Der französische Philosoph Gilles Deleuze (geb. 18.1.1925, gest. 4.11.1995) ist in der deutschsprachigen Wissenschaft wenig rezipiert. Michael Pflaum (Herzogenaurach) hat drei Einführungsbände in die Philosophie von Deleuze verfasst und analysiert in diesem Beitrag die Ähnlichkeit zwischen dem theologischen Problem der Christologie und dem philosophischen Problem der Subjektphilosophie.
Gilles Deleuze ist am 18.1.1925 geboren. Wir feiern also in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Seine Philosophie wurde leider in Deutschland zu wenig ernst genommen. In den letzten Jahren steigen aber in der ganzen Welt die Publikationen zu ihm kontinuierlich an. Ich will aus dem großen Werk einen auch für Theologen interessanten Aspekt auswählen.
Herausforderung der Christologie: Jesus Christus in seiner „Differenz“ von menschlicher und göttlicher Natur erfassen.
Deleuze will das Identitätsdenken überwinden und beschäftigt sich deswegen mit inwendigen Differenzen. Also nicht Differenzen zwischen verschiedenen Dingen, sondern inwendige Differenz in einer „Sache“. Z. B. ich bin zwar morgen derselbe, aber nicht der gleiche.
Die Geschichte der Christologie besonders in der Alten Kirche zeigt etwas sehr Interessantes: Obwohl die damaligen Theologen durch die griechische Philosophie vom Identitätsdenken geprägt waren, waren sie gezwungen, eine inwendige Differenz zu erfassen. Denn sie mussten Jesus Christus in seiner „Differenz“ von menschlicher und göttlicher Natur erfassen.
Nun kann man aber die gleichen „Straßengräben“ in der Subjektphilosophie seit Descartes bis heute wiederfinden. Und es sei gleich verraten: Deleuze gelingt in „Differenz und Wiederholung“ eine Chalcedon-„Lösung“ im Bereich Subjektphilosophie.
Die vier „Straßengräben“ der Christologie.
Beginnen wir mit den vier typischen Straßengräben der Christologie, die die Konzilien als Häresien abgelehnt haben:
- Monophysitismus: Die menschliche Natur wird in der göttlichen Natur aufgelöst, wie ein Süßwassertropfen im Meer.
- Arianismus: Die göttliche Natur gibt es gar nicht in Jesus Christus, sondern Jesus ist nur Mensch bzw. der Sohn ist von Gott geschaffen, also ein Geschöpf. (Dagegen sagt das Glaubensbekenntnis: Gottes Sohn ist aus Gott geboren, wesensgleich mit dem Vater.)
- Nestorius: Menschliche und göttliche Natur sind nur äußerlich, akzidentiell aufeinander zugeordnet, wie ein Wort auf das bezeichnete Ding verweist.
- Apollinaris: Menschliche und göttliche Natur verbinden sich in Jesus Christus zu einer neuen Natur zusammen.
Somit erschufen die Kirchenväter etwas irrwitzig Neues, extra für Jesus Christus: die unvergleichliche, einmalige hypostatische Union.
Wenn all diese Lösungen abgelehnt werden, was ist dann logisch gesehen noch übrig? Eigentlich nichts: Die Synthese darf nicht akzidentiell sein, aber auch nicht wesentlich; aber die eine Natur darf auch nicht auf die andere abgeleitet werden.
Somit erschufen die Kirchenväter – klar sind sie Identitätsdenker – etwas irrwitzig Neues, extra für Jesus Christus: die unvergleichliche, einmalige hypostatische Union. In Jesus Christus ist unvergleichlich, nicht in normale aristotelische Logik einordbar, die menschliche und die göttliche Natur unvermischt (die Naturen verschwinden nicht, der Unterschied bleibt) UND ungetrennt (die Naturen bilden in Jesus Christus wirklich eine innere Einheit).
Genau dasselbe sagt nun Deleuze über das empirische und transzendentale Ich aus! Sie sind unvermischt und ungetrennt. Sie sind unvermischt, es gibt wirklich den Unterschied von transzendentalem Ich und empirischem Ich. Aber gleichzeitig gilt: Sie sind auch ungetrennt. „Ich ist ein Anderer.“
Die „Straßengräben“ in der Subjektphilosophie.
Wir können in der Geschichte der Subjektphilosophie die „Straßengräben“ entdecken. Denn natürlich ist es „verführerisch“, die Differenz im Subjekt aufzulösen.
