Ein Plädoyer für ein nicht (ausschließlich) binäres und cis-geschlechtliches Sprechen von Gott und seinen*ihren Geschöpfen von Veronika Gräwe.
Der deutsche Staat kennt seit gut einem Jahr neben „männlich“ und „weiblich“ mit „divers“ einen dritten positiven Geschlechtseintrag. Seit dem 9. Januar 2020 liegt auch ein Gesetzesentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen vor. Dieser hat vor allem den Schutz von inter* Kindern vor Operationen im Blick, welche diese in das binäre System von männlich oder weiblich einordnen wollen. Es handelt sich um eine Praxis, die von Betroffenen u. a. als Genitalverstümmelung beschrieben wird (vgl. queeramnesty.ch). Welche Möglichkeiten ergeben sich aus einer katholischen Perspektive für Geschlechtergerechtigkeit nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen allen Geschlechtern einzutreten?
Eine Bilanz katholischer Äußerungen zu den Themen trans*, inter* und nicht-binäre Menschen ist ambivalent.
In christlich-theologischen Diskursen in Deutschland, hier stärker in der evangelischen als in der katholischen Theologie, tauchen die Themen trans*, inter* und nicht-binäre Menschen auf. Eine Bilanz katholischer Äußerungen zu den Themen trans*, inter* und nicht-binäre Menschen ist ambivalent. Das in 2019 veröffentlichte Dokument der vatikanischen Bildungskongregation „Male And Female He Created Them.“ (PDF) spricht sich für medizinische Eingriffe an Kindern aus, die nicht als männlich oder weiblich geboren werden. Es steht somit in der Gefahr, als Aufruf zu Menschenrechtsverletzungen an inter* Personen gelesen zu werden (vgl. huk.org).
In Deutschland befürwortet die Deutsche Bischofskonferenz dagegen, dass Menschen durch die Einführung des Geschlechtseintrags „divers“ nicht dazu gezwungen werden, sich entgegen ihrer eigenen Empfindungen einem Geschlecht zuzuordnen, das nicht zu ihnen passt (vgl. katholisch.de). Fragen, wie etwa nach den Implikationen des Geschlechtseintrags „divers“ für die Sakramente Ehe oder Priesterweihe, stellen sich für die Katholische Kirche allerdings keinesfalls erst seit kurzem, sondern beschäftigten bereits im Mittelalter Kirchenrechtler in Bezug auf damals noch als „Hermaphroditen“ bezeichnete Menschen“.[1]
Wo befördert katholisches oder christliches Sprechen von Gott und seiner*ihrer Schöpfung eine lebensfeindliche binäre Ideologie von Geschlecht?
Aus katholischer Perspektive lässt sich unter mehreren Gesichtspunkten für ein Sprechen von Gott argumentieren, das auch nicht-binäre und nicht-cis Geschlechtlichkeit berücksichtigt. Nicht-binäre Geschlechter meinen dabei Geschlechtsidentitäten, die sich nicht als ausschließlich männlich oder weiblich definieren lassen. „Cis“ markiert im Gegensatz zu „trans“ die Übereinstimmung des Geschlechtsempfindens einer Person mit dem ihr bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht.
Ein Plädoyer für ein nicht (ausschließlich) binäres und cis-geschlechtliches Sprechen von Gott und seinen*ihren Geschöpfen und eine dementsprechende Glaubenspraxis kann dabei u. a. Aspekte von Gerechtigkeit, Anti-Diskriminierung und einer Option für marginalisierte Gruppen – analog zu der aus der Befreiungstheologie stammenden Option für die Armen – beinhalten. Es kann sich kritisch damit auseinandersetzen, wo katholisches oder christliches Sprechen von Gott und seiner*ihrer Schöpfung eine lebensfeindliche binäre Ideologie von Geschlecht befördert. Es kann im Sinne von aggiornamento und ressourcement danach fragen, wo uns Tradition und Schrift nicht-binäre und nicht-cis geschlechtliche Beispiele gelebten Glaubens überliefert haben.
