Der christliche Glaube und die menschliche Sehnsucht nach Heimat. Von Rainer Bucher.
Heimat ist kein Ort, kein Raum, sondern ein Gefühl, das Gefühl der selbstverständlichen Einbettung, der Differenzlosigkeit zur Umgebung, in der man lebt. Heimat ist die Wahrnehmung, umgeben zu sein von einem wohlgesonnenen Raum. Heimat, das ist dort, wo man sich nicht erklären muss und sich auch nichts erklären lassen muss, da man alles kennt.
Heimat identifiziert Orte personal und Personen über Orte. Der Effekt ist schlagend: Diese Operationen heben nicht nur die Umgebungsspannung auf, sondern auch die zeitliche Spaltung der Existenz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man ist im glücklichen „nunc stans“: Hier, wo ich bin, ist es, wie es immer sein sollte. Das gelingt freilich immer nur kurz. Das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh. Heimat ist eine Leerstelle, in Heimat kann man immer nur zurückkehren. Denn die Differenz zwischen uns und allem anderen kann man gestalten, nie aber beseitigen.
Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muss und sich auch nichts erklären lassen muss.
Wir sind aus der ursprünglichen Geborgenheit geworfen, spätestens seit wir aus dem Schoß unserer Mütter hinausgetrieben wurden. Wahrscheinlich ist das Leben ein nie endender Versuch von Wieder-Beheimatung. Es ist eine der zentralen Aufgaben menschlicher Existenz, beides zu akzeptieren: die tiefe Sehnsucht nach Heimat und dass sie nie wirklich erfüllt wird.
Sicher: Es gibt sie immer mal wieder, die Erfahrung von Heimat. Sie ist dann die Außenwelt als eigene Innenwelt, die eigene Innenwelt ins Außen verlängert. Das ist natürlich eine Illusion, aber eine schöne. Sie tut gut und macht glücklich. Heimat gibt es zwar nicht wirklich, aber wir sind immer mal wieder kurz in ihr. Aber sobald „Heimat“ auch nur thematisiert wird, ist sie eigentlich schon verloren. Genau genommen ist man in Heimat nur, wenn man gerade nicht merkt, in ihr zu sein, sondern es einfach ist. Da geht es ihr ähnlich wie der mit ihr nahe verwandten „Identität“. Beides sind Sehnsuchtsbegriffe, die sagen „Das will ich haben“ und zugleich signalisieren: Es fehlt halt immer irgendwie.
Wir sind aus der ursprünglichen Geborgenheit geworfen, spätestens seit wir aus dem Schoß unserer Mütter hinausgetrieben wurden.
Es ist verständlich, dass man gerne eine Heimat hätte. Wer möchte nicht, dass er sich dort, wo er ist, angenommen fühlt? Das Problem ist nicht diese Sehnsucht, das Problem ist – wie bei allen Sehnsüchten – wenn man meint, man hätte ein Recht darauf, dass sie sich erfüllen. Quasi selbstverständliche Existenz aber gibt es für nichts und niemanden mehr. Alle vormals quasi-natürlichen Rollenmuster werden unselbstverständlich, müssen also, wollen sie weiterbestehen, neu entworfen, neu ausgehandelt und neu bedacht werden. Diese Konstellation ist übrigens kein Gegenstand freier Entscheidung.
Wer meint, ihr entgehen zu können, ist ihr nur ganz besonders unglücklich verfallen. Er wird sich ganz besonders schnell nicht mehr zu Hause fühlen in der sozialen Welt – und nach Beheimatung rufen. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zum Ausschluss des störenden Anderen, das ist die dunkle Seite des Konzepts „Heimat“. Dass Heimatverlust dann ausgerechnet von jenen beklagt wird, die ihre Heimat behalten haben, und jenen vorgeworfen wird, die ihre Heimat wirklich verlassen mussten, ist nur eine skurrile Facette dieser dunklen Seite des Heimatbegriffs.
Religion als Einsicht in das Mit-sich-zuletzt-Alleinsein
Religion, so schrieb der Philosoph Alfred North Whitehead, ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht. Sie ist Einsicht in das Einzig-Sein, in das Auf-sich-gestellt-Sein, das Mit-sich-zuletzt-Alleinsein des Menschen. Anders gesagt: Sie ist Einsicht in die eigene Heimatlosigkeit. Diese Einsicht in die unüberwindbare Trennung von allem anderen, was ist, mit dem man aber zugleich auf je spezifische Weise sich verbunden erfährt, erschreckt und fasziniert. Vor allem aber fordert sie eine Strategie, ein Gesamtverhältnis aufzubauen zu allem, was ist. Religion tut genau dies.
Die metaphysische Heimatlosigkeit der Neuzeit und der gefühlte Heimatverlust der Gegenwart, sie sind also nicht wirklich neu. Sie warten bereits im Grund jeder Religion. Denn diese ist ein Weg, mit jener Heimatlosigkeit umzugehen. Sobald man das entdeckt hat, kann man auch nicht mehr einfach in einer religiösen Heimat unirritiert beheimatet sein. Denn gerade Religionen sagen: Heimat, wirkliche Heimat, gibt es nur bei Gott, oder wie immer in den Religionen die Chiffre für eine Existenz jenseits menschlicher Kontingenz lautet.
