Eine Himmelfahrtshomiletik in Zeiten des Krieges. Von Alexander Deeg.
Jetzt ist er weg …
In manchen evangelischen Gemeinden gibt es eine etwas merkwürdige Himmelfahrtstradition: Nach der Lesung der Himmelfahrtsgeschichte wird die Osterkerze ausgeblasen. „Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“ (Lk 24,51). Jesus ist weg und die Kerze aus! Erst zehn Tage später, im Pfingstgottesdienst, wird sie wieder angezündet. Zehn Tage ‚Osterfinsternis‘!
Ich habe mich immer wieder über dieses Ritual empört. Jesus sei ja nicht einfach ‚weg‘, sondern bei uns alle Tage (Mt 28,20). Inzwischen aber frage ich mich, ob dieses kleine Ritual nicht mehr theologische Weisheit bewahrt, als meine jahrelange theologische Rechthaberei dies wahrhaben wollte?
Jesus sei ja nicht einfach ‚weg‘, sondern bei uns alle Tage…
Seit Wladimir Putins Befehl zum Angriff auf die Ukraine wird mir die (gefühlt) dauernde Behauptung der Präsenz Gottes sowie des Mitseins Jesu mit uns in unseren Ängsten und mit den Opfern in der Ukraine nicht zum Trost, sondern zur Anfechtung. So ging es mir schon gleich nach Beginn des Krieges, als eine Predigt wie folgt endete: „Gott ist da. Auch jetzt. Er ist mit seinem Geist der Kraft in uns. Damit wir uns mit Fantasie und Schaffenskraft für das Leben engagieren.“ Die Behauptung der Gegenwart Gottes verbunden mit dem Imperativ zum Engagement ging mir zu schnell. Und mir scheint, dass ich nicht ganz allein mit meinem Überdruss an dieser konventionellen Redundanz evangelischer Kanzelrede bin. Eine Studentin schrieb: „Wenn die Pointe einer Predigt ist, dass Gott immer bei mir ist, dann will und brauche ich sie nicht.“
Behauptung der Gegenwart Gottes verbunden mit dem Imperativ zum Engagement
Manche Predigten (übrigens ganz bestimmt auch meine eigenen!) funktionieren nach einer Art Taschenspielertrick: Ich schildere die Not in der Ukraine und die Grausamkeit des Krieges; und dann rette ich mich mit der Behauptung: Aber in alledem ist Gott dabei … Theologisch ist das nicht einmal falsch (wie sollte der Herr über Himmel und Erde nicht auch ‚dabei sein‘ in den Gräueln des Krieges). Aber es ist zu routiniert, um richtig zu sein. Ich frage: Drückt die Behauptung der göttlichen Nähe nicht eher meine theologische und existentielle Hilflosigkeit als Prediger aus und spiegelt (einmal wieder) den verzweifelten Versuch, unbedingt trösten zu wollen und dabei doch nur die „Lügen der Tröster“ (Henning Luther) im Angebot zu haben?
Drückt die Behauptung der göttlichen Nähe nicht eher meine theologische und existentielle Hilflosigkeit aus?
Himmelfahrt – die große Verlegenheit
Der Himmelfahrtstag ist neuzeitlich eine große Verlegenheit. Klassische Darstellungen der Szene, bei denen die Füße des nach oben entschwindenden Jesus zu sehen sind, bringen aufgeklärte Menschen zum Schmunzeln. Der katholische Schriftsteller Arnold Stadler erzählt von einem Himmelfahrtstag, den Salvatore, der reichlich unglückliche, hochverschuldete Katholik mit abgebrochenem Theologiestudium, in Norddeutschland verbringt.[1] Was ihm geblieben war von seinem Glauben, war die „Sehnsucht“ (22), die „Himmelsrichtung“ (46) hatte, aber für die es „in den sogenannten Kirchen keinen Platz“ mehr gab (22). Die Theologen nämlich hätten „aus allem ein Märchen gemacht“ und versuchten nun, „die ganze peinliche Geschichte dieser Himmelfahrt“ irgendwie zu entschuldigen (62f).
Die Peinlichkeit des Tages führt zu Fluchtreaktionen.
Wahrscheinlich hat Salvatore recht. Die Peinlichkeit des Tages führt zu apologetischen Erklärungen, zu ethischen Ausweichbewegungen (weil Jesus im Himmel ist, hat er keine anderen Hände mehr als die unseren), zu schlichten Behauptungen seiner Gegenwart oder zu anderen Fluchtreaktionen: Gottesdienste im Freien, auf Bergen oder am Meer laden zu Schöpfungsjubel ein, anstatt zu angestrengten Reflexionen über die Himmelfahrt. Vielleicht könnte aber ausgerechnet die Himmelfahrt Routinen unserer geistlichen Rede aufbrechen und eine Himmelfahrtshomiletik Anregungen geben für ein Reden von Gott in Zeiten des Krieges.
