Heute ist der Festtag des Hl. Dominikus. Christian Bauer zeigt, dass dessen 1216 offiziell anerkannter Predigerorden mehr als nur die Inquisition zu bieten hat, sondern auch heute noch ein attraktives Modell christlicher Existenz darstellt. Und dass ein Jesuit, der sich als Papst ‚Franziskus‘ nennt, vielleicht gar kein schlechter Dominikaner wäre…
Es dürfte wenige christliche Orden geben, an deren Ursprung eine Kneipe steht. Genauer gesagt: eine Wirtsstube im mittelalterlichen Toulouse. Auf Durchreise nächtigte 1203 der spanische Regularkanoniker Dominikus bei einem Gastwirt, der der ‚ketzerischen’Glaubensgemeinschaft der Katharer angehörte. Mit ihm kam Dominikus, so erzählt die Legende, ins Gespräch. Sie redeten die ganze Nacht hindurch. Und am nächsten Morgen war der Gastwirt zum Glauben der Kirche bekehrt. Mehr noch: Auch Dominikus bekehrte sich. Er beschloss, sein bisheriges Leben aufzugeben und das Evangelium Jesu von nun als umherziehender Wanderprediger zu verkünden.
Ob sich diese Kneipenszene am Ursprung des Predigerordens (OP = Ordo praedicatorum) wirklich so ereignet hat oder einfach nur gut erfunden ist, ist im Grunde wenig bedeutsam. Sie trägt jedenfalls noch immer zum dominikanischen Selbstverständnis bei. Von dieser nächtlichen Begegnung am Tresen eines ‚Ketzers’ ausgehend, wird dieses Selbstverständnis im Folgenden entfaltet: als in seinem Ort zeitgenössisch (1), in seiner Botschaft inkarnatorisch (2) und in seinem Weg jesuanisch (3). Denn es zielt auf eine Rückkehr zu den Quellen christlicher Nachfolge, die automatisch zu Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der eigenen Gegenwart macht: „Je mehr ich in meiner Zeit präsent bin, desto mehr bin ich auf die Ursprünge zurückverwiesen. Und je mehr ich mich meinen Ursprüngen zuwende, umso mehr bin ich in meiner Zeit präsent.“ (M.-Dominique Chenu).
1. Zeitgenössischer Ort
Dominikanische Spiritualität hat ihren Ort an den Tresen der jeweiligen Gegenwart – an jenen Orten also, an denen die großen Themen des Seins verhandelt werden: Wovon leben wir eigentlich und wofür? Die konkrete historische ‚Gegenwart’ am Ursprung des Predigerordens ist dabei nicht beliebig. Sie ist in seinem kollektiven Charisma aufgespeichert: „Wir sind Männer des 13. Jahrhunderts, […] Jesuiten sind Männer des 16. Jahrhunderts […] und Benediktiner sind Männer des 6. Jahrhunderts.“ (Yves Congar). Die aufstrebenden, postfeudalistischen Stadtgesellschaften des Mittelalters waren ein idealer Nährboden für die Bettelorden der Prediger- und Minderbrüder: „Während die alten Monasterien […] im Dienst einer etablierten Christenheit standen […], kamen […] neue Gemeinschaften, die evangelische Armut gelobten, mit aristokratischen Ökonomien und Spiritualitäten brachen und jenseits der herrschaftlichen Burgfesten den kleinen Leuten das Wort Gottes predigten […]. […] Diese Männer des Evangeliums sind zutiefst in der Kultur ihrer Zeit engagiert […] bis hin zu jenen Problemen, welche die berauschende Entdeckung der griechischen Vernunft unter den Gläubigen auslöste.“ (M.-Dominique Chenu).
Einen Becher Kaffee, eine Packung Zigaretten und jemanden zum Reden.
Die dominikanische ‚Urszene’ in der Toulouser Kneipe verweist heutige Dominikanerinnen und Dominikaner an alle gesellschaftlichen Orte, an denen sich in den Differezen unserer späten Moderne die umgekehrte IKEA-Frage stellt: Lebst du noch oder wohnst du schon? In Reality bites, einem Film über die ersten Lektionen der Generation des Autors in der Schule des Lebens, fragt ein junger Student: „Was brauchen wir denn schon?“. Und er antwortet: „Einen Becher Kaffee, eine Packung Zigaretten und jemanden zum Reden.“ Recht hat er – was brauchen wir dringender und was wollen wir mehr als „jemanden zum Reden“? Zum Reden über Menschen und Mächte. Über Gott und die Welt. Über das Leben und die Liebe und das kleine Glück in dieser Zeit. Dazu braucht es in der Tat nicht viel. Manchmal sogar nur einen Becher Kaffee, eine Packung Zigaretten und jemanden, der sich mit an den Tresen einer Bar setzt. Wenn dabei dann sogar ein Stück vom Evangelium aufblitzt, dann hat die dominikanische Mission in „grenzgängerischer Manier“ (Ulrich Engel) ihre Bestimmung gefunden.
