Das heikle Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität, von Stabilität und Bruch ist der zeitgenössischen Kunst konstitutiv eingeschrieben. Hermann Glettler zu möglichen Lerneffekten für die katholische Kirche.
Die Geschichte der Moderne, im Speziellen die Entwicklung der Bildenden Kunst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, lässt sich als ein ständiger Prozess der Auflösung (Liquidierung) bis dahin gültiger Parameter des Selbstverständnisses von Kunst verstehen. Die vielfältigen Ausformungen der Moderne produzierten und etablierten nicht nur „neue Kunst“, die innerhalb der Koordinaten herkömmlicher Kunstdiskurse nicht mehr einzuordnen und bisweilen diesen diametral entgegengesetzt war, sondern entwickelten auch eine progressive Begrifflichkeit von Kunst, die sich in einer permanenten Dekonstruktion des Tradierten in die elementarsten Grundbausteine und Basisübereinkünfte niederschlug.
Diskontinuität – das wesentliche Paradigma der Kunst in der Moderne
Die höchst unterschiedlichen Kunstpositionen quer durch das 20. Jahrhundert haben sich in einem permanenten, aggressiven, aber auch produktiven Widerspruch zueinander weiterentwickelt. Dada, Fluxus und Performance etwa stehen für einen grundsätzlichen Verflüssigungsprozess im Selbstverständnis von Kunst.
Die anarchistische Kunstwelle Dada und die folgenden Neo-Dada Schübe sind in allen Spielarten der immer neue Versuch, Systematisierungen in Frage zu stellen und die kreativen Potentiale des Non-Konformen, Un-Konventionellen und Un-Korrekten freizulegen. Auch wenn Dada sich bereits 1922 auflöste, hat es als Haltung seine Widerstand stimulierende Kraft gegenüber allen Systembildungen in Kultur, Politik und Religion bis heute nicht verloren. Dada ist möglicherweise der wichtigste Verflüssigungsimpetus in der Entwicklung der Moderne.
Fluxus ist der fließende Übergang von Kunst und Leben. Typisch für Fluxus sind sogenannte „Konzerte“, collageartig komponierte Geschehensabläufe mit interaktiven Beiträgen mehrerer Künstler. Die zeitgenössische Kunstproduktion wäre ohne Beachtung der Fluxus-Erfahrungen und der Fluxus-Energie unverständlich. Fluxus-Kunst ist vom Ansatz her eine Protagonistin der Auflösung und der Diskontinuität.
Die Performance, die sich ab 1970 als eigenständige Kunstrichtung zu etablieren begann, gehört bis heute zum selbstverständlichen Repertoire zeitgenössischen Kunstschaffens. Die Person des Künstlers ist das Medium dieser Kunst. Die Performance ist eine situationsbezogene, handlungsbetonte und vergängliche (ephemere) künstlerische Darbietung. Performances im Sinne bildender Kunst sind nicht vorstrukturierte und mehrmals wiederholbare Theateraufführungen, sondern einmalige künstlerische Prozesse. Entscheidend ist das Offene der Handlung mit seinem gegenwärtigen Erlebnis- und Deutungspotential.
Flüchtigkeit – ein zentrales Charakteristikum zeitgenössischer Kunst
Die „sozial oder politisch engagierte Kunst“ schließlich hat sich nicht selten bis zur Auflösung des spezifischen Status als Kunst ins konkrete Handeln hinein „verflüssigt“. Ökologische Fragestellungen, Fragen der Menschenrechte in einer vollkommen globalisierten Welt, Kritik der nach wie vor ausstehenden Gleichbehandlung der Geschlechter, Ermöglichung von basisorientierten Partizipationsformen am politischen Geschehen, Beiträge zu Stadtteilentwicklungsprozessen und vieles mehr leistet zeitgenössische Kunst seit Jahrzehnten.
Zeitgenössische Kunst entdeckt den öffentlichen Raum als einen wesentlichen Interventionsraum, in dem der gesellschaftliche Diskurs mit viel größerer Effektivität zu führen ist, als im abgeschlossenen Kunstbetrieb der Galerien und Museen. Kunst stimuliert mit ihrer öffentlichen Präsenz einen Diskurs über Werte und Leitbilder heutiger Gesellschaft und leistet diversitätssensibel einen unschätzbaren Beitrag zur Visionsarbeit für eine tolerante, menschenwürdige Zukunft der Gesamtgesellschaft.
