Das Entschuldigungsschreiben des em. Papstes Benedikt XVI. und die Ablehnung der Rede vom „besonderen Lehramt der Betroffenen“ beim Synodalen Weg haben beide etwas mit einem speziellen Verständnis von Kirche zu tun. Hans-Joachim Sander sieht hier einen Vorgang der „Selbstverzwergung“ und ein Trauerspiel.
Wir erleben in den letzten Tagen das Trauerspiel einer kirchlichen Selbstverzwergung in Übergröße. Es hat zwei Akte. Im ersten geht es darum, welcher Ort den Betroffenen der sexualisierten Gewalt der katholischen Kirche eingeräumt wird. Bei genauerem Hinsehen geht es darum, ob der Ort kirchlich anerkannt wird, auf dem sie eigentlich stehen, auch wenn er prekär ist und für die Betroffenen selbst eine Zumutung darstellt. Das ist nicht nur eine Frage, ob die Hierarchie der Kirche das eingesteht. Auch der synodale Weg der deutschen Kirche hat im Parcours der Hürden, die er nehmen muss, vor jener gescheut, über die er gegenüber den Opfern des sexuellen Missbrauchs springen muss. Es dreht sich um das spezielle Lehramt der Betroffenen, das einzuräumen die kirchliche Lehre nicht vermeiden kann, dessen Anerkennung sich aber hinauszögert. Hier droht die Gefahr, dass es überlang geworden sein wird, wenn sie endlich stattfindet. Der zweite Akt ist die Einlassung von Benedikt XVI., dem abgedankten Papst, zu dem, worin ihm das Münchener Gutachten der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl auf die Spur kam und womit ihn die heftige Debatte darüber konfrontiert hat.
Nichts Neues
Beginnen wir mit dem weniger wichtigen zweiten Akt. Joseph Ratzinger gesteht nun ein, als Erzbischof in dem besonders debattierten Fall des Täters H. bei der Sitzung seines Ordinariats anwesend gewesen zu sein, aber besteht zugleich darauf, von dessen pädokrimineller Essener Vergangenheit und seiner dann ebensolchen Münchner Zukunft nichts gewusst zu haben. Über das Einräumen hinaus, das der Not der Realität folgt, ist das nichts Neues. Auch der Faktencheck seiner Anwälte, die dieses Mal im eigenen Namen zeichnen, ist lediglich ein Aktencheck; Fakten, gar neue Fakten, werden nicht aufgeboten. Das Publikum verbleibt damit allein, ob es glaubt, die einschlägigen Akten enthielten alle relevanten Fakten aus der damaligen Zeit, sie seien in den mehr als 40 Jahren seither nicht gesäubert worden und es gäbe eben in München kein vergleichbares Aktenformat wie die famosen Brüder im Nebel des früheren Kölner Erzbischofs. Hier kann man nur sagen, warten wir mal ab.
übergroße Schuld
Neu ist der Verweis des abgedankten Papstes auf die übergroße Schuld, auf die er in seiner Amtszeit stieß: „Bei all meinen Begegnungen vor allem auf mehreren Apostolischen Reisen mit von Priestern sexuell mißbrauchten Menschen habe ich den Folgen der übergroßen Schuld ins Auge gesehen und verstehen gelernt, daß wir selbst in diese übergroße Schuld hineingezogen werden, wenn wir sie übersehen wollen oder sie nicht mit der nötigen Entschiedenheit und Verantwortung angehen, wie dies zu oft geschehen ist und geschieht.“ Bemerkenswert ist hier, dass die Betroffenen nicht als Opfer von Priestern benannt werden; es gibt zwar weiter in der Einlassung den Terminus ‚Opfer von sexuellem Missbrauch‘, aber niemals als ‚Opfer von Priestern‘. Das Opfer, das Priester in der Eucharistie am Altar darbringen und das uns von der „übergroßen Schuld“ erlöst, und die Opfer durch sexualisierte Gewalt von Priestern, die für diese Übergröße ursächlich verantwortlich sind, müssen offenbar für Benedikt XVI. ganz entschieden getrennt werden. Man steht etwas verwundert vor einem ekklesiologischen Nestorianismus. Noch gravierender ist die übergroße Schuld. Warum diese Steigerung? Möglicherweise wird dieser Topos aus der deutschen Übersetzung des Confiteor des römischen Ritus vor der Liturgiereform wegen eines beklemmenden Gespürs verwendet, dass es längst nicht mehr bloß darum geht, was der frühere Erzbischof denn tatsächlich wusste, sondern ob das, was der abgedankte Papst anführt, wirklich nicht gewusst zu haben, glaubwürdig ist. In Rede stehen für Benedikt XVI. nicht nur Fakten. Es geht um seine sehr persönliche Glaubwürdigkeit. Sie ist mehr als nur fragwürdig geworden. Und damit geht es um seine legacy als Papst, als Kurienkardinal, als Erzbischof, als Priester und nicht zuletzt als Theologe.
