Gesundheit wäre nicht mehr Aufgabe der Religion? Die leidenschaftliche Suche vieler Menschen nach Heilung und Heil macht da einen Strich durch die Rechnung. Martin Hochholzer erklärt, weshalb sich nicht nur die kirchliche Weltanschauungsarbeit, sondern Kirche und Theologie insgesamt den damit verbundenen Fragen stellen sollten.
Gesundheit und Religion
Was ist das Wichtigste im Leben? Gesundheit steht für viele Menschen zumindest mit an erster Stelle. Erst recht für diejenigen, die seit Jahren ein Leiden mit sich herumschleppen. Aber auch Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung haben zum Entstehen eines riesigen Marktes beigetragen, der keine Grenzen kennt bzw. Grenzen zunehmend verwischt: zwischen „Schulmedizin“, „Alternativmedizin“ und „Esoterik“, zwischen Wellness und Therapie, zwischen Physischem, Psychischem und Spirituellem – und auch zwischen Heilung und Heil.
Heilung und Heil
Obwohl – oder gerade weil? – sich der Gesundheitssektor von Religion emanzipiert und – soziologisch gesprochen – funktional ausdifferenziert hat, sind Gesundheit, Heilsein und Heilung heute wesentlich auch eine Glaubensfrage, ein religiös-weltanschauliches Kampfgebiet, noch bevor die oftmals damit verbundene Frage nach dem Heil aufgeworfen wird.
So fußen etwa esoterische Behandlungen und neoschamanistische Rituale auf einem Weltbild, bei dem hinter Krankheiten (die oft als oberflächliche „Symptome“ relativiert werden) in Wirklichkeit Geister, Energien oder gar kosmische Konflikte wirken. Und bei ImpfverweigererInnen spielt häufig nicht nur ein „Bekenntnis“ zur „Alternativmedizin“, sondern auch eine verschwörungstheoretisch geprägte Weltsicht eine zentrale Rolle.
Medizin und Weltanschauungsfragen verschwimmen
Neben weltanschaulichen Fragen geht es also auch um Vertrauen und um die Begleitung von Menschen mit ihren Sorgen und Anliegen. Die können zwar auch mit gesundheitlichen Problemen verbunden sein, aber auch weit darüber hinausreichen. Diese seelsorglichen Aspekte beschäftigen die kirchliche Weltanschauungsarbeit, die durch ihre Beratungsarbeit eine ganz besondere Expertise im Themenkomplex Gesundheit – Heil – Heilung hat. Sie ist besonders dann gefragt, wenn religiös-weltanschauliche Vorstellungen Heilungsangebote bestimmen, wenn fragwürdige Heilungsversprechungen getätigt und Kompetenzen überschritten werden – oder wenn Menschen nach mehr als Medizin und Psychologie fragen und mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen den Rahmen des Gewohnten überschreiten.
Grenzgänge
Bei einer Doppeltagung der deutschen katholischen Weltanschauungsbeauftragten im Herbst 2017 und Frühjahr 2018 zu „Heil und Heilung“ waren dann auch Eberhard Bauer und Wolfgang Fach eingeladen, das IGPP vorzustellen. Das Freiburger „Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene“ bietet u. a. auch Beratung für Menschen mit sog. „Außergewöhnlichen Erfahrungen“: außersinnliche Wahrnehmung, Spukphänomene und Erscheinungen, verblüffende schicksalhafte Fügungen, scheinbar übersinnliche Eingebungen etc. Diese Erfahrungen gehen häufig mit psychischen und gesundheitlichen Problemen einher. Sie können für die Betroffenen sehr belastend sein, gerade auch, weil sie damit verbreitet auf Unverständnis stoßen. Das IGPP dagegen nimmt diese Erfahrungen ernst und liefert, basierend auf wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen, Deutungsansätze jenseits von einseitigem Rationalismus, aber auch jenseits von esoterischen Denkmodellen.
Die Schulmedizin und ihr Anderes
Aber nicht nur außergewöhnliche Erfahrungen, sondern auch der real existierende Gesundheitsmarkt fordert dazu heraus, sich mit Grenzgebieten und Grenzgängen auseinanderzusetzen. Denn völlig normal nicht nur für unsere heutige Zeit ist – so der Arzt und Theologe Walter Bruchhausen auf derselben Tagung – ein Nebeneinander verschiedener Gesundheitsangebote und Medizinsysteme; und ebenso, dass Menschen mal dahin, mal dorthin gehen – je nachdem, was ihnen von ihren Erfahrungen her in der jeweiligen Situation probat erscheint. In Deutschland finden so neben der wissenschaftsorientierten „Schulmedizin“ z. B. die „Traditionelle chinesische Medizin“, naturheilkundliche Verfahren, Homöopathie und eine Fülle esoterischer Angebote Zulauf. Noch bunter wird es durch die Vorstellungen und Praktiken, die MigrantInnen mitbringen.
