Hans Mendl mit einer theologischen Kritik der pädagogischen Instrumentalisierung eines großzügigen Heiligen.
Was ist
Wenn es so etwas wie eine Schutzorganisation für missbrauchte Heilige geben würde, dann müsste man den heiligen Nikolaus auf jeden Fall dort melden. Am Vorabend des 6. Dezembers treibt nämlich unter Berufung auf ihn eine eigenwillige volkstümliche Figur in unseren Breiten ihr Unwesen: Sie geht von Haus zu Haus, besucht Familien und liest den Kindern, die bang dem Gast entgegenfiebern, eine Auflistung guter und weniger guter Taten vor. Verbunden wird dies mit Hinweisen, bei welchen Verhaltensweisen sich der Nikolaus – genauer: die Eltern – eine Besserung der Kinder wünschen würde.
Wenn es eine Schutzorganisation für missbrauchte Heilige geben würde, müsste man den heiligen Nikolaus dort melden.
Mancherorts wird der Nikolaus noch von einer furchteinflößenden Gestalt – dem Krampus (regional auch Knecht Ruprecht, Klaubauf, Butzenbercht, Fraache) – begleitet, der an den entsprechenden Stellen mit seiner Rute die Worte des Nikolaus untermalt oder gar die Kinder mehr oder minder stark mit der Rute berührt. Die Kinder spielen oder singen dem Nikolaus ein Lied vor. Danach erfolgt eine Übergabe von Geschenken. Diese wiederum haben, so berufene Kreise, in den letzten Jahren ein solches Übermaß angenommen, dass so mancher Nikolausdarsteller um seine Bandscheiben bangt.
Etwas entspannter geht es zu, wenn der Nikolaus bei Erwachsenen (in Sportvereinen, bei Firmenfeiern, in Hörsälen …) auftritt, aber die grundsätzliche Strukturlogik ist auch hier gegeben: Den Adressaten (Vereinsvorsitzenden, Chefs, Dozierenden) wird ein hier meist humoristisch verpackter Sündenspiegel (individuelle Eigenheiten, peinliche Episoden und kleinere Sünden des zurückliegenden Jahres) vorgehalten.
schwarze Pädagogik und eine im Wortsinn verkehrte Theologie
Was geschieht hier? Nichts weniger als eine Pervertierung der ursprünglichen Bedeutung des Heiligen Nikolaus im Zuge einer ganz schwarzen Pädagogik und letztlich auch die Konkretisierung einer im Wortsinn verkehrten Theologie. An der skizzierten Gestaltung des Nikolausabends wird die moralpädagogische Vereinnahmung einer Symbolfigur deutlich, wie sie im Zuge der Verbürgerlichung des Christentums erfolgte. Die deutlich aufscheinende Botschaft lautet: Du musst richtig handeln, dann wendet sich dir die autoritäre Größe (Eltern, Nikolaus, Gott) gnädig zu und du wirst den verdienten Lohn erhalten. Theologisch gesprochen: Der Imperativ geht dem Indikativ voraus. Diese Strukturlogik widerspricht fundamental einem gnadentheologischen Verständnis des Zusammengehens von Gnade und Tun.
Beispiele für eine solche eher gnadenlose Pädagogik lassen sich in vielen autobiografischen Darstellungen entdecken. „So wahr Gott die kleinen Äpfel erschuf, so wahr wird er Katholiken aus uns machen, er wird die Faulenzerei aus uns raus- und die göttliche Gnade in uns reinprügeln“[1], schimpft der Pfarrer in der Rückerinnerung Frank McCourts an seinen Erstkommunionunterricht, bei dem Drohungen und Leistungsanforderungen dominierten.
„die göttliche Gnade in uns reinprügeln“
Die Folgen einer solchen Erziehung sind evident; Tilman Moser schreibt: „Der Humus, auf dem du wachsen konntest, war kindliches Unglück“[2]. Gott wird reduziert auf einen moralischen Oberwächter, wie sich das auch in einem Spruch wiederfindet, der auf dem Holzlineal meiner älteren Schwester eingeritzt war: „Gottes Auge ist überall, drum stehl mir nicht mein Lineal.“
Was sein sollte
Wie verhalten sich aber Handeln und Heil zueinander? Ich habe hier während meines Studiums Grundlegendes von Helmut Merkleins[3] Deutung der Gottesherrschaft als Handlungsprinzip gelernt; es prägt meine Theologie und Religionspädagogik bis heute.[4]
Jesus ging es nicht um die Begründung einer neuen Leistungsethik
Jesus ging es nach der Auslegung Merkleins nicht darum, neue voraussetzungslose Gebote aufzustellen. Ziel ist also nicht die Begründung einer neuen Leistungsethik – aber auch nicht die konsequenzenlose Modellierung einer reinen Gesinnungsethik. Vielmehr ist die Ethik Jesu in seine zentrale und grundlegende Botschaft von der Gottesherrschaft, der basileia tou theou, oft übersetzt mit dem Kommen des Reiches Gottes, eingebettet und erhält von daher seine motivierende Kraft.