Eine Himmelfahrtshomiletik in drei Andeutungen
In einem Interview verweist die Schriftstellerin Nora Bossong – etwas verkürzt – auf einen Satz von Papst Franziskus: „Es gibt Gott nicht im Krieg …“[2] Der Satz entzieht Kyrill I. und allen anderen „Gott mit uns“-Predigern jede theologische Legitimität; er fordert aber auch mich selbst und alle anderen Prediger:innen des Mitseins Gottes bei den Opfern des Krieges heraus. Eine Himmelfahrtshomiletik würde ernst machen mit der Verheißung des Auferstandenen und mit den Erfahrungen hier auf Erden; sie würde nach der Macht fragen im Himmel und auf Erden.
„Ob’s denn wahr ist – die Rede von der Liebe und Güte eines Gottes, der mehr wäre als eines jener freundlichen Götzlein…“
Vor ziemlich genau 100 Jahren, am 25. Juli 1922, hielt Karl Barth seinen Vortrag „Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“ und meinte, die Menschen, von denen einige (überraschenderweise) immer noch in Gottesdienste kämen, würden – ob explizit oder implizit – doch eine große Frage stellen, die sie umtreibe: „Ob’s denn wahr ist?“[3] Wahr – „die Ahnung […] von einem Himmel über der Erde: über der Erde ja, aber über der Erde? Wahr die Rede von der Liebe und Güte eines Gottes, der mehr wäre als eines jener freundlichen Götzlein, deren Herkunft so leicht zu durchschauen ist, deren Herrschaft so wenig lang währt?“[4] Das ist die Himmelfahrtsfrage! Ausgehend von ihr könnte ein ‚Therapieprogramm‘ mit drei Sprachübungen entwickelt werden: (1) die Leidenschaft von Bitte, Seufzen und Klagen, (2) die trotzig-kühne Inszenierung der Spannung zwischen Wirklichkeiten und Wahrheit und (3) der Mut zu Bildern, die die Logiken unterbrechen.
In keinem der vier Evangelien ist der Auferstandene einfach so ‚da‘.
(1) Bitten, Seufzen, Klagen: Die Dialektik von Präsenz und Absenz prägt das biblische Reden von Gott: Er:sie erscheint – und entzieht sich der Wahrnehmung und erst recht dem Verstehen. Auch die Geschichten vom Auferstandenen führen in diese Spannung: Er ist da – beim Brotbrechen in Emmaus, und entzieht sich im selben ‚Augenblick‘; im Garten ist er als der Gärtner da und gebietet „Noli me tangere!“, dem Thomas erscheint er und bis zum Ende der Geschichte wissen wir nicht, ob Thomas nun die Hände Jesu berührt und die Seite ertastet oder nicht. In keinem der vier Evangelien ist der Auferstandene einfach so ‚da‘.
Besonders der Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, Exaudi (mancherorts der Sonntag der gelöschten Osterkerze!), eröffnet Sprachräume der leidenschaftlichen Bitte um Gottes Antlitz und seiner:ihrer Wahrnehmbarkeit: „Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, / verstoße nicht im Zorn deinen Knecht!“ (Ps 27,9). Zorn und Gottesentzug hängen im Wochenpsalm zusammen. Anders im Evangelium des Sonntags, in dem Jesus zu seinen Jüngern sagt: „Es ist gut für euch, dass ich weggehe“ (Joh 16,7), weil nur so der Geist käme, von dem es dann in der Epistel heißt, wir wüssten nicht, was wir beten sollen, aber „der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm 8,26).
Von einem emotional bewegten Gott zu reden, anstatt einfach nur ein vermeintlich irgendwie feststehendes ‚Evangelium‘ des Trostes zu kommunizieren, führt in Sprachformen der Bitte, Frage und Klage, des Schweigens und Seufzens. Sie bieten die Chance, beides festzuhalten: das Bekenntnis zu Gottes Macht und seiner:ihrer Herrschaft einerseits, die Weltwirklichkeiten, in denen von dieser Macht nichts wahrzunehmen ist, andererseits. Sie halten die „Anfechtung“ aus, die Ernst Lange einst als homiletische Grundsituation bestimmte.