Katholik*innen müssten selbstverständlich an der Seite ihrer katholischen und nicht-katholischen trans* Geschwister stehen.
Die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes lädt Katholik*innen als Jünger*innen Christi ein, „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ zu teilen (GS 1). In diesem Sinne müssten Katholik*innen selbstverständlich an der Seite ihrer katholischen und nicht-katholischen trans* Geschwister stehen, wo diese in Deutschland und weltweit Diskriminierung und Gewalt in Bereichen wie beispielsweise Gesundheit oder Arbeit erfahren.
In diesem Sinne müssten Katholik*innen selbstverständlich ihre Stimme solidarisch mit inter* Personen erheben, wo diese für ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit eintreten. Und in diesem Sinne müssten Katholik*innen selbstverständlich danach fragen, wie sich die frohe Botschaft eines*er Gottes, der*die Mensch geworden ist, damit alle Menschen das Leben in Fülle haben, verkünden lässt, ohne dabei ausschließende binäre Strukturen zu reproduzieren. Wie bei jedem Einsatz für marginalisierte Gruppen könnte hier die Devise „Nothing About Us Without Us“ (Nichts über uns ohne uns) gelten. Hier bedürfte Kirche dann theologischer und pastoraler Mitarbeitenden, die über eine lived experience (gelebte Erfahrung) in Bezug auf trans*, inter* und nicht-binäre Geschlechtlichkeiten verfügen.
Wo sind trans*, inter* und nicht-binäre Menschen sichtbar: im kirchlichen Dienst, aber auch in Tradition, Schrift und Glaubenspraxis?
Neben der Frage nach der Sichtbarkeit von trans*, inter* und nicht-binären Menschen im kirchlichen Dienst, lässt sich auch die Frage nach der Sichtbarkeit von trans*, inter* und nicht-binären Menschen in Tradition, Schrift und Glaubenspraxis stellen.
Im ersten Schöpfungsbericht findet sich – zumindest in der deutschen Einheitsübersetzung – die Beschreibung, wie Gott die Menschen als „männlich und weiblich“ erschafft. Eine Beschreibung menschlicher Geschlechtsidentitäten anhand eines Spektrums zwischen einem männlichen und einem weiblichen Pol, auf dem sich einzelne Menschen verschieden verorten, erscheint damit zumindest eine Übersetzungsmöglichkeit darzustellen. Wird außerdem die Aussage berücksichtigt, dass Gott die Menschen als Bild Gottes schuf, so ist auch hier ein ausschließlich binäres Geschlechtermodell zumindest ambivalent, kennt doch die Tradition zumindest für zwei Personen der Dreifaltigkeit keine Geschlechtszuordnung im Sinne von eindeutig Mann oder Frau.
Im Idealfall erleben Menschen die vielfältigen Aspekte ihrer Identität als Schöpfung Gottes.
In der Praxis gelebten Glaubens erfahren sich Menschen in ihrer Gottesebenbildlichkeit im Idealfall als einzigartig, von Gott bejaht und geliebt. Sie erleben die vielfältigen Aspekte ihrer Identität als Schöpfung Gottes, zu denen auch das Geschlecht eines Menschen gehören kann.
Verkürzte kirchliche Darstellungen von Geschlecht unterstellen einer Person, die im Zuge einer Transition beispielsweise von dem ihr bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht „männlich“ zu ihrer eigentlichen Geschlechtsidentität als Frau übergeht, eine Nichtannahme ihres von Gott geschaffenen Geschlechts. Neurowissenschaftliche Forschung zu trans* kennt aber beispielsweise das Phänomen, dass die Genitalien auf ein anderes Geschlecht hinweisen als das Gehirn eines Menschen.[2] Die kirchliche Unterstellung läuft folglich ad absurdum, falls nicht diskutiert werden soll, ob Gott nun das „Genitalgeschlecht“ oder das „Hirngeschlecht“ geschaffen hat.