Kirchliche Lernprozesse in einer Kultur der Diskontinuität
Die zeitgenössische Kunstproduktion wurde vom Anfang der Moderne bis herauf in die Gegenwart von vielen besorgten Vertretern der Kirche als ein gefährlicher Prozess, wenn schon nicht der Auflösung, so doch der Gefährdung von Grundwerten, und als Destabilisierung gesellschaftlicher Fundamente (miss-)verstanden. Auch wenn ich diese pauschale Abwertung der Moderne nicht teile, liegt es mir ebenso fern, einer naiven Euphorie der Diskontinuität das Wort zu reden. Mit Sicherheit braucht es in unserer Gesellschaft eine gesunde Balance der Wertschätzung beständiger Grundwerte (Basisübereinkünfte) und einer Dynamik der Veränderung, bzw. des Fortschritts. Es geht also weder um eine Fetischierung des Neuen noch um eine solche des Tradierten. Auf dieser Basis seien hier einige Thesen zu kirchlichen Lernprozessen in einer Kultur der Diskontinuität vorgelegt.
Verflüssigung ist eine Grundbedingung für Lebendigkeit
Der kursorische Blick auf die Moderne zeigt, dass eine radikale Selbst-Infragestellung zum eigentlichen Entwicklungsfaktor von Kunst geworden ist und keineswegs zu deren finaler Liquidierung geführt hat. Beobachtete Verflüssigungsimpulse im Selbstverständnis von Kunst haben sich als notwendiger Ausgleich gegenüber systembedingten Erstarrungen erwiesen. Übertragen auf ein kirchliches Selbstverständnis könnte dies bedeuten, dass aktuell zu beobachtende Verflüssigungstendenzen auch einen Beitrag zu größerer Lebendigkeit darstellen können. Verflüssigung bedeutet ein Plus an Beweglichkeit und Formbarkeit, ein Plus an situationsgerechter Einstellung auf gesellschaftliche Veränderungen und ein Plus an Präsenz an Orten, die vom Evangelium her ein Anliegen der Kirche sein müssen.
Wenn Kirche den Mut aufbringt, Herrschaftsgesten der Vergangenheit, überkommene Statussymbole und viele andere erstarrte Formen in Frage zu stellen und auch sterben zu lassen, wird sie sich im gesellschaftlichen Diskurs neu einbringen und damit ihrer Sendung nachkommen können. Vielleicht lässt sich für diesen nicht immer schmerzfreien Prozess der Selbstreinigung auch aus den dadaistischen Grundimpulsen etwas lernen.
Ideologiegefährdete Systeme aller Art müssen permanent einer Katharsis unterzogen werden. Wenn sie es selbst nicht schaffen, weil die Erstarrung bereits so fortgeschritten ist, so muss dies von außen geschehen – im Extremfall auch durch Spott und aggressive Konfrontation. Wie wir aus einigen Epochen der Geschichte wissen, können auch in der Kirche geschlossene und lebensfeindliche Systeme entstehen, die sich repressiv und aggressiv gegen jene richten, deren Weltanschauungen und Lebensweise nicht mit den dort propagierten „kirchlichen“ Vorstellungen übereinstimmen.
Geist und Kreativität haben Vorrang vor Verwaltung
Über das „Geistige in der Kunst“, über das Transzendente und Erhabene in der Gegenwartskunst ist viel gearbeitet worden. Ich meine mit dieser zweiten These jedoch nicht den Vorrang des Spirituellen und Mystischen vor dem scheinbar nur „Säkularen“. Diese Falle einer Abwertung tut sich rasch auf, auch wenn die Spurensuche nach dem Geistigen in der Kunst, oft mit dem Religiösen gleichgesetzt, seine Berechtigung (gehabt) hat. Ich meine mit Vorrang für Geist und Kreativität, dass dem Organischen und Lebendigen, dem vorerst Unklassifizierbaren und Unkontrollierbaren mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Verwaltung, auch kirchliche Verwaltung und Management, sind eindeutig nachrangig. Innovativ und kreativ ist der Geist.
Die Paradigmen des Machens können den Geist töten. Ebenso um ein Mehr an Geist geht es Kunst und Kirche im gemeinsamen Kampf gegen eine blind materialistische und konsumorientierte Verflachung des Lebens. Kunst und Kirche sollten sich dabei in ihrem prophetischen Auftrag unterstützen – gerade angesichts der Tatsache, dass die dominanten Gestaltungsfaktoren des Lebens in unserer globalisierten Welt andere Namen haben.
