Das Verhältnis deutschsprachiger Theologie zu queeren Diskursen ist überwiegend distanziert. Das sollte sich ändern, meint Andreas Krebs. Denn letztlich sei jedes Gott-Denken durch und durch queer. „Theologie ist eine queere Angelegenheit. Sie ist immer eine queere Angelegenheit gewesen. Theologie ist wirklich eine sehr seltsame Angelegenheit.“ (Gerard Loughlin)
Es gibt kirchliche Kreise, in denen Begriffe wie „queer“ und „gender“ starke Emotionen auslösen. Die theologische Zunft im deutschsprachigen Raum gibt sich vor diesem Hintergrund professionell distanziert – gerade auch dort, wo sie queer– und gender-Theorien mit Offenheit und Neugier begegnet. Sie zeigt sich diskussionsbereit, lässt sich auf „Lernprozesse“ ein[1] – und vergisst doch nicht, einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten. Auch gründliche Rezeptionen gender-theoretischer Ansätze gehen oft davon aus, dass die Verflüssigung von Geschlechts- und Rollenzuschreibungen zumindest in unserer Kultur eine moderne und säkulare Entwicklung sei, die mit interdisziplinärem Bewusstsein, hermeneutisch reflektierter Schriftlektüre und theologischer Differenzierung eingeholt werden müsse.[2] Aber was, wenn in Wirklichkeit die Theologie selbst eine zutiefst queere Angelegenheit wäre – und gerade auch das Spiel mit instabilen gender-Kategorien der christlichen Tradition seit jeher eingeschrieben?
Theologie selbst: eine zutiefst queere Angelegenheit…
Das jedenfalls ist die Grundthese der aus dem angelsächsischen Sprachraum kommenden Queer Theology.[3] Was bedeutet queer? Das englische Wort hängt sprachgeschichtlich mit dem deutschen „quer“ zusammen und heißt zunächst „schräg“ oder „seltsam“, etwas, das nicht zur Umgebung passen will. Eine Theologie, die schlechthin alles – Gott, Welt und Mensch – auf einen galiläischen Wanderprediger des ersten Jahrhunderts bezieht, kann in diesem Sinn mit Fug und Recht als queer bezeichnet werden – heute im säkularen Umfeld mehr denn je. Queer ist allerdings auch ein Schimpfwort – „bizarr“, „krank“, „abnorm“ –, das Menschen brandmarkt und ausgrenzt, die nicht der dichotomen, heterosexuellen Geschlechtskonstruktion von „Mann“ und „Frau“ entsprechen: lesbische Frauen, schwule Männer, Bisexuelle, Transidente oder Intersexuelle. Wer die Begriffe „Theologie“ und „queer“ verbindet, erregt deshalb Anstoß – bei manchen, weil Theologie aufs Verstörendste mit „Schmuddelkram“ zusammenkommt; bei anderen, weil Theologie institutionell mit eben jenen Kirchen verbunden ist, die bis heute an der Missachtung und Misshandlung queerer Menschen Mitschuld tragen. Tatsächlich aber – so behauptet die Queer Theology – steht seit jeher das Queere „im christlichen Denken nicht am Rand, sondern merkwürdig im Mittelpunkt“.[4] Der Furor, mit dem es von Theologie verdrängt und geächtet wurde – und noch wird –, nährt sich demnach gerade aus dem uneingestandenen Bewusstsein seiner Präsenz in christlichen Bildern und Narrativen. Hier kommt eine dritte Bedeutung von queer ins Spiel: Es ist ein Schimpfwort, das seinen Urheber*innen aus dem Mund genommen und zur stolzen Selbstbezeichnung wurde. Was also wäre, wenn Theologie diese Wende mitvollzöge und den (Selbst-)Hass gegen das Queere hinter sich ließe? Vielleicht würde sich zeigen, was Gerard Loughlin vermutet: Man muss die Tradition gar nicht beiseite schieben; es ist gerade diese selbst, die sich als durch und durch queer erweist.[5] Es geht um nicht weniger als ein coming out der Theologie!
Es geht um nicht weniger als ein coming out der Theologie!