2. Inkarnatorische Botschaft
Worüber haben sich Dominikus und sein katharischer Gastgeber wohl im Einzelnen unterhalten? Vermutlich ging es um alle jene Streitfragen, von denen nun schon einige angeklungen sind. Die Ursprünge der Katharer liegen weit im Osten: bei den Bogomilen, bei den Manichäern und in der Gnosis. Sie bildeten eine weltverachtende Elitekirche mit eigenen Ämtern und Sakramenten. Einer der Hauptgründe ihrer Attraktivität für die mittelalterlichen Stadteliten waren die reduzierten Ethikstandards für die sogenannten credentes (im Gegensatz zu den strengeren der sogenannten perfecti) sowie das katharische ‚Sterbesakrament’ des consolamentum, das den neuen Reichen eine komfortable ‚Religiosität der letzten Stunde’ ermöglichte. Mit ihrer simplen Erklärung für alles menschliche Leiden hatten die Katharer aber auch den Armen etwas zu bieten. In der Spur des ‚Erzketzers’ Markion führten sie alles Übel auf den bösen ‚Schöpfergott’ des Alten Testaments zurück und stellten ihm den guten ‚Erlösergott’ des Neuen Testaments gegenüber. Weil die Schöpfung in ihren Augen irreparabel verdorben war, waren sie (vom Menschen her) körperfeindlich und (von der Welt her) materiefeindlich eingestellt – beides zusammengenommen: gegen das christliche Grundgeheimnis der Inkarnation.
Nicht mit Flamme und Schwert
Wir wissen es nicht, auf welche Weise es Dominikus gelang, seinen katharischen Gastwirt wieder vom Glauben der Kirche zu überzeugen. Es war ja schon ein sehr sprechendes Zeugnis des Glaubens, dass da einer nicht mit Flamme und Schwert kam, sondern mit der Kraft von Argumenten zu überzeugen versuchte – ein Erbe des Ordens, das sich im Laufe seiner Geschichte nicht immer durchsetzen konnte. Neben den genannten Streitfragen dürfte das gewichtigste Argument des katharischen Gastwirts gegen die Papstkirche wohl der augenfällige Widerspruch zum Evangelium gewesen sein, in dem sich deren ‚desinkarnierte’ Sozialgestalt damals befand: „Über den Inhalt der nächtlichen Diskussion des Dominikus mit dem Gastwirt ist uns nichts überliefert. Sie werden aber sehr wahrscheinlich über die Tatsache gesprochen haben, dass dieser nicht mehr zur katholischen Kirche gehören wollte und zur ‚wahren’ Kirche der Katharer übergewechselt ist. […] Deren Attraktivität bestand vor allem in der Tatsache, dass die Katharer – im Gegensatz zur katholischen Kirche mit ihrer Macht und ihrem Reichtum – sich selbst als […] die wahren Nachfolger des armen Jesus des Evangeliums darstellten. Sie waren davon überzeugt, die einzigen zu sein, die wirklich in den Fußspuren der Apostel gingen.“ (Erik Borgmann).
3. Jesuanischer Weg
Dieses ‚inkarnatorische’ Glaubwürdigkeitsproblem der Kirche wurde damals intensiv wahrgenommen. An ihren Rändern bildete sich ein breiter Übergangsstreifen zur Heterodoxie, in dem sich eine evangelisch inspirierte Armutsbewegung formierte: Humilaten, Waldenser und eben auch Katharer. Sie hatten im Vergleich zur damaligen Papstkirche einen gewaltigen Vorteil. Ihr glaubhaftes Zeugnis eines radikal am Evangelium orientierten Lebensstils überzeugte mehr als das dieser überkommenen Feudalkirche mit ihren päpstlichen Legaten hoch zu Ross. Genau hier setzte Dominikus mit seinem neuen Predigerorden an. Er wollte dem Widerspruch ein Ende machen, den armen „Christus vom Pferd herab zu predigen“ Die ersten Dominikaner lebten stattdessen als umherziehende Wanderprediger, die das Evangelium ‚zu Fuß‘ und somit auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Menschen verkündeten: „non equester sed pedester“. Diese inkarnatorisch inspirierte Spiritualität der Augenhöhe ermöglichte es ihnen, wie die „Ketzer zu leben“und zugleich wie die „Kirche zu lehren“. Die ersten dominikanischen Predigerbrüder bewegte eine „Jesus-Spiritualität“ (E. Schillebeeckx), die zurück zu den jesuanischen Ursprüngen des Christentums führte. Sie waren jesuanische Wanderprediger der anbrechenden Gottesherrschaft deren ‚Galiläa’ in Südwestfrankreich, Norditalien und am Niederrhein lag. Dominikanische Spiritualität ist, „Nachfolge Jesu auf den Spuren des Dominikus“ (Frei Betto): „Dominikus nachzufolgen ist eine bestimmte Form, Jesus nachzufolgen“ (Felicesimo Martinez-Diez).