Was hat die Kirche dieser Entwicklung entgegen zu halten? Mit Hilfe des Geistes, der weht, wo er will, lässt sich zumindest eine Perspektive gewinnen. Der kreative und innovative Geist hat in jedem Fall Vorrang vor dem auf Quantität ausgerichteten Bemessen religiöser und kirchlicher Erfolgsindikatoren. Er widersetzt sich auch dem Zugriff der pastoralen Bürokratie, in deren Fängen das Ursprüngliche des Evangeliums, die befreiende Begegnung zwischen Gott und Mensch, relativ rasch erstickt wird. Der Geist macht lebendig. Er steht für den Einbruch des Neuen und menschlich Nicht-Machbaren.
Dem Geist Vorrang geben, bedeutet eine höhere Sensibilität für Gottes Präsenz und Wirken im Jetzt einer bestimmten gesellschaftlichen Ausgangslage zu entwickeln. Die Gegenwart ist Gottes Anruf – inklusive aller Störungen und irritierenden Strömungen. Das Jetzt ist der Moment Gottes. Der Heilige Geist äußert sich eben auch im sogenannten Zeitgeist – ohne diesen unreflektiert verherrlichen zu wollen. Beiden Inspirationsquellen, dem Geist Gottes und dem Geist der jeweiligen Zeit, ist mehr zuzutrauen, als es eine ängstliche und von apokalyptischen Schreckensbildern geleitete Zeitdiagnostik oftmals nahelegt.
Größtmögliche Individualität fördern
Die Moderne hat am deutlichsten den Auftrag von Kunst, nämlich eine Alternative zum Status quo zu entwerfen, bewusst gemacht. Initiativ und auslösend waren dabei immer individuelle Positionen. Das Individuum, das seine Freiheit wahrnimmt und zum schöpferischen Handeln kommt, entwickelt einen Gegenentwurf zur geltenden Normästhetik und stört damit den Betrieb der bereits etablierten Kultur. Dieser Widerpart des Individuums im Gegenüber zur Gruppe oder Masse ist ein wesentlicher Ausweis des Neuen. Er bildet die Grundlage für einen möglichen Fortschritt.
Für die Bewältigung der Fragen der Zukunft braucht es höchstmögliche Individualität und, abgeleitet davon, auch im kirchlichen Bereich Lern- und Lehrwerkstätten des Quer-Fragens und Quer-Denkens. Die wesentlichen Veränderungsimpulse und neuen Handlungsoptionen gehen nicht vom institutionalisierten Kunst- oder Kirchenbetrieb aus. Es ist meist das Engagement des einzelnen Künstlers/der einzelnen Künstlerin, im religiösen Kontext würde man sagen, das gelebte Zeugnis des einzelnen Gläubigen oder einer quantitativ gesehen kleinen Gruppe, die eine Alternative zu einem ungenügenden Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft entwickelt.
Dieses authentische Zeugnis des Einzelnen wird in der multioptionalen Gesellschaft immer wichtiger. Für das freiheitsbewusste Subjekt stellt es die einzige Möglichkeit dar, sich auf einen persönlichen Prozess von Umkehr und Erneuerung einzulassen. Dieses Zeugnis darf jedoch nicht mit einem kurzfristigen Ertrag spekulieren. Es entfaltet seine Wirkung, wenn es möglichst frei von jedem Kalkül der Effektivität, d.h. absichtslos von Person zu Person in einem Raum der Freiheit vorkommt.
Interventionen in den öffentlichen Raum hinein wagen
Ausgehend vom Begriff der „sozialen Plastik“, wie ihn Josef Beuys entwickelt hat, kann sich Kirche als wesentlicher Bestandteil des komplexen sozialen Organismus verstehen, den wir gemeinhin Gesellschaft nennen. In dieser großen „sozialen Skulptur“ ist Kirche ein aktiv mitgestaltender Faktor, aber auch ein Störfall, eine Alternative und Provokation, eine Energiequelle und ein Filter, ein Modellfall und ein unsichtbares Ferment zugleich.
Mit dem Impetus des politischen Kunstwerks, wie es in den 70er Jahren entwickelt wurde, wird auch deutlich, dass Kirche ihre Bestimmung nicht für ihren Selbsterhalt und ihre Eigenversorgung hat, sondern ihre Sendung in das Politische, das Allgemeine und Öffentliche hinein reichen muss. Was die soziale Plastik Kirche selbst betrifft, ist für die Zukunft entscheidend, ob sich jeder und jede Einzelne als ein Mitwirkender und wesentlicher Bestandteil des organischen Ganzen begreift. Kirche-sein ist ein geistvoller, kreativer und sozialer Gestaltungsvorgang. Nicht entweder Verflüssigung des Selbstverständnisses oder Widerständigkeit innerhalb einer offenen Gesellschaft lautet die Alternative, sondern beides zugleich ist unabdingbar notwendig.