Topos der affektierten Bescheidenheit
Der Verweis, sich als Papst übergroßer Schuld und den Folgen für ihre Opfer gestellt zu haben, soll sie sichern. Er signalisiert Bescheidenheit; die übergroße Schuld ist schon fast so etwas wie Reue, obzwar sie nicht erklärt wird. Das soll eine weitere Steigerung noch verstärken: „Wie bei diesen Begegnungen kann ich nur noch einmal meine tiefe Scham, meinen großen Schmerz und meine aufrichtige Bitte um Entschuldigung gegenüber allen Opfern sexuellen Mißbrauchs zum Ausdruck bringen.“ Spätestens bei diesen Steigerungsraten beschleicht mich der Eindruck, vor einem anderen bekannten Topos kirchlicher Hochhierarchie zu stehen, dem Topos der affektierten Bescheidenheit. Seit Martin von Tours gehört er zum Ritual der Unterwerfung unter eine Bischofswahl, derer der Auserwählte als sich natürlich nicht würdig zu bekennen hat. Der Gedanke kommt mir, weil Scham und Schuld nicht nur persönliche Erfahrungen sind, sondern kulturelle Muster, um sich auf andere gesellschaftlich einzustellen und sie für sich zu gewinnen oder sie nicht zu verlieren.
Scham für die Schuld der anderen
So setzt die „übergroße Schuld“ darauf, dass die gesellschaftliche Öffentlichkeit, die Benedikt XVI. so genau beobachtet, jetzt respektiert, dass es ihm wirklich ernst sei und Umkehr bevorsteht. Bei der Scham allerdings ist die Musterung der relevanten anderen ganz anders gelagert als bei der Schuld. Wer von Scham gequält wird, mustert die Umgebung daraufhin, wer oder was denn dem eigenen Ich darauf kommen kann, was es zu verstecken hat. Hier geht es um eine Bedrängnis „Wann fliege ich auf?“. Wer sich vor anderen schämt oder gar sich öffentlich schämen muss, anerkennt, dass nicht länger zu verbergen ist, was hätte im Verborgenen bleiben sollen. Die vom abgedankten Papst geäußerte „tiefe Scham“ ist aber nicht von dieser Natur. Er schämt sich bloß stellvertretend für die Schuld von anderen, aber nicht wirklich und persönlich für eigenes Vergehen.
