Der Theologe und Philosoph Jakob Deibl (Wien) rezensiert das Buch „Wiederauftauchen einer verwehten Spur“ von Ulrike Irrgang, in dem das religiöse Erbe aus dem Werk des Philosophen Gianni Vattimo und des Lyrikers Magnus Enzensberger herausgearbeitet wird.
Die Dresdener Theologin Ulrike Irrgang hat mit ihrem Buch „Das Wiederauftauchen einer verwehten Spur“. Das religiöse Erbe im Werk Gianni Vattimos und Hans Magnus Enzensbergers (Grünewald 2019, 390 S.) einen wichtigen Beitrag zu aktueller theologischer Forschung geleistet. Die Überzeugung der Autorin, einer Schülerin des 2021 verstorbenen Theologen Albert Franz, eines Brückenbauers zwischen verschiedenen Diskurswelten, lässt sich in einem Satz aus der Schlussbetrachtung der Arbeit zusammenfassen: Den „unterirdischen, vielleicht sogar subversiven, Tiefenschichten der jüdisch-christlichen Erzählung in der säkularen Kultur gegenüber wachsam zu sein und sie erkennbar zu machen, kann dazu verhelfen, eine mehrdimensionale Geschichte der Säkularisierung zu erzählen, die einer eindimensionalen Verlustlogik entgegensteht.“ (365) Nach jenem subversiven Tiefenstrom religiöser Motive sucht die Theologin bei zwei wichtigen Stimmen der Gegenwart: im philosophischen Werk Gianni Vattimos (*1936) und in der Lyrik Hans Magnus Enzensbergers (*1929).
Kontext Dresden
Theologische Arbeiten dürfen nicht den Anschein erwecken, als wären sie voraussetzungslos und würden von einem neutralen Nullpunkt aus geschrieben. Der Kontext, in dem sie entstehen, muss in sie eingehen. Im konkreten Fall ist dies die Stadt Dresden mit ihrer Geschichte und Gegenwart.
Ulrike Irrgang zeigt in ihrem Buch, dass bei beiden Protagonisten „nach Jahrzehnten der Entfremdung von ihrem religiösen Erbe ein produktiver Neuzugang zu diesem“ (14) festzustellen sei. Die Darstellung und Weiterführung ihrer „Re-Lecture“ (15) biblischer Tradition gewinnt an Glaubwürdigkeit und theologischem Gewicht, wird sie doch von einer Theologin unternommen, die jahrelang an dem 1991, d.h. nach der Wende, neu gegründeten Institut für Katholische Theologie der TU Dresden unterrichtet hat – mithin in einer Stadt, in der mehr als 80% der Einwohner*innen keiner religiösen Konfession angehören und das Christentum (speziell das katholische) nur mehr einer kleinen Minderheit vertraut ist. Stellt man dem das religiös codierte kulturelle Erbe der Stadt in bildender Kunst, Musik und Architektur gegenüber, wirkt es umso erstaunlicher, wenn man, wie die Autorin schreibt, Säkularisierung nicht allein und nicht primär in den Bahnen einer Logik des Verlustes betrachten möchte.
Im Wandeln durch die Stadt Dresden sieht man auf architektonische Weise ins Werk gesetzt, worum sich Ulrike Irrgang theologisch bemüht.
Der Versuch, eine verwehte Spur wiederaufzunehmen und zu rekonstruieren, wie es im Titel des Buches in Anklang an Vattimo heißt, erhält ferner einen ganz spezifischen Klang, wenn man bedenkt, dass die gesamte Altstadt Dresdens am Ende des zweiten Weltkrieges ein Raub der Flammen wurde und das, was wir heute dort an großartigen Bauten sehen, selbst Rekonstruktion aus den Spuren einer langen Geschichte ist – nicht zuletzt mithilfe der Städtebilder Canalettos. Im Wandeln durch die Stadt sieht man auf architektonische Weise ins Werk gesetzt, worum sich Ulrike Irrgang theologisch bemüht. Dabei spiegelt der Wiederaufbau der Stadt all die Möglichkeiten des Umgangs mit einem nicht mehr unmittelbar zugänglichen Erbe – von der Restaurierung, die die Brüche verdeckt (Frauenkirche), bis zu deren bewusster Sichtbarmachung (Kreuzkirche). Welchen Charakter kann die Rekonstruktion religiöser Versatzstücke aus dem Denken des postmodernen italienischen Philosophen Vattimo und des zeitgenössischen deutschen Lyrikers Enzensberger haben?
