Im Juli dieses Jahres nahm Nadia Rudolf von Rohr an einer Biblischen Studienreise nach Israel teil. Ein Reisebericht.
Irgendwie hatte ich sie verdrängt. Besser warten mit der Vorfreude, bis wir dann wirklich in der Luft sind! Die Tage vor dem Abflug waren noch so voll von allem andern, das noch sein wollte, Israel musste warten. So vieles, was noch schief gehen oder anders kommen könnte, und wer weiss schon, ob ich dann all die Sicherheitschecks überstehe und überhaupt, man hört ja so dieses und jenes von Fluggästen, die wieder aussteigen mussten und doch nicht fliegen konnten…
Und dann war es plötzlich wahr: kein Problem mit den Sicherheitschecks, das Boarding komplikationslos, der Flieger hat abgehoben – mit Verspätung zwar – aber was soll’s.
Landung in Tel Aviv. Warm ist es und windig, hier sind wir also. Tatsächlich. Im heiligen Land.
Hier sind wir also.
Ich bin müde von der Sitzerei, aber das tut der Freude keinen Abbruch – mein Herz ist ein erstes Mal bewegt. Das Verdrängen vor der Reise diente nicht nur dem Selbstschutz vor einer möglichen Enttäuschung, das war auch ein Aufbauen von Spannung auf die Erfüllung einer Sehnsucht hin, die Sehnsucht vielleicht, Bibel zu „atmen“.
Willkommen geheissen werden wir mit dem Ausspruch אשרי הם באים!: Gesegnet sind sie, die da kommen. Wie schön. Ja, so fühle ich mich, gesegnet. Auch, weil diese Reise sein darf, weil es mir vergönnt ist, mit eigenen Augen zu sehen, mit meiner Nase zu riechen, auf meiner Haut zu fühlen, mit eigenen Ohren zu hören, wie es hier ausschaut, riecht, sich anfühlt und wie es klingt, in diesem Land, in dem unser christlicher Glaube wurzelt.
Und es gibt viel mit allen Sinnen zu entdecken. So viel, dass es nötig wird, die Kamera weg zu legen, zwischendurch bewusst zu atmen, den Wind spüren, hinsehen, ohne zu fotografieren. Und mich immer wieder hinein stellen in dieses Land und in die Verbindung mit IHM, Kontakt aufnehmen.
Hier, vor Ort, Bibeltexte lesen.
Es hat, wie bei Elisabeth Birnbaum kürzlich auf feinschwarz.net zu lesen war, tatsächlich eine ganz eigene Wirkung, hier, vor Ort, Bibeltexte zu lesen. Die Josefsgeschichte zum Beispiel im Negev zu hören, Beersheba in Reichweite und mit Blick auf die uns umgebende Wüste, und miteinander darüber auszutauschen, wie der Text ins Heute, in unseren Lebensalltag hinein spricht. So wird „Gotteswort in Menschenwort“ tatsächlich „Wort des lebendigen Gottes“.
Das Begehen von Stätten aus der Zeit Judäas, 3000 Jahre zurück in der Zeit, hat etwas Liturgisches: Sich im Geist verbinden mit den Menschen, die damals z.B. im Tempel von Arad JHWH gelobt haben dafür, dass er sein Volk aus Ägypten geführt und ihm Heil verheissen hat, schlägt den Bogen aus der Vergangenheit über die Zukunft in die Gegenwart. „Gedächtnisorte“, um nochmals Elisabeth Birnbaum zu zitieren: Auch uns ist dieses Heil verheissen, jetzt, hier, heute! Als wir den Tel Arad besuchen, heisst es in der Schriftlesung jenes Tages: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9) – ich glaube, immer noch, und so bleibt „Gottes Volk“ über die Jahrtausende hinweg, und ich bin Teil von ihm.
Nicht immer gelingt der Zeitensprung so mühelos, weht die Ruah so spürbar über das Land. Den Sonnenaufgang auf Masada teilen wir uns mit Horden amerikanischer Touristen, vorwiegend jugendlich-unbeschwert. Das gute Selfie zum passenden Sound aus dem portablen Lautsprecher ist weit wichtiger als der geschichtsträchtige Ort, der eigentlich nach Stille und Andacht ruft im Gedenken an den verzweifelten Selbstmord von rund tausend Menschen, die sich der römischen Besatzungsmacht nicht beugen wollten. Die Ukraine und der aktuelle Besatzungskrieg sind hier weit weg – und wären doch so nah!
Was ist ein gutes Leben?
Wir sind als Reisende auch Touristen, als Pilgernde aber verbinden wir uns an diesem Ort mit der biblischen Geschichte und dem Land, das vor uns liegt und mit den Fragen, die die Menschen damals umtrieben: Was ist ein gutes Leben und wie leben wir recht? Was müssen wir tun, damit in unserem Land Milch und Honig fliessen und nicht Tod und Verderben über uns kommen? Mit dem Toten Meer vor Augen und der ätiologischen Deutung dieser unwirtlichen Gegend, dass durch menschliche Schuld aus einem einstigen Paradies Ödland wurde, kommt einem unweigerlich die heutige ökologische Krise in den Sinn. Wir sind auf dem besten Weg, von neuem ein eigentliches Paradies in wüstes Land zu verwandeln, weil wir selbst- – und gottvergessen? – diese unsere Erde ausbeuten, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Verantwortung zu übernehmen für morgen. Was müssen wir tun, damit in unserem Land Milch und Honig fliessen und nicht Tod und Verderben über uns kommen? Wie erweisen wir uns als Hüter*innen der Schöpfung Gott ebenbildlich? Fragen, die sich über die Jahrtausende hinweg auch an heutige Ohren richten.
Jerusalem – Stadt, in der Geschichte lebendig wird.