Westliche Trenung von Medizin und Religion verändert sich
Wichtig ist nun: Während im Westen Medizin und Religion getrennte Systeme sind, kennen viele andere Medizinsysteme keine Berührungsängste, ja, beruhen sogar wesentlich auf religiös-spirituellen Vorstellungen. Und auch immer mehr Menschen mit „westlicher“ Sozialisation suchen (gerne unter dem Schlagwort „Ganzheitlichkeit“) nach einem Mehr, nach einer neuen Synthese – und greifen dazu auch nach religiösen Ressourcen.
Und die Kirche?
Ob Kirche also will oder nicht, sie kommt allein schon deshalb um das Thema Heilung nicht herum, weil Menschen diesbezüglich Kirchliches und Christliches in Anspruch nehmen, ohne erst einmal um Erlaubnis zu fragen: Manche bieten Gesundheitsprodukte mit Berufung auf Klostermedizin oder Hildegard von Bingen an, EsoterikerInnen wollen an den „Geistheiler“ Jesus anknüpfen, und die Nachfrage nach Exorzismen umgeht kirchliche Regulierungsbemühungen.
Hat Jesus geheilt … und wenn ja: wie?
Tatsächlich hat Jesus ja nicht nur gelehrt, sondern auch geheilt. Gerade am Wunderhaften der biblischen Heilungserzählungen reiben sich viele moderne Menschen. Ethisierende und spiritualisierende Deutungen kommen ihnen da entgegen; doch wenn dann Krankheit und Besessenheit mit sozialen Beeinträchtigungen durch sündhafte Strukturen assoziiert werden, kann das leicht Menschen mit Behinderungen diskriminieren, wie der Neutestamentler Markus Schiefer Ferrari mit seinem dis/abilitykritischen Ansatz betonte. Erst recht problematisch ist freilich ein pfingstlerisch-charismatischer Ansatz, der an ein übernatürlich verstandenes Heilungshandeln Jesu unmittelbar anknüpfen will. In der heutigen Exegese blendet man dagegen die Komplexität biblischer Texte nicht aus, ist offen für ein „polyphones Verstehen“ – und setzt auf Auslegung, die den Texten nicht ihre Sperrigkeit, ihren „Stachel“ nimmt.
Heilende oder heilsame Seelsorge?
Doch wenn Kirche zum einen die Heilungsperspektive des Handelns Jesu als bleibenden Auftrag ernst nimmt und sich zum anderen jenseits von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen der Suche der Menschen nach heilsamen Angeboten annehmen will: Was hat sie in verantwortungsvoller Weise anzubieten?
„Glaube und Seelsorge heilen nicht“, so die zugespitzte These des Pastoralpsychologen Wolfgang Reuter. Doch könne Seelsorge eine andere Perspektive angesichts des „Gesundheits- und Ganzheitswahns“ aufmachen: Kirchliche Rituale – auch die Liturgie – erschließen einen symbolischen Zwischenraum zwischen Innen und Außen, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen menschlichen Konflikten und göttlicher Heilszusage, bei dem das Noch-nicht, das unser irdisches Leben kennzeichnet, nicht geleugnet wird und der dennoch oder gerade deshalb heilsam wirken kann.
In ähnlicher Weise betonte auch der Pastoralreferent Frank Kühn, dass Gottes Heil mehr als Heilung sei, sondern auch das Annehmen von Begrenzungen und Sterben einschließe. Kühn stellte als praktisches Beispiel den Heilungsraum Böblingen vor: Einmal im Monat können Menschen in eine Kirche kommen, um für sich beten und sich die Hände auflegen zu lassen.
Mut zur Auseinandersetzung!
Ein solcher Heilungsraum ist freilich ein ständiges Ringen um einen angemessenen Umgang mit Erwartungen und begrenzten menschlichen Möglichkeiten. Ein Ringen, das die kirchliche Weltanschauungsarbeit fortwährend konstruktiv-kritisch begleitet – außer- und innerkirchlich.
Kirche sollte natürlich nicht versuchen, einen neuen Gesundheitsmarkt aufzumachen. Sie sollte sich aber auch nicht unter Wert verkaufen, hat sie doch einen reichen Erfahrungsschatz an heilsamen Riten und Traditionen. Diesen zu heben, ist eine Aufgabe, die nur gemeinsam durch interdisziplinäre theologische Kooperation zusammen mit der praktischen Pastoral geleistet werden kann.
Den reichen Erfahrungsschatz an heilsamen Riten und Traditionen nicht verstecken
Das geht sicher nicht ohne religiös-weltanschauliche Auseinandersetzungen. Pfingstlerisches Denken etwa fragt an, welchen Wert göttliche Heilszusagen haben, wenn sie nicht schon in irdischen Heils- und Heilungserfahrungen greifbar werden. Die Esoterik fordert vehement eine „ganzheitliche“ Perspektive ein, die sich menschliches Heilsein nicht ohne Verbindung zur gesamten Umwelt vorstellen kann. Und nicht wenige weltanschauliche AnbieterInnen träumen von einer Perfektionierung des Menschen – eine Vision, die angesichts der Debatten um Transhumanismus und künstliche Intelligenz neue Brisanz gewonnen hat.
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Martin Hochholzer ist Referent für Sekten- und Weltanschauungsfragen in der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP).
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