Im christlichen Glauben hat es mit dieser Dialektik von Heimat und Heimatlosigkeit aber nun eine besondere Bewandtnis. Das Zentrum des christlichen Glaubens ist Jesus Christus, das Zentrum des Wirkens Jesu aber, das, was ihn ausmacht, ist seine Botschaft vom Reich Gottes. Das Spezifische dieser Reich-Gottes-Botschaft aber ist eine dreifache Polarität: eine zeitliche, eine soziale und eine soteriologische.
Dialektik von Heimat und Heimatlosigkeit
Das Reich Gottes ist da, aber auch nicht, es steht an, aber es steht auch aus, es ist ein gegenwärtiges Geschehen, dessen Vollendung aber in der Zukunft Gottes liegt. Niemand darf daher diese Botschaft allein auf ein (zukünftiges) Jenseits schieben, noch auf ein rein diesseitiges Projekt verkürzen. Diese zeitliche Balance ist, so zeigt die Geschichte des Christentums, schwer zu halten, aber für das Christentum konstitutiv. Wo es diese Balance in die eine oder andere Richtung verlor, wurde es fatal.
Jesu Botschaft besitzt aber, und das ist die zweite Spannung, einen personalen und einen politischen Pol. Jesus spricht von Gott als „Vater“, aber auch von Gottes „Reich“. Diese Polarität ist weniger bewusst, aber ebenfalls essentiell. Jesu Botschaft wurde und wird denn auch gerne auf einen individualistischen Personalismus verkürzt, der persönliches Erleben, persönliche Innerlichkeit in den Mittelpunkt stellt, aber bisweilen auch auf ein rein strukturell-politisches Programm eingrenzt.
Noch eine dritte Polarität ist konstitutiv für das Christentum: die soteriologische von Freiheit und Gnade. Die beiden großen Konfessionsfamilien gruppieren sich um diese Pole. Der Freiheitspol betont die Mitwirkungspflicht und Mitwirkungsnotwendigkeit des gläubigen Subjekts, der Gnadenpol die reine Ungeschuldetheit der Gnade im Erlösungswerk Gottes.
Die drei Balancen des Christlichen
In all diesen Balancen aber geht es bei Jesu Reich-Gottes-Botschaft um die umfassende Heilung beschädigter menschlicher Lebensverhältnisse. Alle Wunder Jesu sind zuallererst das: reale Ereignisse, reale Erfahrungen dieses Reiches Gottes hier und heute, wirksame Zeichen und wirksame Realität dessen, was allen versprochen ist: sinnlich und konkret, persönlich und zeichenhaft, und immer ohne jede Vorbedingung.
Im Christentum selbst sind Balancen und Polaritäten angelegt, die sich einer eindeutigen, statischen Festlegung entziehen. Sie fordern dynamische Prozesse, sie bauen paradoxale Spannungen auf, die nie aufgelöst werden können und dürfen. Christliche Existenz ist immer nur als prekäre, situative Aktualität innerhalb dieses mehrfachen Balancengeflechts möglich. Wie das Verhältnis von Freiheit und Gnade, von Jetzt-schon und Noch-nicht, von Personalem und Gesellschaftlichem im Prozess christlicher Existenz sich konkret realisiert, das bleibt unter dem eschatologischen Vorbehalt, ist in seinem Gelingen bestenfalls situativ ahnbar. Die Akzeptanz und Übernahme genau dieser Konstellation in die eigene Existenz kann man „christlich glauben“ nennen.
Christliche Existenz ist nur als prekäre, situative Aktualität innerhalb eines mehrfachen Balancengeflechts möglich.
Diese konstitutiven, unaufhebbaren Spannungen von Jetzt und Noch-nicht, von Individuellem und Gesellschaftlichem, von Freiheit und Gnadenbedürftigkeit in der Basisstruktur des Christlichen formatieren nun aber auch das Verhältnis von christlichem Glauben und menschlicher Sehnsucht nach Heimat: Wir sind in ihr – aber noch nicht wirklich. Es gibt eine Kongruenz von Personalem und Gesellschaftlichem – aber zuletzt nur bei Gott. Wir sind Subjekte unserer Freiheit – aber auch Unterworfene der Gnade Gottes.
Christinnen und Christen sind Bürger zweier Welten: der irdischen und der himmlischen. „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu. Die Wege sind verlassen, und oft sind wir allein. In diesen grauen Gassen will niemand bei uns sein. Nur einer gibt Geleite, das ist der Herre Christ. Er wandert treu zur Seite, wenn alles uns vergisst.“
Dieses Lied, 1935 gegen den Nationalsozialismus geschrieben, markiert den subtilen Zusammenhang zwischen den beiden Welten der Christen. Schöner, inniger kann man die konstitutiven Balancen des Christlichen kaum ausdrücken und auch nicht die Sehnsucht nach Heimat und das Verderben, das wartet, wenn man sie nicht als kurzzeitiges Geschenk hier und als dauerhafte Gnade einmal bei Gott erhofft, sondern als Utopie der eigenen Sehnsüchte zu bauen sucht. Solche Versuche endeten stets als Hölle auf Erden.
Christinnen und Christen sind Bürger zweier Welten.
Wie also „Heimat“ leben? Eigentlich ist es einfach: Indem man sich geschenkter Heimaterfahrungen erfreut, unvermeidliche Heimatlosigkeit erträgt und an Beheimatung, also der kreativen Gestaltung von Unterschieden, arbeitet: an der eigenen Beheimatung wie an jener der anderen. Und dabei nie vergisst: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“ Im Kern des Christentums lagert ein ziemlich trockener Realismus.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie in Graz und Mitglied der feinschwarz.net-Redaktion.