Ohne den beiden Protagonisten ein theologisches System zu unterstellen, lassen sich doch die begegnenden Motive klassischen Fragestellungen zuordnen
Keine bruchlose Rekonstruktion
Zu einer Ganzheit lassen sich die aufgelesenen Momente wohl nicht mehr zusammenfügen. Dies vermeidet Ulrike Irrgang auch gewissenhaft, indem sie zunächst in das Gesamtwerk der beiden Protagonisten einführt und anschließend die sich darin findenden religiösen Momente in ihrem Werkumfeld interpretiert, ohne aus den beiden säkularen Autoren Theologen zu machen. Sie unterstellt ihnen kein theologisches System, das sie in der Tat nicht haben, und kann doch die begegnenden religiösen Motive klassischen Fragestellungen zuordnen, um auf diese Weise Vattimo und Enzensberger eine Stimme im theologischen Diskurs zu geben. So sieht sie etwa bei Vattimo Anknüpfungspunkte an Offenbarungstheologie, Christologie und Geschichtsphilosophie, während bei Enzensberger Schöpfungstheologie, Gottesfrage und Gnadenlehre mögliche theologischen Bezugspunkte sind.
Dialogische Konstellation
Nach einer ausführlichen Einleitung zur Debatte um Religion zwischen Säkularisierung und Wiederkehr (13–41) widmet die Verfasserin zunächst Vattimo (43–177) und Enzensberger (179–331) jeweils ein ausführliches Kapitel, an das sich dann eine vergleichende Zusammenschau der beiden Positionen und ihres theologischen Potentials anschließt (333–359). Dem folgen eine Schlussbetrachtung (361–365) und ein Interview mit Vattimo, das die Autorin 2013 im Rahmen einer Tagung in Dresden führen konnte (367–374).
Das Buch wählt bewusst eine dialogische Konstellation (Vattimo und Enzensberger) und greift damit ein für das Denken Vattimos wichtiges Motiv auf (44), der selbst in seinen Texten immer wieder unerwartete Begegnungen initiiert: Marx und Nietzsche, Nietzsche und Heidegger, Heidegger und Benjamin, Heidegger und Paulus … Zwei Positionen, die auf den ersten Blick nicht viel gemein haben, in ein Gespräch zu bringen, kann – das gilt in all diesen Fällen – eine neue Sichtweise auf beide Dialogpartner eröffnen.
Vattimos schwache Wiederentdeckung der biblischen Tradition
Gianni Vattimo gilt als einer der Initiatoren des pensiero debole [schwaches Denken], einer italienischen Spielart postmodernen Philosophierens. Es geht ihm dabei um eine spezifische Interpretation der Geschichte des Denkens: Diese wird daraufhin befragt, wo sich in ihr Formen der Auflösung letzter metaphysischer Gewissheiten (sei es als ein Prinzip des Ursprungs, sei es als ein Ziel der Geschichte) zeigen, welche die Entwicklung der Geschichte determinieren oder einen totalen Überblick über sie gewähren. Vattimo sieht sich mithin als Teil jenes so genannten postmetaphysischen Denkens nach Nietzsche und Heidegger, das sämtliche letzte und unhinterfragbare Gewissheiten auflöst. Immer deutlicher erschloss sich ihm jedoch, dass diese Tendenz der Auflösung die gesamte Geschichte des Denkens begleite und er sie als eine Geschichte des Abschiednehmens von absoluten Standpunkten auch erzählen müsse, um nicht daraus wiederum eine neue philosophische Wahrheit zu machen, die selbst den Charakter eines metaphysischen Prinzips annehme.
An dieser Stelle kommt die biblische Tradition ins Spiel. Vattimo geht seit den 1990er Jahren zunehmend „von einer konstitutiven Herkunftsbeziehung postmodernen Denkens zum Christentum“ (44) aus. Zweierlei sei dafür namhaft gemacht: zum einen der biblische Gottesgedanke des Schöpfers, der als „Initiative der Schöpfung von Freiheit“ selbst „ursprüngliche Freiheit“ und „nicht eine Struktur ist, von der ich notwendigerweise abhänge“ (367); zum anderen das Motiv der Inkarnation als Selbstentäußerung des Absoluten in die Geschichte und zwar in Knechtsgestalt (nach dem Philipperbrief: kénosis, Erniedrigung, vgl. Phil 2,5–8). Wenn aber das Absolute (Gott) selbst sich zu einer solchen Bewegung der Schwächung entschließt und sich „als das nicht-absolute Absolute“ (343) offenbart, ergibt sich daraus eine Möglichkeit der Kritik an allen sich absolut setzenden metaphysischen Fundamenten. Dieser auflösenden Tendenz muss freilich, um einen zerstörerischen Nihilismus zu vermeiden, eine gesteigerte Form der caritas und der pietas, letztlich der Liebe zum Endlichen, zu dem, dessen Wert nicht mehr von einer absoluten Instanz gesichert ist, korrespondieren.