Nach neutestamentlichem Verständnis ist der Glaube in der folgenden Entwicklungslogik zu entfalten: Aus der Gabe erwächst die Aufgabe, oder in der Fachsprache: Erst auf den Indikativ erfolgt der Imperativ. Der Begriff der Gnade ist uns leider wie so viele andere theologische abhanden gekommen; die reichhaltige Wortbedeutung des griechischen Wortes charis (Freude, Wohlgefallen, Freundlichkeit, Wohltat, Lieblichkeit, Geschenk, Dankbarkeit) impliziert die Fülle des Lebens und deutet auf einen menschenfreundlichen Gott hin. Das optimistische Ziel der frohen Botschaft Jesu besteht in der endgültigen Heilszukunft von Gott und Mensch; Gott will, dass es uns ein für allemal gut geht. Diese Geschenkhaftigkeit des Heils setzt dann Kräfte zum Handeln frei. Merklein bezeichnet deshalb die Ethik Jesu als Handlungsermöglichung, in einem einfachen Satz so ausgedrückt: „Du hast das Leben, also handle danach.“
hoffnungsfrohes eschatologisches Blitzlicht für die Erlösung durch und die Gemeinschaft mit Gott
Sankt Nikolaus ist als Heiliger im Kontext der adventlichen Vorbereitung auf Weihnachten „eigentlich“ die Personifizierung der theologischen Aussage: „Euch wird (in Jesus Christus) das Heil geschenkt“: Eine mystische, ehrerbietende Gestalt der Vergangenheit mit prächtigem Gewand und langem Rauschebart, mit zahlreichen Legenden ausgeschmückt, der als hoffnungsfrohes eschatologisches Blitzlicht für die Erlösung durch und die Gemeinschaft mit Gott in die Gegenwart hineinreicht.
Kinder sollen also den heiligen Nikolaus bei der Vorbereitung auf das Weihnachtsereignis als einen Vorboten der Geburt Christi erleben. Sie dürfen vor der ehrerbietig und mystisch inszenierten Gestalt des heiligen Nikolaus gerne auch Respekt und heilige Scheu empfinden, letztlich aber sollen sie die Begegnung dankbar als menschen- und kinderfreundliche Zuwendung einer höheren Macht in Erinnerung behalten.
ein Vorbote der Geburt Christi – menschen- und kinderfreundliche Zuwendung einer höheren Macht
Wie es gehen könnte
Nichts ist schwieriger, als Traditionen zu ändern! Das ist nicht nur auf der Ebene der Weltkirche so, sondern auch in der Volksfrömmigkeit. Dass die Bereitschaft, Wandlung zu leben, begrenzt ist, hat Lothar Zenetti mit seinem wohlbekannten treffenden Gedicht „Inkonsequent“ aus dem Jahre 1972 auf den Punkt gebracht: „Sie werden empört sein: ‚Nein, alles soll so bleiben, wie es ist!‘“[5]
Vorrang der Geschenkhaftigkeit des Heils vor jedem Leistungsanspruch als tragendes Erziehungsziel
Global betrachtet sollte religiöse Erziehung grundsätzlich so angelegt sein, dass der theologische Vorrang der Geschenkhaftigkeit des Heils vor jedem Leistungsanspruch ein tragendes Erziehungsziel darstellt. Die Erfüllung religiöser und moralischer Pflichten darf nicht als Selbstzweck gelehrt werden, sondern muss in seinem kommunikativen Beziehungszusammenhang zwischen Gott als Urheber des Lebens und den Menschen als seine dankbaren Geschöpfe gesehen werden.