Seine Musterung der relevanten anderen hat schließlich ergeben, dass er glaubt, darauf insistieren zu können, nichts gewusst zu haben und nicht selbst schuldig geworden zu sein. Die „tiefe Scham“ resultiert daher ebenso aus stellvertretendem Schuldbekennen wie aus dem kühlen Kalkül, den dann der sog. Faktencheck seiner Anwälte ohne Umschweife vorbringt: „Das Gutachten präsentiert keine Beweise dafür, dass es sich anders verhält.“ Ich lasse einmal dahingestellt, was für die Anwälte denn ‚ein Beweis‘ wäre, also ob das unterhalb der Ebene einer handschriftlichen, in alter Rechtschreibung verfassten Einlassung von Joseph Ratzinger, er habe es doch gewusst, überhaupt angesiedelt sein könnte. Immerhin geht es ja hier um einen abgedankten Papst, also eine juristische Ausnahmeerscheinung. Aber das ist eine Kleinigkeit gegenüber der Übergröße und Tiefe von Schuld und Scham. Beide bringen ausgerechnet wegen der Übergröße und der Tiefe das Problem mit der Glaubwürdigkeit nicht weg. Vielmehr machen sie deutlich, wie sehr es für die beiden Fälle Joseph Kardinal Ratzinger wie Benedikt XVI. im Raum steht und dort stehen bleibt.
„besonderes Lehramt“ Betroffener
Der erste Akt des Trauerspiels ist noch wichtiger als dieses Ringen einer Person um ihre verlorene Glaubwürdigkeit. Es vollzog sich auf der jüngsten Vollversammlung des deutschen synodalen Weges im Rahmen des Grundtextes „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“, der ja in Frankfurt dann mit den nötigen Mehrheiten angenommen wurde. Die Inhalte des Textes sind theologisch gut und an manchen Stellen auch beeindruckend. Mir geht es um einen wichtigen Brennpunkt: Nicht übernommen wurde der Vorschlag der Arbeitsgruppe, gegenüber den Betroffenen sexualisierter Gewalt einzuräumen, dass sie ein „besonderes Lehramt“ darstellen, das es gilt, „anzuerkennen, weil die Stimme Christi in ihnen vernehmbar wird“. Das wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt und stattdessen diese Passage über Betroffene kirchlichen Machtmissbrauchs verabschiedet: „In ihnen wird nach dem Zeugnis der Hl. Schrift (Mt 5,1-12; Mt 25,31-46) die Stimme Christi vernehmbar. Ihr Schrei ist ein besonderer „Locus theologicus“ für unsere Zeit.“
Hier steht man vor einer viel unspektakuläreren Selbstverzwergung, bei der man jedoch ebenso durch eine bemühte Steigerung gravierend hinter den eigenen Möglichkeiten bleibt. Es ist natürlich klar, dass synodale Texte Kompromissen entspringen müssen und dass bei der Abstimmung taktische Erwägungen eine Rolle spielen wie hier etwa die Sicherung der 2/3 Mehrheit der anwesenden Bischöfe. Es ist mir auch klar, dass unbedingt eine Instrumentalisierung der Betroffenen für theologische Streitfragen vermieden werden muss und dass auch eine Synodale, die für Betroffene sprach, deutlich machte, dass eine solche theologische Aufwertung auch eine Last darstellen würde. Die geänderte Passage bemüht sich darum, all dem gerecht zu werden, und diese Intentionen sind auch aller Ehren wert. Aber in der Steigerungsformel, dass im Schrei der Betroffenen nach dem Zeugnis der Hl. Schrift die Stimme Christi vernehmbar sei, schießt das Bemühen zu seinem Nachteil über. Es wird eigentlich nur etwas gesagt, was selbstverständlich ist. Seit Gaudium et spes 22 gehört es zur kirchlichen Lehre, dass Christus sich in seiner Menschwerdung mit jedem Menschen vereinigt hat. Darum kann man das sagen, was hier steht, wie man es von jedem Menschen sagen kann, der unter Machtzugriffen leidet und nach Gerechtigkeit ruft.
Loci theologici sind Fundstellen, weil sie Autorität haben, also etwas zu sagen haben.
Es ist nicht falsch, darin eine Fundstelle, um auf Gott zu treffen, also einen locus theologicus, zu sehen. Auch wenn man ihn als „besonders“ qualifiziert, gibt man den Betroffenen sexualisierter kirchlicher Gewalt nicht den besonderen Stellenwert, der eigentlich respektiert werden soll. Loci theologici sind Fundstellen, weil sie Autorität haben, also etwas zu sagen haben. Es ist die spezifische Aufgabe des kirchlichen Lehramtes, diese Autorität zu respektieren und festzustellen. Es erzeugt sie selbst nicht, aber es muss sich auf die Wahrheit beziehen, die darin zum Vorschein kommt. Das ist die Messlatte, die der synodale Weg nicht reißen darf auf seinem Parcours.