Sprachformen der Bitte, Frage und Klage, des Schweigens und Seufzens
(2) Trotzige Kühnheit: Himmelfahrt – das ist klassisch dogmatisch der Tag des Herrschaftsantritts Jesu zur Rechten des Vaters. Diese Herrschaft ist die ‚Wahrheit‘, die die ‚Wirklichkeiten‘ dieser Welt herausfordert. Putin ist längst entmachtet – so katastrophal sich seine Macht derzeit auch auswirkt. Wenn schon Behauptung in der Predigt, dann vielleicht einmal nicht die weichgespülte Variante von Jesus, der immer da ist, sondern die überzogen-kühne Behauptung der alleinigen Macht (All-Macht) und Herrschaft Gottes jenseits aller Realität, die sich im trotzigen Spott ausdrückt und in der Entlarvung und Bloßstellung aller ‚Großen‘.
die überzogen-kühne Behauptung der alleinigen Macht Gottes im trotzigen Spott
In Philipp Friedrich Hillers Lied „Jesus Christus herrscht als König“ (EG 123) wird sie hörbar. Hiller besingt die Spannung zwischen „irdischem Getümmel“ (V. 2) und der Herrschaft Christi. Leider steht die folgende Strophe heute nicht mehr im Gesangbuch:
„Trachten irdische Monarchen
dieses Herdlein anzuschnarchen,
o mein Hirte lacht dazu;
er lässt diese kleinen Großen
sich die Köpfe blutig stoßen
und den Schafen gibt er Ruh.“
Die Machthaber dieser Welt als die „kleinen Großen“ zu bezeichnen, ist kühn, aber eine Dimension, die zur Himmelfahrt gehört. So lässt sich das paradoxe Vertrauen auf den großen Hirten besingen. Und so ließen sich in Predigten neue prophetische Bilder malen von einer Welt, in der Putin seine Waffen zu Pflugscharen umschmiedet – und Jens Stoltenberg am Zion trifft, um gemeinsam von dort Weisung zu hören.[5]
(3) Bildstörungen: Von woher kommt mir Hilfe? Die Himmelfahrt ist eine einzige große Zeigegeste: von dort! Wenn ich ehrlich bin: Die Bekenntnisse zu Gottes Macht und Jesu Herrschaft trotz allem kommen mir nicht leicht über die Lippen. Schon eher suche ich nach Möglichkeiten einer subversiven Sprache, die die Mächte und Gewalten dieser Welt durcheinander bringt. Kurt Marti meinte: „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter (ich sage mit Bedacht: Dichter!), damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhanden gekommen ist.“[6]
Ich denke an Dichter wie Reiner Kunze, der 1968 in der DDR ein Gedicht mit dem Titel „Jugend in den Pfarrgarten“ schrieb:[7]
„Christus fährt nicht gen himmel
im rauch der rostbratwürste die
der pfarrer brät (der rauch aber zeigt
den weg)“
„der rauch aber zeigt den weg“
Das ist die Zeigebewegung, die den Pfarrgarten inmitten des vermeintlich real existierenden Sozialismus zu einem Freiraum macht: „gen himmel“. Kann es gelingen, schon jetzt und angesichts der Bilder aus Mariupol „gen himmel“ zu zeigen?
Ich hätte es vor einigen Monaten nicht für möglich gehalten, dass ich das einmal schreiben würde: Aber vielleicht sollten wir die Osterkerzen wirklich auspusten am Himmelfahrtstag 2022 und lange schweigen, bevor wir uns aufmachen zu einer Sprache, „die wir noch nicht gehört haben“ (vgl. Ps 81,6).
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Dr. Alexander Deeg ist seit 2011 Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig mit den Schwerpunkten Homiletik und Liturgik.
Bild: Vika Strawberrika / unsplash.com
[1] Vgl. Arnold Stadler, Salvatore, Frankfurt/M. 2008 [die in Klammer gesetzten Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf dieses Buch].
[2] Nora Bossong im Magazin der Süddeutschen Zeitung (Nr. 18, 6.5.2022, 30–37, 36).
[3] Karl Barth, Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (1922), in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. v. Holger Finze, Karl Barth-Gesamtausgabe 19/III, Zürich 1990, 65–97, 76 u.ö.
[4] AaO., 76.
[5] Besonders Charles Campbell und Johann Cilliers haben diese töricht-närrische Dimension der Predigt betont; dies., Was die Welt zum Narren hält. Predigt als Torheit, Leipzig 2015.
[6] Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen, Darmstadt/Neuwied 31986, 16.
[7] Reiner Kunze, gespräch mit der amsel – frühe gedichte, sensible wege, zimmerlautstärke, Frankfurt/M. 1984, 152.