Eine tatsächliche Verflüssigung kirchlicher Präsenz hinein in den öffentlichen Kommunikationsraum – möglichst empathisch und sympathisch – ist die Voraussetzung, damit Kirche ihrem Gesamtauftrag treu sein kann. Die biblischen Metaphern für diese dialektische Position sind Licht, Stadt auf dem Berg, Salz und Samenkorn. Die Kirche ist in der Diktion des Johannesevangeliums nicht von der Welt, aber in der Welt und für die Welt da! In jedem Fall geht es in der Nachfolge Jesu um eine tatsächlich gelebte Hingabe innerhalb des sozialen und gesellschaftlichen Gesamtorganismus und nicht um die Etablierung und den Erhalt kirchlicher Sonderwelten.
Solidarität ist die Grundlage kirchlicher Zukunftsarbeit
Kunst schafft trotz ihrer Diversität in den ästhetischen Konzepten und ihrer unzähmbaren Widersprüchlichkeit meist eine Sensibilisierung für jene Menschen, die aus dem gesellschaftlichen System hinausgedrängt werden, bzw. schon zur Gruppe der Wohlstandsverlierer und in irgendeiner Weise Marginalisierten gehören. Lokal und global gibt es ähnliche Phänomene der Exklusion. Kunst verschärft grundsätzlich die soziale Aufmerksamkeit, die zu einem sozialen Engagement drängt.
Die Kirche hat eine ähnliche Grundhaltung gegenüber Menschen am Rande, wenn sie den Auftrag des Evangeliums ernst nimmt. Es bleibt für die Glaubwürdigkeit und das prophetische Zeugnis der Kirche die zentrale Frage, ob sie der Logik der nahezu totalitären Ökonomisierung aller Lebensbereiche etwas entgegenhalten kann. Mehr Großherzigkeit und Mitleid gegenüber den Menschen in materieller und geistiger Armut sowie mehr Mühe um die Aufklärung und Beseitigung der strukturellen Ursachen zunehmender Ungerechtigkeit gehört zum diakonalen Grundauftrag von Kirche.
1980 hat das Lenbachhaus in München die Installation „Zeige deine Wunde“ von Josef Beuys angekauft – bestehend aus zwei metallenen Spitalsbetten und zwei Werkzeugen, die zum Entrinden von Baumstämmen verwendet werden, sowie einer Tafel mit der Titel gebenden Botschaft. Dieses Kunstwerk hat unglaubliche Kontroversen ausgelöst, nicht zuletzt auch deshalb, weil es den Finger auf eine Wunde der Gesellschaft gelegt hat. In den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Erfolgs und den damit zusammenhängenden Phantasien der totalen Machbarkeit des menschlichen Glücks kommt es notgedrungener Weise zur Verdrängung all dessen, was an menschliches Versagen oder Scheitern erinnert.
„Zeige Deine Wunde!“
„Zeige Deine Wunde!“ Die Aufforderung hat nichts an Aktualität eingebüßt. Mit Sicherheit ist es notwendig, im gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext die Bedeutung der Verwundbarkeit wieder zu entdecken. Verwundbar sein und Schwäche zeigen können sind die eigentlichen Qualitäten des Menschseins. Wer die Perfektion sucht und daraus ein Leitbild kirchlichen Handelns entwirft, gerät in Gefahr, den Menschen mit seinen seelischen Verletzungen, mit seinen Defiziten und seiner Müdigkeit nicht ernst zu nehmen. Nicht Perfektion ist das Leitbild des Evangeliums, sondern Barmherzigkeit. Sie verhilft zur Wahrnehmung der Brüche in den Biographien der Menschen und kann zur Heilung des ganzen Menschen beitragen. Barmherzigkeit ist die einzige geistliche Kategorie, die ganz dem Wesen Gottes entspricht.
Das kann Angst vor Veränderungen nehmen und angesichts von Verflüssigungstendenzen in der aktuellen Kirchendiskussion dem Vertrauen mehr Raum geben. Das Lebendige, das von Gott inspiriert ist, wird sich erweisen und seine Form finden.
Hermann Gletter ist Bischof der Diözese Innsbruck und Künstler.
Photos: Rainer Bucher
Ausführlicher: Hermann Glettler, In der Schule der verflüssigten Moderne. Lässt sich von einer Kultur der Auflösung und Diskontinuität für die Kirche etwas lernen?, in: Pastoraltheologische Informationen 34(2014), Nr. 2, 171-184.