Die Transition als ein Prozess, in dem trans* Menschen mehr zu der Person werden dürfen, als die Gott sie geschaffen hat.
Wo christliche trans* Menschen die Transition als einen Prozess erleben, in dem sie mehr zu der Person werden dürfen, als die Gott sie geschaffen hat, kann dies auch in der Glaubenspraxis sichtbar werden. Evangelische Kirchen knüpfen beispielsweise an die Taufe an und diskutieren für Personen mit einer trans*Biografie nach einer Transition die Möglichkeit, in einem Tauferneurungsritus mit ihrem ausgesuchten Namen gerufen zu werden. Angeknüpft wird hier an biblische Erzählungen und christliche Glaubenstraditionen, die einen Wechsel des Namens anlässlich zwar nicht von Geschlechts-, aber von Lebensübergängen kennen (vgl. churchofengland.org, PDF).
Mitklingen könnten hier auch die Worte des Propheten Jesaja: „ich habe dich beim Namen gerufen“. Die Verse Jesajas drücken die innige Beziehung zwischen Schöpfer*in und Geschöpf aus und können in Bezug auf eine Transition auch das Wissen einer Person mit trans*Biographie um ihr Geschlecht, lange vor der Transition selbst, als von Anfang an von Gott geschaffenen Identitätsaspekt benennen. Katholische Liturgie könnte hier ökumenisch lernen und eine Ressource für die Glaubenspraxis von Katholik*innen mit trans*Biographie bieten.
Kirche – ein möglicher Ort der Begegnung zwischen Gott und Menschen aller Geschlechter.
Als Ressourcen für die Glaubenspraxis inter* und nicht-binärer Menschen bieten sich u. a. jene Menschen mit nicht ausschließlich männlichen oder weiblichen Geschlechtsmerkmalen aus dem Umfeld Jesu und des Volkes Israel an, die Bibelübersetzungen als Eunuchen bezeichnen. Während diese gesellschaftlich u. a. aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit Diskriminierung ausgesetzt waren, erhalten sie in der Prophezeiung von Jesaja einen ewigen Namen.[3] Gott scheint also bereits an ihrer Seite zu stehen.
Die Katholische Kirche steht im deutschsprachigen Raum angesichts des Brüchig-Werdens des binären Geschlechtermodells von ausschließlich männlich oder weiblich also nicht unbedingt unter dem Druck, sich um des Evangeliums willens von einem vermeintlichen Zeitgeist abgrenzen zu müssen. Sie könnte viel eher das Potential der Tradition und Schrift wahrnehmen, um ein Ort der Begegnung zwischen Gott und Menschen aller Geschlechter zu werden.
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Veronika Gräwe studierte Theologie, Dramaturgie, Religions- und Kulturwissenschaften in Berlin, Leipzig und Leuven. Sie lebt in Berlin und engagiert sich für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in christlichen Kontexten.
Bild: ikewinski / creativecommons.org
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[1] Vgl. Christof Rolker. 2014 „VI. The Two Laws and the Three Sexes: Ambiguous Bodies in Canon Law and Roman Law (12th to 16th Centuries).“ In Zeitschrift Der Savigny-Stiftung Für Rechtsgeschichte: Kanonistische Abteilung 100.1: 178-222.
[2] Vgl. Milton Diamond. 2019. „Transsexualismus als intersexueller Zustand.“ In Das Geschlecht in Mir : Neurowissenschaftliche, Lebensweltliche Und Theologische Beiträge Zu Transsexualität. Herausgegeben von Gerhard Schreiber. Berlin ; Boston : De Gruyter, 69-81, hier v. a. 71.
[3] Vgl. Megan K. DeFranza. 2015. Sex difference in Christian theology : male, female, and intersex in the image of God. Grand Rapids, Michigan: William B. Eerdmans Publishing Company. Hier v. a. 70-80.