Der Religion, zumal dem christlichen Glauben, ist ein störrischer Sinn eingeschrieben. Aus der Überzeugung von der Geschöpflichkeit von Natur und Mensch, von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen folgert eine radikale Vorstellung von der gleichen Würde jedes Menschen, gerade auch der Unterdrückten, Gescheiterten und Leidenden, und damit der Widerspruch gegen Verhältnisse, die Menschen erniedrigen und in Unfreiheit zwingen. Von Wolfgang Thierse.
Lange galt: Religion ist von gestern! Lange schien, dass der Prozess der Moderne unweigerlich und unrevidierbar ein Prozess der Säkularisierung sei, der die Religion Schritt für Schritt zum Verschwinden bringt. Als Privatsache könne Religion ja noch eine Weile fortexistieren, öffentlichen, gar politischen Anspruch aber dürfe sie in vernünftiger Weise nicht mehr erheben.
Religion ist vital geblieben
Doch es zeigt sich: Religion ist auch am Beginn des 21. Jahrhunderts von beträchtlicher Vitalität und Kraft, sei es Christentum oder Islam oder Buddhismus. Sie ist es auf erstaunliche, widersprüchliche, durchaus auch beunruhigende Weise, wenn wir an religiösen Fundamentalismus und Extremismus denken, an den Missbrauch von Religion zur Begründung von Gewalt. Diese Erscheinungsweisen mögen die Tagesnachrichten beherrschen, sie verfälschen aber zugleich die Alltagsrealität von Religion im Leben der Menschen – auch im aufgeklärten Europa, auch im säkularisierten Deutschland.
So sehr die Zahl der Konfessionslosen, Agnostiker, Atheisten zunehmen mag, so wenig verschwindet Religion offensichtlich aus dem privaten wie öffentlichen Leben in unserer Gesellschaft – als Sinnstiftung individuellen Lebens, als Motivation für soziales Engagement, als Sensibilität für Mitleiden und Vergeben, als normative Bindekraft für eine zerklüftete Gesellschaft.
Demokratie lebt vom Engagement
Die demokratische Gesellschaft jedenfalls lebt vom Engagement ihrer Bürger, aus deren starken Überzeugungen und deren Bereitschaft, zu widersprechen und sich einzumischen um eines guten, gelingenden Lebens für möglichst viele Menschen willen. Christlicher Glaube (wie andere religiöse Überzeugungen auch) gehört – so er nicht vollständig verblasst, domestiziert, privatisiert ist – zu diesen starken Überzeugungen, die über das – legitime – Eigeninteresse, über den stinknormalen menschlichen Egoismus hinausweisen. Deshalb ist Religionsfreiheit ein Wesenselement von Demokratie. Despotie komme ohne Religion aus, meinte Alexandre de Tocqueville, Freiheit nicht.
Auf eigentümliche Weise ist Religion, zumal dem christlichen Glauben, ein störrischer Sinn eingeschrieben: Aus der Unterscheidung von „Wohl“ und „Heil“, von Lösung und Erlösung, von irdischem Dasein und Jenseits folgert eine prinzipielle Unzufriedenheit, ein generelles Nichteinverstandensein mit dem bloß Gegenwärtigen, mit der Allmacht des Hier und Jetzt – und daraus folgert der Einspruch gegen politische Allmachtsansprüche und politische Heilsversprechen.
Aus der Überzeugung von der Geschöpflichkeit von Natur und Mensch, von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen folgert eine radikale Vorstellung von der gleichen Würde jedes Menschen, gerade auch der Armen und Behinderten, der Unterdrückten und Gescheiterten und Leidenden – und daraus folgert der Widerspruch gegen Verhältnisse, die Menschen erniedrigen und in Unfreiheit zwingen.
Der störrische Freiheitssinn der Religion
Dieser spezifische Freiheitssinn ist der eigentliche und tiefe Ur-Grund für den Widerstand von Christen, von religiösen Menschen gegen autoritäre Regime und Diktaturen (egal ob sie sich eines religiösen oder anti-religiösen Überbaus bedienen): Das gilt für den christlichen Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft, man denke an Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Helmuth James von Moltke, die Geschwister Scholl.
Das gilt für die südamerikanischen Befreiungstheologen, den katholischen Guerillero Camilo Torres aus Kolumbien, den ermordeten Bischof Oscar Romero aus Salvador, den brasilianischen Erzbischof Dom Heider Camara. Das gilt für die polnische Freiheitsbewegung Solidarnosc, die ohne den polnischen Papst und die polnische Kirche und ohne die die Überwindung des sowjetkommunistischen Systems nicht möglich gewesen wäre. Das gilt auch für die friedliche Revolution 1989 in der DDR, deren Akteure zu einem großen Teil Christen waren, die Freiheitssinn und Widerspruchsgeist unter dem Dach der Kirchen gelernt und erprobt hatten.
Ist dieses Kapitel erledigt, der Zusammenhang von Religion und Widerspruch, von Glauben und Widerstand obsolet? Ich vermute nicht. Solange politische Heilslehren durch die Welt geistern und zur schlimmen Tat schreiten, solange unsere Welt durch so viel menschenerniedrigende Ungerechtigkeit gezeichnet ist, bleiben Widerspruch und Widerstand notwendig. Und werden gespeist werden aus den tiefen, eben religiösen Überzeugungen von Menschen. Die ihrer Sache nicht sicher, aber gewiss sind. Die von einem Überschuss an Hoffnung bewegt sind. Die nicht nur wissen, sondern glauben.
Widerstand braucht mehr als rationale Einsicht
Es bedarf eben mehr als rationaler Einsicht, um den Mut zum Widerstand aufzubringen. Wer stirbt schon für etwas, was er weiß! Wie viele aber sind gestorben für das, woran sie geglaubt haben. (Aber natürlich: Es gibt auch falsches Märtyrertum.) Als Quelle von Widerspruch und Widerstand hat christlicher Glaube, hat Religion noch längst nicht ausgedient.
Wolfgang Thierse (SPD) war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident. Von Juni bis September 1990 war er Vorsitzender der neu gegründeten SPD der DDR, von 1990 bis 2005 Stellvertretender Vorsitzender der SPD.
Bild: Deutscher Bundestag