Alle Jahre wieder – zahlreiche Wünsche zum Jahreswechsel gelten der Gesundheit, und nach den Feiertagen rücken Fragen nach Gewicht und Gesundheit wieder etwas mehr in den Blick. Helga Kohler-Spiegel erinnert an Aaron Antonovsky und dessen oft unterschätztes Konzept der Salutogenese.
Menschen entwickeln – geprägt durch Sozialisation, Bildung und Erfahrung – subjektive Vorstellungen darüber, was für sie „gesund“ und „krank“ bedeutet. Also ist die Aufgabe, „gesund“ zu bleiben und möglichst viel für die eigene Gesundheit zu tun, vermutlich auch 2024 wieder wichtig.
Wohlbefinden ist mehr als nur gesund sein.
Beim Versuch, „Gesundheit“ und damit verbunden auch „Krankheit“ allgemein zu definieren, wird häufig auf die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1948 zurückgegriffen: „Die Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“1. Auch psychische Gesundheit ist gemäß der WHO „ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gesundheit leisten kann“ (WHO, 2019) und ist eng mit physischer Gesundheit verbunden. Physische und psychische Gesundheit wird im Alltag durch Interaktion des Individuums mit seinen Lebensumständen geschaffen, gelebt und subjektiv erlebt. Sie ist das Ergebnis eines vielschichtigen Prozesses, das neben der individuellen Disposition, den Lebensweisen, dem sozialen Umfeld und den Lebensbedingungen auch maßgeblich von sozioökonomischen, kulturellen und Umwelt-Faktoren beeinflusst wird. Gesundheit wird verstanden als Verbindung von bio-psycho-sozio-ökologischen Aspekten, Erhalten und Wiederherstellen sind zentrales Anliegen.
Aaron Antonovsky (1923-1994) mit seinem Konzept der Salutogenese (in 1979 und in 1987 bzw. 1997) baut auf diesem Grundverständnis auf und fragt danach, was Menschen gesund macht und gesund erhält. Dabei macht Antonovsky ein komplexes Gefüge von Bedingungen sichtbar, die sich wechselseitig beeinflussen. Grundlegend sieht er Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern als „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“. Auf diesem Spannungsbogen zwischen den extremen Polen können Menschen als mehr oder weniger gesund verstanden werden, sie können sich auch selbst als mehr oder weniger gesund erleben. Zugleich kann sichtbar werden, ob sich ein Mensch in eine positive oder negative Richtung bewegt.
Stressoren gehören zum Leben.
Als einer der zentralsten Einflussfaktoren für Gesundheit oder Krankheit gilt Stress. Antonovsky geht davon aus, dass Stressoren zum Leben gehören, entscheidend sind deshalb die Coping- oder Bewältigungsstrategien, die Menschen entwickeln. Belastende Lebensereignisse, Arbeitsbelastungen, Umweltbelastungen wie Lärm oder Schadstoffe und andere Stressoren wirken auf das Individuum ein, lösen körperliche oder psychische Spannungen aus und wollen bewältigt werden. Doch nicht jede Art von Stress wirkt auf Menschen in gleicher Weise, die subjektive Einschätzung dieser Stressoren und die Art der Bewältigungsversuche sind entscheidend dafür, ob die Stressoren gesundheitlich belastend wirken. Denn jede positive Bewältigung von Stressoren führt zu einer Stärkung. Wenn Spannungen nicht erfolgreich bewältigt werden können, führt dies (meist) zu erhöhtem Stress.
Alles, was einem Individuum oder einer Gruppe im Inneren der Person oder in der Umwelt hilft, Spannungen wirksam zu bewältigen, nennt Antonovsky „allgemeine Widerstandsressourcen“, sie umfassen genetisch-konstitutionelle und psychosoziale Merkmale. Die psychosozialen Widerstandsressourcen sind veränderbar – das macht sie besonders interessant. Antonovsky nennt Merkmale der Person wie Wissen und Intelligenz, Fähigkeiten zur Bewältigung von Situationen – heute würde man wohl „Resilienz“ dazu sagen, eine stabile körperliche Konstitution und eine präventive Einstellung, sowie ein stabiles Selbstwertgefühl bzw. Ich-Identität, d.h. mir ist – zumindest ein wenig – bewusst, wer ich bin, was ich kann und was ich habe.