- Wie der Monophysitismus versucht der Rationalismus, den Bereich des Noumenalen, der reinen Verstandeserkenntnis so weit auszubreiten, dass er letztlich den empirischen Bereich schlucken kann. Das transzendentale Ich ist bei Descartes einfach das Ich. Dafür muss er das Geistige vom Körperlichen trennen und das Geistige dem Körperlichen überordnen.
- Dagegen entsprechen der Empirismus und die empirische Skepsis dem Arianismus: Es gibt nur Sinneserkenntnisse und Erkenntnisse, die aus diesen folgern! Wie Arius bestreitet, dass das Göttliche in Jesus Christus wirklich Gott-wesensgleich ist, so zweifelt Hume an, dass es eine Erkenntnis gibt, die wirklich mehr ist als Gewohnheit und Assoziation.
- Kant entspricht Nestorius: Ja, es gibt die zwei Naturen bzw. die zwei Erkenntnisstämme bzw. die zwei Ichs, das aktive und das passive Ich, oder anders ausgedrückt das transzendentale und das empirische Ich. Und diese zwei Ichs muss man sauber trennen, zwischen ihnen kann nur eine akzidentielle Verbindung bestehen.
- Heidegger sieht in der Einbildungskraft die bildende Mitte zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Sie verweist auf den unbekannten Grund für die zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis. Das ist die Apollinaris-Lösung. Auch der deutsche Idealismus wünscht sich, mit dem Begriff der intellektuellen Anschauung eine wesentliche Einheit von transzendentalem und empirischem Ich gefunden zu haben. So ist für Fichte die intellektuelle Anschauung „das unmittelbare Bewußtseyn, dass ich handle, und was ich handle“ und so „der einzige feste Standpunkt für die Philosophie“. Für Schelling ist die intellektuelle Anschauung das „Organ alles transcendentalen Denkens“.
Deleuze vertritt nun die Chalcedon-Position bei der Frage des Ich und somit auch bei der Differenz Sinnlichkeit und Verstand bzw. Anschauung und Begriffe.
Die Kirchenväter mussten dem „Neuen“ in Jesus Christus, das sie eigentlich mit ihrer griechischen Wesens-Logik nicht fassen konnten, einen Identitätsbegriff geben: hypostatische Union. (hypostase = Wesen. Union = Verbindung). Deleuze dagegen als Differenzdenker kann exakter sagen: Das ist eine Differenz an sich selbst!
Idiomenkommunikation bedeutet: Die Eigenschaften (Idiomen) der beiden Naturen können in Jesus Christus ausgetauscht (kommuniziert) werden.
Die Christologie kann auch weiter für das Verständnis von Deleuze hilfreich sein, besonders durch die Idiomenkommunikation, die nach Chalcedon entwickelt wurde. Idiomenkommunikation bedeutet: Die Eigenschaften (Idiomen) der beiden Naturen können in Jesus Christus ausgetauscht (kommuniziert) werden. Ich kann menschliche und göttliche Eigenschaften in Jesus Christus austauschen. Ich darf nicht nur sagen: Der Mensch Jesus hat gelitten, sondern auch: Der Sohn Gottes hat gelitten. Oder auch: Gott ist am Kreuz gestorben! Ich darf nicht nur sagen: Jesus war barmherzig, sondern auch: Jesus offenbarte in Wort und Tat die Barmherzigkeit Gottes selbst. Und ich darf nicht nur Maria als die Mutter Jesu bezeichnen, sondern auch als Gottesmutter.
Die Kirchenväter haben mehrere Regeln aufgestellt, wie man die Idiomenkommunikation theologisch korrekt durchführt, um über die zwei Naturen in Jesus Christus sprechen zu können. Eine davon ist z. B., dass die Idiomen nicht direkt zwischen den Naturen ausgetauscht werden dürfen. Man kann also z. B. nicht sagen: Gott ist sterblich.
Genauso einen Idiomen-austausch führt Deleuze durch, wenn er sagt: Ich (transzendentales Ich) ist ein anderer (empirisches Ich). Wenn wir also genau den folgenden Satz lesen, bemerken wir einen doppelten Wechsel: „Ich bin folglich als ein passives Ich [empirische Ich] bestimmt, das sich seine eigene Denktätigkeit [das ist das transzendentale Ich!] notwendig als ein anderes [empirisches Ich] vorstellt, von dem [empirisches Ich] es [transzendentales Ich] affiziert wird. Dies ist kein anderes Subjekt [nicht die Nestoriuslösung], vielmehr wird das Subjekt selbst ein anderes [Chalcedon und Idiomenkommunikation]“[1]
Die Verschlungenheit von transzendentalem Ich und empirischem Ich deutlich machen.