Mit einem Lehramt der Betroffenen stünde die Kirche vor der Wahrheit ihrer eigenen Glaubensbehauptungen.
Mit einem besonderen Lehramt der Betroffenen stünde die Kirche vor der Wahrheit ihrer eigenen Glaubensbehauptungen und würde respektieren, dass sie auf dem Prüfstand stehen. Scheut man vor dieser Hürde, übergeht man die Überprüfungsinstanz, welche die Betroffenen sexuellen Missbrauchs für die Glaubensdarstellungen darstellen. Damit werden die Opfer nicht genötigt, sich kirchlich zu verstehen, sich trotz dem, was ihnen angetan wurde, positiv zum Glauben äußern zu müssen oder sich gar in extrem komplexen theologischen Disputen positionieren zu müssen. Darum geht es nicht, wohl aber geht es um die besondere Beziehung von Sexualität und Wahrheit, der sich die Kirche nicht entziehen kann, gleich wie sehr sie es auch wollte.
Im Diskurs und in Praktiken von Sexualität zeigt sich die Einstellung zur Wahrheit.
Die Beziehung besteht nicht darin, dass Sexualität die Wahrheit des menschlichen Lebens sei oder Wahrheiten immer eine sexuelle Konnotation hätten. Das ist nicht die Frage. Vielmehr wird in der Auseinandersetzung, der Einstellung, dem Respekt zur Sexualität deutlich, wie eine Person, eine Gesellschaft, eine Kultur, eine Politik, eine Religionsgemeinschaft bereit ist, sich auf Wahrheit einzustellen. Im Diskurs und in Praktiken von Sexualität zeigt sich die Einstellung zur Wahrheit, ob man sie einräumt, auch wenn die prekär ist, gegen eine:n selbst spricht, Normierungsvorstellungen relativiert, eigene verschämte Machtabsichten offenbart und so fort.
Dieser Zusammenhang trifft die katholische Kirche, ihre Repräsentanten in der Hierarchie und auch ihre Gläubigen aufgrund des sexuellen Missbrauchs direkt. An dem, wie sie sich zur sexualisierten Gewalt von Priestern an Kindern, Jugendlichen, Ordensfrauen, die bis in die unsäglichen Details hinein unverschämt ist, und zur schamlosen Vertuschung der Taten von der Kirche selbst stellen, zeigt sich, wie sie es überhaupt mit Wahrheit halten. Wird nur zugegeben, was man nicht mehr vermeiden kann? Wird nur respektiert, was man selbst dabei kontrolliert? Wird nur mit verschleiernder Sprache das Unsagbare angedeutet? Oder sind sie bereit und fähig, die eigene Glaubwürdigkeit auf den Prüfstand dieser Wahrheit zu stellen?
Mit dem besonderen Lehramt der Betroffenen wäre der synodale Weg zur Vorhut der Weltkirche geworden, sich um eine Antwort zu mühen.
Goethe hat die Gretchenfrage erfunden, also wie man es mit Religion hält. Die ist vergleichsweise einfach, vor allem in der Kirche. Die Gläubigen und das kirchliche Lehramt stehen aber vor einer tieferen und größeren Frage: Wie halten sie es mit der Wahrheit? Mit dem besonderen Lehramt der Betroffenen wäre der synodale Weg zur Vorhut der Weltkirche geworden, sich um eine Antwort zu mühen. Er sollte sich anstrengen und beeilen, da wieder hinzukommen. Dafür, wie man zum Bremsblock wird, haben wir wahrlich genug an Beispiel.
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Autor: Hans-Joachim Sander, Salzburg
Beitragsbild: Pixabay