Was geschieht mit einer Ritterrüstung, wenn ihr Luftballons in die Hände gedrückt werden? Was mit einer Reliquienfigur des heiligen Christophorus, wenn sie ein Modellauto als Reliquie bekommt? Solche Fragen stellt der Videokünstler Christoph Brech in seiner aktuellen Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum und in der Galerie der deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in München. Von Erich Garhammer
Reinhard Spieler, der jetzige Direktor des Sprengel Museums in Hannover, war 2009 Leiter des Wilhelm-Hack-Museums in Ludwigshafen geworden. Er fand ein leeres Haus vor: das Gebäude wurde gerade saniert. Spieler ergriff den Kairos dieser Situation: Er konzipierte eine Ausstellung mit dem Titel „Alles“. Er holte alle 3.000 Objekte aus dem Depot in die neue Ausstellung, die 6.000 Grafiken platzierte er in Schrank-Schubläden. So wurde das Depot zum Museum. Er machte damit deutlich: Wenn das Museum alles zeigen würde, wozu es eigentlich verpflichtet ist, wäre es letztlich ein Depot.
„Hack-Ordnung“ im Museum
Er konzipierte also eine zweite Ausstellung mit dem Titel „simply the best“. 150 Schlüsselwerke wurden nun gezeigt, alles andere blieb im Depot. Damit veranschaulichte er die museale Auratisierung von Kunst durch die rabiate Verdrängung der Sammlung ins Depot. Die dadurch entstandenen leeren Flächen im Museum wurden anschließend durch wiederholten Szenenwechsel mit Stücken aus dem Depot gefüllt: Der Titel für diesen Szenenwechsel lautete „Hack-Ordnung“. Der Name des Museums, Hack-Museum, sollte deutlich machen, dass die scheinbar friedliche museale Hängung von einer latenten Hackordnung geprägt ist, die aber nie zum Thema gemacht wird.
Künstler wissen in der Zwischenzeit, dass auch ihre Kunst durch das Museum nicht automatisch und dauerhaft zur Geltung kommt. So antwortete Markus Lüpertz auf die Frage, warum er die Glasfenster in der Dominikanerkirche St. Andreas in Köln umsonst gemacht hatte: „Hier arbeite ich für die Ewigkeit. Hier kann mich kein verrückter Kurator abhängen.“
„Überleben. Installationen im Dialog mit dem Mittelalter“
Nun kann natürlich eine Einrichtung wie das Bayerische Nationalmuseum nicht jedes Jahr neu entscheiden, was in der Sammlung gezeigt wird und was nicht, was im Depot bleibt und was ins Museum geholt wird. Aber es kann immer wieder neu auf die eigene Sammlung aufmerksam machen. Dies ist durch die Ausstellung „Überleben. Installationen im Dialog mit dem Mittelalter“ von Christoph Brech mehr als gelungen. Die zum Teil tausend Jahre alten Exponate des Museums sehen sich mit dem gerade erst entstandenen Werk eines Video-Künstlers konfrontiert. Können dadurch Sehgewohnheiten aufgebrochen werden? Kann ein altes Kunstwerk durch diese Begegnung zu ganz neuem Leben wiedererweckt werden? Ja, eindeutig. Brech gelingt es, das Bayerische Nationalmuseum zu liften. Das soll an einigen Beispielen gezeigt werden.
Eine Regensburger Madonna um 1300 entstanden, mit einer Höhe von 195 cm und einer Breite von 61 cm entfaltet eine Monumentalität und strahlt eine Geschlossenheit aus. Und doch gehen die meisten Besucher daran einfach vorbei. Vermutlich war die Figur einmal an einem Chorpfeiler einer großen Kirche aufgestellt mit dem Verkündigungsengel auf der anderen Seite. Aber nun ist die Figur monologisch vereinsamt und man nimmt sie, wenn überhaupt, nur noch als eine dunkle Masse wahr. Brech nimmt den seit der Isolation der Figur und ihrer Aufstellung im Museum vor hundert Jahren unterbrochenen Dialog wieder auf. Unter der Madonna ordnet er mehrere Spiegel so an, dass der Besucher zuerst die Madonna in ihrer geschlossenen, fast verschlossenen Form wieder aufschließt, in Einzelteile zerlegt und ganz neu sehen lernt. Der zart nach unten gerichtete Blick wird genauso sichtbar wie die beiden Hände, die den Mantel öffnen und gerade nicht schließen, was der erste Eindruck ist. Das Verhältnis von Licht und Spiegel inszeniert zugleich das Wechselspiel von Sonne und Mond und erinnert an den Typus der apokalyptischen Frau, die auf der Mondsichel steht.
Einer der architektonisch eindrucksvollsten Räume des Nationalmuseums ist der Saal 3 mit dem Grundriss einer Rotunde. Seit 1995 sind hier mittelalterliche Glasfenster ausgestellt, die von elektrischem Licht beleuchtet werden. Die Gemälde bekommen dadurch einen fast stumpfen Charakter, weil sie auf Tageslicht ausgerichtet sind und nicht auf künstliches Licht. Brech gelingt in diesem Raum eine beeindruckende Intervention: Er projiziert auf die Säule in der Mitte das Video „Paradiso“ mit changierenden Farben. Die Farben laufen dabei von unten nach oben und sie kreieren geradezu ein neues Scheingewölbe. Eine immateriell fließende Farbigkeit prägt den Raum und gibt den Fenstern ihre Farbigkeit wieder zurück. Verschiedene Tonspuren der Marienmotetten von Giovanni Pierluigi da Palestrina und die Projektion des Videos von zwei verschiedenen Positionen aus tauchen den Raum in eine Farb- und Klangsynthese, so wie einst die farbigen gotischen Fenster die gregorianischen Choräle visuell steigerten. Beim Video handelt es sich um eine extrem verlangsamte Filmaufnahme eines Spielautomaten aus dem nordenglischen Seebad Blackpool. Das Inferno, die Spielhölle also, liefert das Lichtmaterial für das Paradies.
