Norbert Greinacher zum 90sten Geburtstag. Von Ottmar Fuchs und Michael Schüßler.
An diesem Montag wird Norbert Greinacher 90 Jahre alt. Er war von 1971 bis 1997 unser Vorgänger als Praktischer Theologe an der Universität Tübingen. Wie würde er wohl, bei besserer Gesundheit, heute in die Welt des 21. Jahrhunderts blicken?
Übersetzer befreiender Theologien
Greinacher ist einer der kritischen „Übersetzer“ von befreienden Theologien aus dem globalen Süden nach Europa. In seinem Buch „Kirche der Armen. Zur Theologie der Befreiung“ von 1980 heißt es etwa einleitend über die Kolonialgeschichte: „Eroberung und Missionierung waren kaum unterscheidbar, ebenso wie das koloniale System von den kirchlichen Strukturen unablösbar war.“[1] Kirche habe hier „Trauerarbeit“[2] über die eigene Schuld zu leisten und die Verpflichtung, sich für eine Veränderung, für Global Justice, einzusetzen. Vom globalen Süden auch theologisch zu lernen, das passiert heute vor allem in den post- und dekolonialen Theologien. Darin wird die von ihm geschätzte prophetische Position quasi aktualisiert: „Es geht darum, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen zu ändern, um einen Zugang zur Wahrheit von der kommenden Herrschaft Gottes zu eröffnen. … Die Kirche muß wie die Propheten überall dort ihre Stimme erheben, wo Menschen sich selbst entfremdet werden.“[3] Kritik heißt dann heute vor allem Selbstkritik an imperialen Formen von Religion und Christentum.
Ist die Kirche noch zu retten?
Die letzte Sammlung von Texten und Aufsätzen aus dem Jahr 2010 trägt den programmatischen Titel „Von der Wirklichkeit zur Utopie“. Einer engen, ungerechten, kirchlich-klerikal erstarrten Wirklichkeit steht die Utopie eines emanzipatorischen, partizipativen und herrschaftsfreien Ideals gegenüber. „Ist die Kirche noch zu retten“ fragen sich heute viele. Greinacher betitelt damit 1993 einen Vortrag und sagt:
„Es ist eine absurde Vorstellung zu meinen, dass man in 2865 Artikeln heute den christlichen Glauben und die christliche Moral den Menschen vermitteln könnte, wie es der ‚Weltkatechismus‘ vorgibt. […] Wenn das Pillenverbot wichtiger ist als die von Gott gesegnete Liebe […], wenn die autoritären Kirchenstrukturen wichtiger sind als das allgemeine Priestertum der Kinder Gottes, wenn Pflichtzölibat und der Ausschluss von Frauen vom kirchlichen Amt wichtiger sind als die schöpfungstheologische, uneingeschränkte Gleichheit von Mann und Frau und die Sorge um lebendige Gemeinden, […] wenn die Jungfrauengeburt wichtiger ist als das Leben und Wirken Jesu von Nazareth, wenn Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit des Papstes wichtiger sind als die Einheit der Kirche, … dann wird der christliche Glaube bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Wenn es uns aber zuerst um das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit geht, dann wird uns alles andere dazugegeben werden (Matthäus 6,33); und dann wird auch die Kirche gerettet werden“[4]
Suchet zuerst das Reich Gottes
Die Themen haben sich offenbar nur hömöopathisch geändert. Aber der Weg geht heute umgekehrt von der Utopie zur Wirklichkeit. Binnenkirchlich lassen sich immer weniger Gläubige mit Scheinpartizipation und sanfterem Autoritarismus auf die Utopie eines „Morgen“ vertrösten. Viele gehen, manche setzen letzte Hoffnungen in den Synodalen Weg. Zugleich engagieren sich viele aus ihrem existenziellen Glauben heraus für Asylrecht, für eine klimaneutrale Lebens- und Wirtschaftsweise, für den Respekt vor der Vielfalt des Lebens und der Menschen: manchmal noch in, oft am Rande und immer mehr auch jenseits verfasster Kirchlichkeit.
Die gelassene Leidenschaft Greinachers
Alles ändert sich, alles bleibt gleich, und es steht weiterhin viel auf dem Spiel: Die „gelassene Leidenschaft“[5] von Greinachers Theologie, nämlich weder den Zumutungen der Gegenwart, noch den konfliktreichen Praxisverhältnissen und darin nicht dem Gott Jesu auszuweichen, sie scheint auch in unserer Epoche unverändert notwendig, manchmal auch weniger gelassen als zornig.
Wir sind stolz, dass wir Norbert Greinacher in diesem Bestreben an seinem eigenen Lehr- und Forschungsort nachgehen dürfen bzw. durften und wünschen ihm gute Jahre, in denen er viel Schönes und vor allem seine geliebte Musik erleben kann.
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Michael Schüßler ist seit 2015 Professor für Praktische Theologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen.
Ottmar Fuchs ist Prof. em. für Praktische Theologie und lehrte ebenda 1998-2014.
Bild: Ausschnitt Buchcover Peter Lang Verlag
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[1] Norbert Greinacher, Die Kirche der Armen. Zur Theologie der Befreiung, München 1980, 9.
[2] Ebd., 141.
[3] Ebd., 33.
[4] Norbert Greinacher, Von der Wirklichkeit zur Utopie. Der Weg eines Theologen, Frankfurt a.M. 2010, 133f.
[5] So Norbert Greinacher, Gelassene Leidenschaft. Eine heute notwendige Tugend, Zürich 1977.