Ebenso nennt Antonovsky Elemente des sozialen und gesellschaftlichen Umfeldes, wie soziale Unterstützung und verlässliche Bindungen, soziale Verpflichtungen, der soziale Status und materielle Ressourcen, sowie historische, kulturelle und religiöse Stabilität bzw. stabile Überzeugungen. Und – selbstverständlich – beeinflussen biografische und familiäre Bedingungen die Ausprägung von Widerstandsressourcen. Es überrascht nicht, wenn Antonovsky aufzeigt, dass Menschen mit vielen Widerstandsressourcen positivere Lebenserfahrungen machen.
Kohärenzgefühl – das eigene Leben ist verstehbar, bewältigbar und sinnvoll.
Auf der Basis solcher Erfahrungen entwickeln Menschen (hoffentlich bereits in Kindheit und Jugend) ein Gefühl der Kohärenz, dieses „Kohärenzgefühl“ steht im Zentrum der Salutogenese. Antonovsky meint damit die tiefe Überzeugung, die grundlegende Zuversicht, dass Leben insgesamt und damit auch das eigene Leben im Prinzip verstehbar, bewältigbar und sinnvoll ist. Diese drei Komponenten sind zentral:
- Ich habe das Gefühl, mein Leben ist verstehbar, hat Struktur, ist nicht chaotisch.
- Ich habe das Gefühl, mein Leben ist bewältigbar, ich schaffe die Anforderungen und Belastungen.
- Ich habe das Gefühl, mein Leben ist sinnhaft und sinnvoll, es macht Sinn, sich anzustrengen, und es hat Bedeutung, was ich tue; ich kann etwas bewirken.
Vermutlich überrascht es an dieser Stelle nicht, dass im Konzept der Salutogenese Religiosität, Glaube und Spiritualität Menschen auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in positive sowie in negative Richtung führen können. Und es überrascht nicht, dass Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl und zahlreichen Widerstandsressourcen mehr Spielraum für gelingendes Leben haben. Die Langzeitforschungen von Antonovsky und seinem Team ermöglichen es, die Entstehung des Konzepts nachzulesen und diese Ergebnisse mit zu vollziehen. Die von ihm und den nachfolgenden Teams von Forscherinnen und Forschern entwickelten Fragebogen zur Salutogenese erlauben auch einen Blick auf die eigene Situation und eine grobe Selbsteinschätzung. Da diese beiden Aspekte des Kohärenzgefühls und der Widerstandsressourcen im Verlauf des Lebens beweglich bleiben und veränderbar sind, sei diese Erinnerung an Aaron Antonovsky und die „Salutogenese“ am Beginn des Jahres erlaubt.
Und es sei erlaubt, am Beginn des Jahres zu ermutigen, den eigenen Spielraum und alle möglichen Techniken zu nutzen, an den eigenen Widerstandsressourcen zu arbeiten, und das eigene Kohärenzgefühl immer und immer wieder zu stärken, dass das eigene Leben und das Leben von Menschen, mit denen wir beruflich oder privat verbunden sind, verstehbar, bewältigbar und sinnvoll ist.
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Helga Kohler-Spiegel, Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Österreich. Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin, Psychoanalytikerin und (Lehr)Supervisorin.
Bild: yoga-2587066_1280 stocksnap auf pixabay,
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Literatur zum Weiterlesen
Antonovsky, A. (1979). Health, stress and coping. London: Jossey‑Bass.
Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health. London: Jossey‑Bass.
Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT-Verlag.
Bengel, J., Strittmacher, R., Willmann, H. (2001). Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert (= Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 6). Erweiterte Auflage, im Auftrag der BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln (mit Fragebogen).
Faltermaier, T. (2018). Salutogenese und Ressourcenorientierung. In: Kohlmann, C.-W.; Salewski, C.& Wirtz, M. A. (Hrsg.). Psychologie in der Gesundheitsförderung (S. 85–97). Bern: Hogrefe.
Faltermaier, T. (2023). Gesundheitspsychologie (= Grundriss der Psychologie, Band 21). 3. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer.
Franke, A. (2012). Modelle von Gesundheit und Krankheit. 3. Auflage. Bern: Hans Huber.
- WHO 1948/2021, Art. 2 (1) ↩