In dem nun folgenden längeren Zitat will Deleuze genau diese Verschlungenheit von transzendentalem Ich und empirischem Ich deutlich machen. Es ist ein schwieriger Text, weil Deleuze ständig Idiomenkommunikation zwischen transzendentalem und empirischem Ich betreibt:
„Die Konsequenzen daraus sind unabsehbar: meine unbestimmte Existenz kann nur in der Zeit bestimmt werden, als Existenz eines Phänomens, eines passiven oder rezeptiven phänomenalen Subjekts, das in der Zeit erscheint. So dass die Spontanität, deren ich im Ich denke bewusst bin, nicht als Attribut eines substanziellen und spontanen Wesens, sondern nur als Fiktion eines passiven Ichs begriffen werden kann, das fühlt, das sein eigenes Denken, seine eigene Intelligenz dasjenige, wodurch es Ich [JE] sagt, in ihm und auf es – und nicht durch es – wirkt. Damit beginnt eine lange unerschöpfliche Geschichte: ICH [JE] ist ein anderer, oder das Paradox des inneren Sinns. Die Tätigkeit des Denkens gilt einem rezeptiven Sein, einem passiven Subjekt, das sich folglich diese Tätigkeit eher vorstellt, als dass sie sie in die Tat umsetzt, das eher deren Effekt fühlt als den Antrieb dazu besitzt, und das sich als ein Anderes in sich erlebt. Dem „Ich denke“ und dem „Ich bin“ muss das Ich [moi] hinzugefügt werden, d.h. die passive Position (was Kant Rezeptivität der Anschauungen nennt); der Bestimmung und dem Unbestimmten muss die Form des Bestimmbaren, d.h. die Zeit, hinzugefügt werden. Und „hinzufügen“ ist noch ein unpassendes Wort, weil es ja eher darum geht, den Unterschied zu machen und die Differenz ins Innere des Seins und des Denkens einzuführen. Von einem Ende zum anderen ist das ICH [JE] gleichsam von einem Riss durchzogen: von einem Riss, der ihm durch die reine und leere Form der Zeit zugefügt wurde. In dieser Form ist es das Korrelat des passiven Ich, das in der Zeit erscheint. Ein Sprung oder ein Riss im Ego, eine Passivität im Ich – dies ist die Bedeutung der Zeit;“[2]
Rahner: Wir können nur über die heilsgeschichtliche Trinität wissen, wie die immanente Trinität ist
Kant hat immer betont, dass das transzendentale Ich nicht direkt erfahrbar ist. Es gibt keine intellektuelle Anschauung des transzendentalen Ichs. Die frühromantischen Denker, Fichte und Schelling überlegten verzweifelt, ob dies nicht doch möglich sei. Bei Deleuze taucht diese Frage überhaupt nicht auf. Meines Erachtens können wir durch einen weiteren theologischen Vergleich eine Begründung dafür finden: Karl Rahner sagte immer deutlich, dass wir die immanente Trinität nicht direkt erkennen können. Wir können nicht erkennen, wie Gott in sich und an sich allein genommen ist, also wie Vater, Sohn und Heiliger Geist in sich, unabhängig von der Welt, zueinander in Beziehung stehen. Wir haben kein Teleobjektiv, um ins Wohnzimmer Gottes schauen zu können. Aber wir können sehen, wie sich Gott zur Welt verhält. Wie verhalten sich der Vater, der Sohn und der Heilige Geist zur Welt? Das ergibt einen heilsgeschichtlichen Zugang zur Trinität. Rahner sagt nun: Wir können nur über die heilsgeschichtliche Trinität wissen, wie die immanente Trinität ist. Gottes Sein im Inneren entspricht seinem Wirken in der Welt.
Gleiches sagt Deleuze, so deute ich seine Kantinterpretation, über das transzendentale Ich: Nur durch das empirische Ich, mit dem empirischen Ich und in dem empirischen Ich habe ich Zugang zu meinem transzendentalen Ich. Somit braucht Deleuze gar nicht nach einem Extrazugang zum transzendentalen Ich über eine intellektuelle Anschauung zu suchen, sondern seine nächste Konsequenz ist, dass er einen transzendentalen Empirismus als seine eigene Philosophie und Lösung der Kantianischen Probleme entwirft.
[1] Was ist Philosophie?, S. 39.
[2] Differenz und Wiederholung, S. 119.
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Michael Pflaum, Dr. theol., Dekan in Herzogenaurach, ist der Verfasser von „Deleuze – seine philosophischen Welten für Einsteiger 1. Band bis 3. Band“.
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