Nachfolge genügt
Ohne Proviant, Schutz und Ballast schwärmen sie zu mehreren aus und entdecken die Wunder des Evangeliums überall dort, wo sie mit ihrem Wunsch „Schalom diesem Haus“ (Lk 10, 5) an fremde Türen klopfen. Eine entsprechende „Mystik der Nachfolge“ (Johann B. Metz) erfordert es, bei den Menschen eines fremden Hauses einzukehren und von ihrem Tisch zu essen (vgl. Lk 10,7) – vom Brot und vom Fisch ihrer eigenen Erfahrungen. Und von dorther dann die Botschaft Jesu zum Thema zu machen. Wo dies nicht gelingt, schütteln die Jüngerinnen und Jünger Christi dann einfach den Staub von ihren Füßen und ziehen weiter zum nächsten Haus (Lk 9,5; 10,11). Wenn das nicht befreiend ist: Manchmal genügt es auch, sich einfach nur zum katharischen Gastwirt mit an den Tisch zu setzen – ganz ohne Bekehrungszwang! Wichtiger ist ein glaubwürdiges Jesuszeugnis: „Nachfolge genügt.“ (Würzburger Synode). Madeleine Delbrêl erinnert an die vielen Weggefährtinnen und Weggefährten der Christentumsgeschichte, die in immer dann aus dem Dunkel heraustraten, wenn es an das Evangelium Jesu zu erinnern und von den Rändern der Kirche her einen neuen pastoralen Aufbruch zu initiieren galt:„Die ganze Kirchengeschichte hindurch gibt es […] so etwas wie ‚Landstreicher’ […], die auf den Straßen unterwegs sind, da sie den Weg Christi eingeschlagen haben […], um den ganzen Weg entlang dessen Gebärden zu vollziehen […]: Franz von Assisi, die ersten Trupps der Dominikaner […] – man könnte sicher noch Dutzende finden. Sie alle haben keine Generalkarte, sondern folgen den kleinen Saumwegen. Und sie fragen ihren Herrn nicht, wo sie morgen sein werden, denn sie haben ohnehin ein Rendezvous mit ihm.“
… und Papst Franziskus?
Albertus Magnus und Thomas von Aquin, Meister Eckhart und Batholomé de Las Casas, M.-Dominique Chenu und Yves Congar, Edward Schillebeeckx und Gustavo Gutiérrez – sie alle waren bzw. sind dominikanische Predigerbrüder, die auf dem Weg ihrer eigenen Nachfolge Jesu auf den Straßen der jeweiligen Gegegenwart eine entsprechend evangeliumsbewegte Theologie getrieben haben. Und ein Jesuit, der sich als Papst ‚Franziskus’ nennt, könnte genauso gut auch ein Dominikaner sein. Vor kurzem war über diesen „Jesuaner“ (Hartmut Meesmann) auf dem Stuhl Petri in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: „Der Jesuit Franziskus […] wäre ein mustergültiger Dominikaner. [Er verkörpert] […] wie nur wenige andere Päpste der 2000-jährigen Kirchengeschichte die Ideale jenes Ordensgründers Dominikus und übrigens auch des Religionsgründers selbst. Kein Wunder, dass die Menschen schon zu Dominiks Zeiten […] vom christlichen Glauben abfielen: Der Klerus verkündete ihnen vom Pferd herab […]. Dominik hingegen reiste erst gar nicht mit dem Pferd, er ging zu Fuß – und predigte auf Augenhöhe. Die Kirche steckte zu Dominiks Zeit in der gleichen Krise wie heute. Es gebrach ihr an Glaubwürdigkeit.“ (Rudolf Neumaier).
Christian Bauer
Bildquelle: Jürgen Kaufmann/Nürnberg