Ulrike Irrgang macht deutlich, wie von Anfang an im dichterischen Werk Enzensbergers jene Spuren angelegt sind, die dann später als verhaltene Annäherung an die Religion Konturen erhalten.
Enzensbergers ironisches Lob der Schöpfung
Im Frühwerk Hans Magnus Enzensbergers dominiert eine äußert kritische Haltung allem gegenüber, was mit Religion und religiöser Institution in Verbindung steht. Im Spätwerk des Dichters wandelt sich dies, ohne dass dabei eine gewisse Ironie verloren ginge, wenn es um große Worte und Konzepte zu tun ist, wie sie in der Theologie zuhauf vorkommen. Demgegenüber spricht Enzensberger von „Genügsame[r] Metaphysik“ (255).
Ulrike Irrgang macht in textnaher Interpretation deutlich, wie von Anfang an im dichterischen Werk Enzensbergers jene Spuren angelegt sind, die dann später als verhaltene Annäherung an die Religion Konturen erhalten, und zwar „die Gottesfrage, die Frage nach Geschichte und Vergänglichkeit, die Schöpfung, das Gebet und die Stellung des Ich in Welt und Geschichte“ (211). Besondere Bedeutung kommt dem Blick „auf das unbedeutende Detail“ (208) zu, in den Worten Enzensbergers dem Blick auf „etwas Winziges, Vorläufiges, Rätselhaftes“ (205). Und doch geht dieser Blick auch mit der „Frage nach einer umfassenden Perspektive“ (208) einher. Der Dichter sucht nach einem Ausdruck für Dankbarkeit (238–247) und einer Möglichkeit zum Lob der Schöpfung (212). Der Mensch mit seinen Fertigkeiten sowie der technische Fortschritt erfahren hingegen eine „gelassen-distanzierte Ironisierung“ (259).
An konkreten Gedichten arbeitet die Autorin nicht allein deren mannigfaltigen und nicht selten religiösen Bezüge heraus, sondern legt dar, wie „die Wirklichkeit transparent auf eine Schöpfungsinstanz“ werden soll: „Diese aber ist entzogen und bleibt im Raum des Unaussprechlichen.“ (260) Sie wird nicht direkt adressiert, Enzensbergers Lyrik verdichtet vielmehr „jene Entzugsmomente, wo im Entschwinden noch etwas aufblitzt.“ (346f) Die Autorin interpretiert dies als Versprachlichung der „Gottesperspektive neu und jenseits des Wortes ‚Gott‘“ (211).
„Wege ins Offene“ (359)
Ulrike Irrgang legt klar, dass es bei beiden Denkern, anders „als in manch‘ kulturkämpferischen Beschwörungen des ‚christlichen Abendlandes‘ […] keineswegs um eine ‚Rückkehr‘ zu einer wie auch immer geprägten ‚christlichen Weltanschauung‘“ (37) geht. Wenn es im Werk Vattimos und Enzensbergers religiöse Spuren gibt, müssen diese „ins Offene“ (358) führen, „als ‚wäre Zukunft möglich‘“ (223). All das lässt sich nicht mehr in ein simples Schema Verlust der Religion durch Säkularisierung – Rückkehr zur Religion fassen. Die Vorgänge sind komplexer, multidimensionaler, und es gibt keinen bestimmten Begriff mehr, unter den sie gebracht werden könnten. Vielmehr muss man sich einlassen auf die Texte des Philosophen und des Dichters. Dazu lädt das vorliegende Buch ein.
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Autor: DDr. Jakob Deibl ist Assistenzprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien für den Bereich Religion und Ästhetik sowie wissenschaftlicher Manager des Forschungszentrums „Religion and Transformation in Contemporary European Society“.
Beitragsbild: Buchcover