Die logische Reihung „zuerst der Indikativ und dann der Imperativ“ muss in dieser Aufeinanderfolge aber auch zeitlich in der Lebensgeschichte verortet werden: Für das Kindesalter gilt als zentraler Anspruch, den Indikativ, die Geschenkhaftigkeit des Lebens, zu verdeutlichen: Kinder müssen sich – auch in der Kirche und im Gottesdienst – als vorbehaltlos angenommen empfinden. Diese Ausgangsthese ist übrigens auch ein starkes Argument für die Nachrangigkeit der Erstbeichte erst nach der Erstkommunion; das erste Sakrament, das Kinder bewusst empfangen, sollte als reines Geschenk und nicht mit einer Auflage verbunden empfunden werden.
Kinder sollen sich als vorbehaltlos angenommen empfinden
Was heißt das für den Besuch des Nikolaus?[6]
Erstens: Der Nikolaus erzählt eine der reichhaltigen Legenden aus seinem Leben, z.B. wie er einer armen Familie geholfen hat.
Zweitens: Der Nikolaus verliest eine Positiv-Liste: Was die einzelnen Kinder alles können, was andere an ihnen schätzen, evtl. auch, worin sie gut und besser geworden sind.[7] Das ändert zwar nichts an der pädagogischen Ausrichtung des gesamten Settings, aber es könnte einen Kompromissvorschlag darstellen, der angesichts der skizzierten Wandlungshemmung Akzeptanz findet. Der Nikolaus verbindet die Aussagen mit einem Dank an die Kinder.
Drittens: Statt von einer Schreckgestalt wird Sankt Nikolaus von einem neutralen Helfer oder einer Engelsgestalt begleitet, die ihn bei seiner Arbeit unterstützt. – Kompromiss: Wenn der Krampus als unabdingbar erscheint, soll er sich zumindest zurückhalten. Alternative: Der Krampus wendet sich in besonderer Weise den Erwachsenen zu.[8]
Der Krampus wendet sich in besonderer Weise den Erwachsenen zu.
Viertens: Konsequent zur zeitlich unumkehrbaren Aufeinanderfolge „vom Indikativ zum Imperativ“ erfolgt der Vortrag eines Gedichts oder das Vorsingen eines Lieds durch das Kind oder die Kinder erst nach dem Akt des Beschenktwerdens. – Kompromiss: Wenn die zuvor genannten Aspekte beachtet werden, kann es durchaus auch menschenfreundlicher sein, ein aufgeregtes Kind seine eingeübte Präsentation zuerst aufführen zu lassen, damit es dann entspannt den weiteren Ablauf genießen kann.
ein Mann der Kirche und der Caritas – der zeitlebens Menschen froh und glücklich machte
„Befreien wir den heiligen Nikolaus von der Rolle des moralisierenden, mit einem Sündenregister von Familie zu Familie wandernden Boten! Aktuell ist und bleibt seine ursprüngliche, geschichtliche Wirklichkeit – als Mann der Kirche und der Caritas, der unaufdringlich und doch ansteckend eine situationsrichtige Nachfolge Christi vorlebte und zeitlebens Menschen froh und glücklich machte!“[9]
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Bilder: Eine Szene aus der Nikolauslegende im Mittelschiff der Universitätskirche St. Nikola in Passau: Der heilige Nikolaus beschenkt die Töchter eines verarmten Edelmanns, und: Nikolaus rettet ein Schiff aus Seenot. Fresken von Wolfgang Andreas Heindl aus Wels, 1716/18. Bei der Kirche St. Nikola in Passau handelt es sich um eine staatseigene Kirche des Freistaates Bayern. Bildrechte: Rudolf Sitzberger
Prof. Dr. Hans Mendl ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Passau.
[1] Frank McCourt, Die Asche meiner Mutter, München 1998, bes. 157-183.
[2] Moser, Tilman, Gottesvergiftung, Frankfurt a. M. 1976, 12.
[3] Merklein, Helmut, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip. Untersuchungen zur Ethik Jesu, Würzburg 1978.
[4] Mendl, Hans, Vom Indikativ zum Imperativ. Gnadentheologische Impulse für Kirche und Katechese, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004), 193-198.
[5] Zenetti, Lothar, Texte der Zuversicht. Für den einzelnen und für die Gemeinde, München 1972, 207.
[6] Mendl, Hans, Gnade dir Gott – der Nikolaus kommt!, in: KatBl 134 (2009), 410-412.
[7] Empfehlenswert: https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/feste-und-feiern/1968/; siehe auch: https://nikolaus-von-myra.de/de/
[8] Immer noch amüsant zu lesen: Gernhardt, Robert, Die Falle. Eine Weihnachtsgeschichte, Zürich 1993., bes. 18-23.
[9] Läpple, Alfred, Kleines Lexikon des christlichen Brauchtums, Augsburg 1996, 173.