Zugleich mit der Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum bespielt Christoph Brech auch die Räume der Deutschen Gesellschaft für Christliche Kunst. Es handelt sich dabei um einen White Cube, der in seiner Offenheit ganz neue Möglichkeiten zulässt. André Malraux hat einmal formuliert: „Man kann sich die heutige Kunst ebenso wenig ohne das Museum vorstellen, wie die gotische ohne den Glauben.“ Brech nutzt die Räume der Galerie für ein solches Experiment: Die dekontextualisierten mittelalterlichen Werke werden plötzlich in ihren alten Kontext geholt, mit ganz neuen Mitteln und technischen Möglichkeiten. Eindrucksvoll gelungen ist dies mit dem Video „Upstream II“. Das Video wird auf die Rückwand des Raumes projiziert und ist in einem Spiegel am Boden ein zweites Mal zu sehen. Auf dieser Spiegelfläche befindet sich ein kleines Kalksteinboot aus dem 15. Jahrhundert, darin liegt der heilige Bischof Arigius.
Der Legende nach wurde der Leichnam des Bischofs gemäß seinem Wunsch in einer Barke auf der Loire ausgesetzt und trieb stromabwärts bis zur Stadt Decize, wo der Heilige in der Krypta der Kirche beigesetzt wurde. Das Video von Brech versetzt das Schiff des Bischofs in die ursprüngliche Situation. Der Künstler befestigte die laufende Kamera auf der Reling eines Schiffes auf der Fahrt von Quebec nach Montreal auf dem St. Lorenzstrom. Die Stimmung wird unterstützt durch die Unterlegung des Films mit einem Bachchoral in Moll, von Ferruccio Busoni für Klavier bearbeitet und vom Pianisten Martin Stadtfeld interpretiert. Der Betrachter findet sich geradezu synästhetisch in die Glaubensmacht des Mittelalters versetzt mit modernsten technischen Mitteln. Der Zeitsprung ist gelungen, der Glaube der Gotik als Voraussetzung für die damalige Kunst neu in Szene gesetzt.
Die gelungene Zusammenarbeit von Kurator Dr. Raphael Beuing (Bayerisches Nationalmuseum) und der geschäftsführenden Kuratorin Benita Meissner (Galerie der Deutschen Gesellschaft für Christliche Kunst) zeigt die Möglichkeiten dieses Raums: Hier können in Kooperation mit aktuellen Ausstellungen Fragen gestellt werden, die sonst eher ausgeblendet oder vom Tagesgeschäft nicht zugelassen werden. Dr. Matthias Weniger, der Wiss. Referent für Skulptur und Malerei vor 1550 hält fest: „Ich war vor allem sehr dankbar für die Möglichkeit, über die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Christoph Brech Besuchern einen neuen Zugang zu den Werken unserer eigenen Sammlung zu ermöglichen – gerade auch solchen, die sich sonst nicht für mittelalterliche oder christliche Kunst interessieren. Beeindruckt hat mich zugleich die große Sensibilität, mit der sich Christoph Brech mit unserer Sammlung auseinandersetzt, und unsere Gemälde und Skulpturen mit den oft aus sehr spontanen Beobachtungen heraus entstandenen Videos verknüpft, die er, teils Jahre zurück, außerhalb der Museumswände angefertigt hat.“ Die Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst könnte den Diskursraum für solche Fragen zur Verfügung stellen.
Gott hat eine Galerie
Wehmütig verlässt man die Ausstellung mit der Frage: Was hätte aus dem Kunstprojekt der Deutschen Bischofskonferenz werden können, wenn es sich mit solchen Fragen beschäftigt oder sie wenigstens nur gestellt hätte. Weniger wäre dabei mehr gewesen. Der Beweis liegt hier vor. In Abwandlung des dreibändigen Kataloges von Johannes Rauchenberger „Gott hat kein Museum“ könnte man formulieren „Gott hat eine Galerie“. Man darf darauf gespannt sein, ob diese Möglichkeit auch nach dem Umzug der Galerie in die Finkenstraße genutzt wird. Die jetzige Ausstellung zeigt eindrücklich, dass es möglich ist.
Erich Garhammer, Dr. theol., Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Würzburg; Schriftleiter der „Lebendigen Seelsorge“.
Zum Weiterlesen:
Überleben, Christoph Brech. Installationen im Dialog mit dem Mittelalter, München 2016.
Walter Grasskamp, Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion, München 2016.
„Die Darstellung der Welt in Pixeln ist nichts Neues“. Gespräch mit Christoph Brech, in: Erich Garhammer (Hg.), Heisse Fragen – coole Antworten. Überraschende Blicke auf Kirche und Welt, Würzburg 2016, 78-82.
Die Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum dauert noch bis 4. September 2016.
Beitragsbild: Christoph Brech, Ausstellung ÜBERLEBEN, Schwan,
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016