Steht ein solches Programm aber nicht für neue Ausgrenzungen? Ist Queer Theology nicht Teil einer Bewegung, die das „Normale“ untergraben und die „Mehrheit“ zur Minderheit erklären will? Es stimmt, dass queeres Denken sich gegen die Konstruktion von Normalitäten und Majoritäten wendet; aber es will damit jegliche Form von Ausgrenzung konsequent unterlaufen. Eine „Hausfrau“ (die auch ein Mann oder … sein kann), die ihren Beruf aufgibt, um für Kinder zu sorgen, verhält sich in einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft ebenso queer wie eine Person, die sich angesichts allgegenwärtiger Verherrlichung erotischer Glücksversprechen für den Zölibat entscheidet. Queer steht für eine radikale Inklusivität, die gerade keine gemeinsame Identität errichtet; sie ist auf nichts gestellt als die riskante Anerkennung bunter, spannungsreicher, nie ganz auf einen Nenner zu bringender Diversitäten. Darum legt queeres Denken so viel Wert auf Ambivalenzen und offene, bewegliche Begriffe: Es lässt klassische Vorstellungen einer Schöpfungsordnung ebenso hinter sich wie identitätspolitische Auffassungen von Frauen-, Lesben- und Schwulenemanzipation, die tatsächlich neue Nicht-Identitäten und damit Ausgrenzungen erzeugen. Stattdessen betont queere Theorie und Praxis das Veränderliche, Fließende, Unvorhersehbare, Konkret-Vorgegebene, aber auch potenziell Befreiende im Umgang mit gender, jenem leiblich-sozialen Bedeutungskomplex, der unser „Geschlecht“ ausmacht.
Eine Hausfrau in der Arbeitsgesellschaft? Queer!
Ein Zölibatärer in sexuellen aufgeladenen Zeiten? Queer!
Diese emanzipatorische Sicht mag den Texten der Bibel und der christlichen Tradition zunächst nicht unterstellt werden. Dennoch zeigt sich: Sie stehen zu dichotomen Geschlechterkonstruktionen immer wieder „quer“. Das beginnt schon im ersten Schöpfungsbericht. Hätte ein Paar aus Gott und Göttin Mann und Frau je nach seinem und nach ihrem Bild erschaffen, besäße der Mann sein Urbild und die Frau das ihre; die Mann-Frau-Dichotomie wäre himmlisch garantiert. Bei einem Schöpfergott hingegen gelingt das nur mit Mühe. Gott erschuf den Menschen, heißt es in Gen 1,27, in seinem Bild; „männlich und weiblich“ erschuf er sie (die Menschen). Gott umfasst also Männliches wie Weibliches, und zugleich ist Gott mit „männlich“ oder „weiblich“ nicht zu fassen. Gott ist queer. Und dann soll ein Mensch, sein*ihr Bild, nur „Mann“ oder „Frau“ sein dürfen? Könnte es sein, dass „männlich und weiblich“ auf einen Möglichkeitsraum verweist, der unzählige Kombinationen und Übergänge offen lässt?
Gott ist queer.
Was Gott selbst betrifft, ist „er“ jedenfalls nicht durchgehend so patriarchal, wie viele meinen. Es gibt gar nicht wenige biblische Texte, in denen „Gott aus der Männerrolle fällt“.[6] Etwa Jesaja 46,3: „Hört mich, Haus Jakob, und aller Rest des Hauses Israel, die ihr euch von meinem Mutterleib tragen lasst, die ihr euch von meinem Mutterschoß (rächäm) bringen lasst“. Überhaupt: Wenn von Gottes „Erbarmen“ die Rede ist, steht im Hebräischen rachamim, das wörtlich mit „Mutterschößigkeit“ zu übersetzen wäre.[7] Eindeutig männlich scheint hingegen Jesu Gottesanrede als „Vater“. Wenn er aber von Gottes Handeln und Gottes Reich erzählt, tut er das oft mit parallel gebauten Gleichnissen, die auf männliche und weibliche Lebenswelten verweisen: etwa die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme (Lk 15,1–10). Ohnehin ist Jesu Lebenswandel in den Augen seiner Zeitgenoss*innen zweifellos queer: Er ist offenbar unverheiratet, wendet sich von Mutter und Geschwistern ab, reißt verheiratete Männer wie Simon Petrus aus dem Familienverband und seiner Verantwortung heraus, bezeichnet hingegen die zusammengewürfelte Gruppe, die mit ihm umherzieht, als seine „Geschwister“ und unterhält dabei zu Männern wie zu Frauen intensive emotionale Beziehungen (so z.B. Joh 11,2.5.35).
In biblischen Texten fällt Gott aus der Männerrolle.
Solche Grenzüberschreitungen prägen auch die Gemeinschaft, die in der Gegenwart des Auferweckten zusammenkommt. Diese Gegenwart ist auf irritierende Weise leibhaft-konkret und unfassbar; Maria aus Magdala darf den Auferweckten nicht festhalten (Joh 20,17), Thomas ihm hingegen in die Seite greifen (Joh 20,27); Jesus geht durch verschlossene Türen (Joh 20,19); und nach der Emmauserzählung entzieht er sich in dem Moment, da er im Brotbrechen kenntlich wird (Luk 24,31). Es ist diese verwandelte, abwesend-anwesende, eschatologisch aufgebrochene Leiblichkeit des Auferweckten, die Christenmenschen in der Taufe „anziehen“! [8] Deshalb queeren sie auch die wichtigsten Dualitäten der damaligen Welt: jüdisch-heidnisch, frei-versklavt, männlich-weiblich (Gal 3,28). Sie werden ihrerseits zum „Leib“ des Auferweckten; ob „Mann“ oder „Frau“, sie alle repräsentieren Christus. Ein anderes Bild aus dem Zweiten Korintherbrief vergleicht das Verhältnis zwischen Christus und Getauften mit einer Ehe: Christus ist der Bräutigam – und so wird auch ein Getaufter, den die Welt als „Mann“ sieht, zu Christi Braut (2Kor 11,2).