Inzwischen sind wir in Jerusalem angekommen, dieser Stadt, in der Geschichte auf Schritt und Tritt lebendig wird. Religion und ihre Ausprägungen finden sich an jeder Ecke. Zunächst ist es einfach beeindruckend hier zu sein, an Orten, die ich nur aus dem Fernsehen kenne, mit Perspektiven, von denen ich mir nie recht vorstellen konnte, wie sie wirklich sind.
Dann bin ich ein weiteres Mal tief bewegt, als ich betend an der Westmauer stehe, nicht um zu klagen, sondern zu danken und zu bitten, zusammen mit anderen Frauen allen Alters und unterschiedlichster Herkunft. In dieser Gemeinschaft, die sich betend ergibt, stellt sich für den Moment ein Gefühl der Heiligkeit und Erhabenheit ein, der unmittelbaren Gottesnähe, an diesem Ort, der zugleich so viel Unheiliges hat, bis ins Heute und in die Tagesaktualität hinein, auch und gerade hier an der Westmauer.
Jerusalem ist anstrengend in seiner spirituellen und alles politisierenden Komplexität. „Recht machen“ kann man es hier irgendwie keinem, schon gar nicht allen, so verschiedene Sichtweisen, Deutungen, Verständnisse prallen aufeinander. Und wenn für die einen 1967 ein Freudenjahr der Befreiung war, so ist es für die andern der Beginn einer noch immer andauernden Trauerzeit, weil sie viel, manchmal alles verloren haben, was vorher für sie ihren Lebensinhalt ausmachte. Wessen Realität wahr ist? Antworten auf diese Frage bekommt man frei Haus, auch ungefragt. Es bleibt das Unbehagen, dass an diesem Ort, an dem sich die Vision eines allumfassenden Friedens für alle Völker – shalom – erfüllen könnte, Menschen darum streiten, wer von ihnen würdig ist, in Gottes unmittelbarer Nähe leben und beten zu dürfen.
Machtgebaren und Missgunst
In der Grabeskirche weicht das Unbehagen Trauer, Wut und schliesslich Scham über den Verrat – so empfinde ich das – an der Sache Jesu, weil hier, statt ein Beispiel gelebter Geschwisterlichkeit zu geben, Machtgebaren und Missgunst herrschen auf Kosten der meist weit gereisten Gläubigen.Statt auf Golgotha zu stehen oder am Grab Jesu beten zu können, müssen sie dem unsäglichen Gebaren weichen. Bibliodramatisch gesprochen, sind mir da der Zorn Jesu und die Tempelräumung sehr nahe… In solchen Momenten ist es gut, nicht allein unterwegs zu sein, teilen zu können, Inneres und Äusseres, z.B. ein Stück Brot, das mir ein Mitreisender brüderlich reicht mit den Worten: „Verzage nicht, wir schaffen das mit dem ’katholikos’ schon noch!“ Das spendet mir Trost, auch wenn die Zweifel am institutionellen Tun der Kirche(n) damit nicht ausgeräumt sind. Und es sind nicht nur diese, die peinlich genau ordnen, was wer wann tun darf. Drei Zonen A, B, und C regeln die Rechte von Israelis und Palästinenser*innen, meist zum Nachteil letzterer. Die Wassertanks auf den Dächern der Menschen in der Westbank sind stille Mahnmale hinsichtlich der ungleichen Verteilung der Güter. Unabhängig historischer Tatsachen macht da die Geburt Jesu in Betlehem, auf dieser Seite der Mauer, Sinn. Beeindruckend, dass damals wie heute Menschen an eine friedliche Zukunft glauben und an ihr bauen, weil sie für sich erkannt haben, dass unsere Religionen – Islam, Judentum und Christentum – einen Glauben der Hoffnung verkünden. Khaleds Familie teilt allen Verletzungen zum Trotz, die sie erleben mussten und müssen, ihr verbliebenes Land mit jüdischen Siedlern, die ebenfalls Land und Angehörige verloren haben – ihre Projekt-Gemeinschaft ist überzeugt, dass nur die gegenseitige Anerkennung des Rechts des jeweils anderen für beide Zukunft birgt. Auch an solchen Orten lässt sich Bibel „atmen“, weil hier Reich Gottes wirklich wird.
See Genezareth – Lebens- und Wirkraum Jesu
Am meisten gefreut habe ich mich vor der Reise auf den See Genezareth, diesen Lebens- und Wirkraum Jesu. Und es war tatsächlich erhebend, an diesen Ufern zu stehen, den Blick über die Wellen in die Weite gleiten zu lassen, bei Sonnenaufgang in diesen Wassern zu schwimmen. Das war schön. Und es hatte etwas Verbindendes, nun auch handfest Lebensweltliches mit dem Rabbi aus Galiläa zu teilen, dessen Fussspuren ich zu folgen versuche.
Gesegnet sind die, die da kommen – und gesegnet kehren wir wieder heim, aller erlebten Ambivalenz zum Trotz, um einige Erfahrungen, Einblicke, Erkenntnisse und auch Fragen reicher.
Ich habe gesehen, gerochen, gefühlt und gehört – und Bibel „geatmet“. Dafür bin ich tief dankbar.
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Text und Bilder: Nadia Rudolf von Rohr
Sie leitet seit 2007 die Zentrale des Franziskanischen Weltordens (Franziskanische Gemeinschaft, OFS) der Deutschschweiz. Sie studierte Germanistik, arbeitete danach in der Wirtschaft und als Lehrerin. Sie ist ausgebildete Bibliodrama-Leiterin und engagiert sich publizistisch, in der Erwachsenenbildung und als Reisebegleiterin. Aktuell studiert sie Theologie im Fernstudium. Kürzlich erschien ein Porträt von ihr auf kath.ch.