeschichte der letzten Tausenden von Jahren, sondern in der Erdgeschichte von Jahrmillionen.
IV
So zitiert der neue Franziskus im Vorfeld der Pariser Klimakonferenz 2015 zu Beginn seiner Enzyklika, seines päpstlichen Rundschreibens, den Höhepunkt dieser Mittelstrophe:
Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra matre Terra,
la quale ne sustenta et governa,
et produce diversi fructi con coloriti fiori et herba.
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester Mutter Erde,
die uns unterstützt und lenkt
und vielfältig Früchte hervorbringt mit bunten Blumen und Kraut.
Warum gerade nimmt Papst Franziskus diesen einen Satz aus dem Gesang der kritischen Zone für sein Rundschreiben? Natürlich kann man wieder trennen: hier «sora nostra», dort «matre Terra». Doch vermischen sich wiederum die Ebenen und damit die Verwandtschaftsverhältnisse: «sora nostra», «unsere Schwester» der Gegenwart, Symbol der Gleichheit und Gleichbehandlung. Ihr begegnen wir auf Augenhöhe. Sie nutzen wir, sie braucht unseren Schutz.
Verhältnis zwischen Nutzniessung und Rückgabe
Und dort die «matre Terra», Ursprung und Lebensgrundlage. Sie gibt. Gerade dieses intrikate Verhältnis zwischen Nutzniessung und Rückgabe macht es uns so schwierig, nachhaltig zu haushalten, sich in den verschiedenen Zyklen sinnvoll zu bewegen, ohne dem masslosen Extraktivismus zu verfallen, ohne Ressourcen auf immer auszubeuten, die niemandem mehr zustehen werden, ohne fossile Energieträger zu verbrennen, welche in Form von Klimagasen nichts, aber auch gar nichts in unserer Atmosphäre verloren haben.
Handlungsträgerin ist «unsere Schwester Mutter Erde».
Vielleicht wirkt es banal, aber so steht es im Gedicht: «sora nostra matre Terra, / la quale ne sustenta et governa». «Unsere Schwester Mutter Erde, / die uns unterstützt und lenkt». Das Verb «sustenta» – oder wie es schon eingangs zur Zentralstrophe bereits als Nomen heisst: «sostentamento» – meint «Nachhaltigkeit» im besten Sinn, auf neuitalienisch: «sostenibilità». Es handelt sich aber nicht um eine Nachhaltigkeit, wie wir sie gemeinhin annehmen und wie wir sie zu bestimmen vermeinen. Im Gegenteil: Handlungsträgerin ist «unsere Schwester Mutter Erde». Sie ist Subjekt, sie führt uns, sie nährt uns mit Essbarem und Schönem. Nachhaltigkeit beginnt mit der biosphärischen Lebensgrundlage. Sie ist entscheidend. Sie entscheidet.
V
Ein weiteres Rätsel treibt die Linguistik bis heute um. Es geht um das neben dem «et» häufigste Wort in diesem Gesang. Eine einsilbige, schwer übersetzbare Präposition im Übergang vom hochmittelalterlichen Latein in die umbrische Volkssprache: «per». Alle Elemente, die wir bisher aufgezählt haben, werden durch dieses «per» eingeleitet: «per sora Luna», «per frate Vento», «per sor’ Acqua», «per frate Focu», «per sora nostra matre Terra», «per Tuo amore» und «per nostra Morte corporale».
Eine einsilbige, schwer übersetzbare Präposition: «per»
Diese eine Silbe der einen Präposition markiert den einstigen Ablativ. Dieser multifunktionale Kasus kann mindestens fünf verschiedene Arten der Beziehung zu diesem Gelobten herstellen:
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den Grund: «Du seist gelobt, weil uns unsere Schwester Mutter Erde unterstützt und führt.»
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den Zweck: «Du seist gelobt, indem uns unsere Schwester Mutter Erde unterstützt und führt.»
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das Medium: «Du seist gelobt mittels Schwester Mutter Erde.»
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das handelnde Subjekt: «Du seist gelobt durch unsere Unterstützung und Leitung von Schwester Natur Mutter Erde.»
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den Ort: «Du seist gelobt auf unserer Schwester Mutter Erde.»
Das ist genau der Sinn von «per». Wir sind mit unserer Lebensgrundlage auf so vielerlei Weise verhängt, dass wir uns von ihr in keinerlei Weise entkoppeln können. Die kritische Zone ist gleichzeitig Grund, Zweck, Medium, Handelnde und Ort unserer Existenz.
Die kritische Zone ist nicht einfach Objekt unserer Betrachtung.
Darum macht es keinen Sinn, die kritische Zone einfach als Natur zu bezeichnen. Sie ist nicht einfach Objekt unserer Betrachtung, sondern wir sind in sie eingebunden und sie in uns. Darum bringt auch eine Fundamentalopposition gegen jeglichen Eingriff in die ‘Natur’ schlichtergreifend nichts. Wir haben schon immer – seit wir Menschen sind – eingegriffen. Vielmehr stellt sich die Frage nach dem Wie, nach der Verhältnismässigkeit unserer Interaktion mit der «kritischen Zone».
VI
Die zarte und labile «kritische Zone» verlangt von uns nicht ein radikales Denken, sondern ein radikal systemisches Denken in Zusammenhängen. Selbst das Feuer hat bei Franziskus einen Platz – und nicht nur weil das Feuer zu den vier antiken Grundelementen gehört. Der Gesang der «kritischen Zone» ist keine Aufforderung zum absoluten Verzicht. Vielmehr verlangen die Zusammenhänge nach Klugheit und Weisheit.
Unsere Sterblichkeit bildet die Zielgrösse im Umgang mit der kritischen Zone.
Und so endet unser «Cantico della zona critica» in einem Abgesang mit der Anrufung der Zwillingsschwester, der «sora nostra Morte corporale». Unsere Sterblichkeit bildet die Zielgrösse im Umgang mit der kritischen Zone. Das Bewusstsein unserer eigenen Begrenzung bildet den eigentlichen Leitfaden unseres Handelns. Oder wie es im Abgesang heisst: «cum grande humilitate» – «mit grosser Demut». Und klingt nicht in der Demut, «humilitas», die Erde mit? «Humus».
Boris Previšić, Prof. Dr., Gründungsdirektor des Urner Instituts Kulturen der Alpen, Universitätsprofessor für Kulturwissenschaften, Luzern.
Bild des Autors: Nils Fisch auf Wikimedia Commons
Beitragsbild: Franziska Loretan-Saladin
- Der Beitrag entstand als Teil der Veranstaltung „Die Predigt“ vom 30.07.2023 in der Peterskapelle Luzern. ↩