Ein Getaufter – Christi Braut!
Schon an neutestamentlichen Texten lässt sich allerdings ablesen, wie das alles manchen zu weit geht. Der deuteropaulinische Epheserbrief greift die Bräutigam-Braut-Metapher auf, um gegen ihre queere Logik – die offenbar zu „falschen“ Schlüssen führt – ein Festhalten am Geschlechterdual und eine Unterordnung der Frau unter den Mann zu fordern (Eph 5,22–33). Übrigens entbehrt es auch nicht ganz der Ironie, dass ein klassisches theologisches Argumentationsmuster die Analogie zwischen dem eigentlich queeren Christus-Braut-Bild und der Ehe nutzt, um deren Sakramentalität zu begründen (unter Verweis auf Eph 5,32), – und die Ehe dann auf Mann und Frau beschränkt. Die verbreitete Weigerung, lesbischen, schwulen und transsexuellen Menschen die Ehe zu ermöglichen, zeigt insofern eine „mangelnde Verpflichtung auf die eschatologische und christologische Dimension des Sakraments“.[9]
Queer Theology als mainstream?!
Am Einklagen dieser eschatologischen Perspektive wird deutlich, was Queer Theology mit heutigen Emanzipationsbestrebungen zu tun hat – und warum sie zugleich mehr ist als eine „kontextuelle“ Theologie, die „Nichtbetroffene“ nichts angeht. Ihr Anliegen führt letztlich in die Mitte eines jeden theologischen Bemühens: einen Gott zu denken, der*die sich – konkret im Auferweckten – als wahrhaft queer erweist, geheimnisvoll, unergründbar, immer anders gedacht. Auch wir sind, in seinem*ihrem Bild, anders, unergründbar, queer – und werden es noch mehr. Denn „was wir einst sein werden, ist noch nicht offenbar“ (1Joh 3,3).
Prof. Dr. Andreas Krebs ist Professor für Alt-Katholische und Ökumenische Theologie am Alt-Katholischen Seminar der Universität Bonn.
[1] Thomas Laubach (Hg.): Gender – Theorie oder Ideologie? Freiburg i.B. 2017, Herder-Verlag; Margit Eckholt (Hg.): Gender studieren. Lernprozess für Theologie und Kirche, Ostfildern 2017, Grünewald Verlag.
[2] Isolde Karle: „Da ist nicht mehr Mann noch Frau…“. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 2008, Gütersloher Verlagshaus; dies.: Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014, Gütersloher Verlagshaus.
[3] Zur Einführung: Gerard Loughlin (Hg.): Queer Theology. Rethinking the Western Body, Oxford 2007, Blackwell; Susannah Cornwall: Controversies in Queer Theology, London 2011, SCM Press; Patrick S. Cheng: Radical Love. An Introduction to Queer Theology, New York 2011, Seabury Books; Miriam Leidinger: Queer-Theologie. Eine Annäherung, in: Margit Eckholt, Saskia Wendel (Hg.): Aggiornamento heute. Diversität als Horizont einer Theologie der Welt, Ostfildern 2012, Grünewald Verlag, 246–267; queer-theologische Ansätze haben auch Eingang gefunden in den Band von Saskia Wendel, Aurica Nutt (Hg.): Reading the Body of Christ. Eine geschlechtertheologische Relecture, unter Mitarbeit von Miriam Leidinger, Paderborn 2016, Schöningh.
[4] Gerard Loughlin: Introduction: The End of Sex, in: Ders. (Hg.), Queer Theology, 1–34: 11.
[5] Gerard Loughlin, a.a.O.
[6] Magdalene L. Frettlöh: Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 2009, Neukirchener Verlag, 250.
[7] Silvia Schroer, Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 86–89.
[8] Vgl. Graham Ward: The Displaced Body of Jesus Christ, in: John Milbank, Catherine Pickstock (Hg.): Radical Orthodoxy. A New Theology, London 2006, Routledge, 163–181.
[9] Elizabeth Stuart: Sacramental Flesh, in: Gerard Loughlin (Hg.), Queer Theology, 65–85: 73.
Bild: „Ecce Homo“ von Elisabeth Ohlson Wallin, http://www.kalmarlansmuseum.se/besok-oss/utstallningar/tidigare-utstallningar/ecce-homo/